Elf Jahre nach dem Blitz
In Thomas von Steinaeckers „Die Verteidigung des Paradieses“ geht die Welt gleich mehrfach unter
Zugegeben: Thema wie Titel des jüngsten Romans von Thomas von Steinaecker wirken auf den ersten Blick nicht übermäßig originell. Ein weiteres Post-Doomsday-Szenario, zwar in Deutschland angesiedelt, aber ansonsten gespickt mit den üblichen Versatzstücken. Doch dieser Eindruck täuscht. Wer sich auf das Buch einlässt, wird in „Die Verteidigung des Paradieses“ einen ungewöhnlichen Versuch finden, Unterhaltung und Anspruch in Übereinstimmung zu bringen. Zugleich zeigt der Roman, welche Selbstverständlichkeit Science-Fiction-Themen im Bereich der allgemeinen Literatur inzwischen zukommt.
Ich-Erzähler des Romans ist der fünfzehnjährige Heinz, der sich mit einer „doppelten“ Katastrophe arrangieren muss. Bereits vor längerer Zeit haben in Europa drastische ökologische Veränderungen dazu geführt, dass Menschen nur in abgeschirmten Bereichen überleben können, die durch einen Strahlungsschild geschützt sind. Innerhalb dieser „Ressorts“, in denen sich sogar das Klima kontrollieren lässt, ist grundsätzlich ein sehr angenehmes Leben möglich, wobei zahlreiche Maschinen assistieren. Doch dann kommt es zu einem katastrophalen Sonnensturm, der der ohnehin fragilen Idylle ein jähes Ende bereitet. Schilde brechen zusammen, Ressorts werden unbewohnbar, und die Überlebenden sehen sich Umwelteinflüssen ausgesetzt, die ohne Schutzkleidung nicht zu überstehen sind.
Als sich dieser „Schwarze Samstag“ ereignete, war Heinz vier Jahre alt und wurde nur durch Zufall gerettet. Er kam bei einer Gruppe unter, deren – leider recht formelhaft entworfene – Mitglieder ein intaktes Ressort finden und dort weitgehend autark überleben können. Dies liegt zumindest nach Einschätzung des Erzählers an den Qualitäten von Cornelius, dem „weltbesten Führer“, der der Gruppe vorsteht. Doch selbst er vermag nicht zu verhindern, dass irgendwann auch dieser letzte Schutzschild zusammenbricht, Nutztiere verenden und erste Eindringlinge auftauchen. Notgedrungen macht sich die Gruppe auf den Weg in Richtung Frankreich, wo – vielleicht – Rettung möglich ist. Die Reise verläuft nicht ohne Zwischenfälle. An ihrem Ende stehen allerdings gleich mehrere Überraschungen, von denen die größte auf originelle Art das Post-Doomsday-Szenario mit dem Motiv des an seiner „Unnatürlichkeit“ leidenden künstlichen Lebewesens kombiniert.
Mit dieser Inhaltsbeschreibung ist jedoch noch nicht viel gewonnen. Steinaeckers Fabel folgt der antiken Sentenz „homo homini lupus“, nach der der Mensch des Menschen Wolf ist; eine zwar richtige, unterdessen aber auch recht abgegriffene Feststellung. Doch die gängige Weltuntergangserzählung ist nur die Folie, vor der Steinaecker noch eine ganz andere Geschichte erzählt: die eines Jungen, der über ungeahnte Fähigkeiten verfügt und diese im Verlauf der Handlung entdeckt. Dass es hierbei nicht um übernatürliche Kräfte, sondern um kulturelle Kenntnisse geht, macht das Buch bereits zu einer Ausnahmeerscheinung. Auch sonst profitiert der Roman davon, dass der Autor nicht vom Genre kommt. Thomas von Steinaecker (Jahrgang 1977) ist nicht nur Verfasser von Romanen, Erzählungen und Hörspielen, sondern auch Dokumentarfilmer und Literaturwissenschaftler; für seine Prosa wurde er mehrfach ausgezeichnet. Man merkt der „Verteidigung des Paradieses“ diese Vielseitigkeit vor allem in stilistischer Hinsicht an. Steinaecker, dessen vorheriger Roman den poetischen Titel „Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen“ trug (und der auf seine Weise ebenfalls von einer Art Weltuntergang handelt), verfügt über eine größere sprachliche Bandbreite als herkömmliche Unterhaltungsautoren. Dies macht sich in dem Buch immer wieder positiv bemerkbar, zumal Heinz im Verlauf der Handlung auch als Erzähler Fortschritte erzielt.
Leider ist nicht alles gelungen. Die zahlreichen Anglizismen – deren Herkunft völlig offen bleibt, da Heinz keiner entsprechenden Clique angehört – wirken auf Dauer ebenso penetrant wie jene unoriginelle Motive, von denen sich dann doch einige finden lassen. Ein paar Striche hätten dem Roman zudem gut getan. Trotzdem ist das Buch empfehlenswert. Obwohl der Begriff „Science-Fiction“ in der Verlagsdarstellung peinlich vermieden wird, handelt es sich bei „Die Verteidigung des Paradieses“ um ein weiteres Beispiel dafür, wie Genremotive in die „ernsthafte“ Literatur eindringen und selbiger neue Darstellungshorizonte eröffnen. Das allein ist mehr als achtbar.
Thomas von Steinaecker: Die Verteidigung des Paradieses • S. Fischer Verlag • 411 Seiten • € 24,95
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