Geruchsmarketing, essbare Kostüme und Impotenz
Eugen Ruge spottet in „Follower“ gekonnt über Markenkult und Selbstoptimierungswahn
Soll er einen Brain-Tuner nehmen oder doch lieber einen Appetitzügler? In einem fremden Land unter einem künstlichen Himmel und im 14. Stock eines Hotels aufzuwachen, ist nicht unbedingt das, was Nio Schulz sich zu seinem neununddreißigsten Geburtstag gewünscht hat. Es kommt noch schlimmer – er muss unbedingt einen Geschäftsabschluss erzielen, und das mit einem Produkt, dessen Nutzen höchst zweifelhaft ist. Zumal es ja durchaus sein könnte, dass er an dem Fiasko mit den Fotoidentischen Atemschutzmasken eine Mitschuld trägt. Doch kurz darauf verschwindet Nio, der dank seiner Bonephones eigentlich ununterbrochen erreichbar ist, ohne eine Spur zu hinterlassen. „Follower“, der neue Roman von Eugen Ruge, erzählt seine Geschichte – und zeigt ganz nebenbei, was erstklassige Science-Fiction ausmacht.
Das Buch spielt im Jahr 2055. Die Nationalstaaten sind längst von großen Konzernen in kommerzielle Sektoren eingeteilt worden. Es herrscht das Gebot der Selbstoptimierung – der durchtrainierte Nio hat sich Stimmungsaufheller ins Gehirn einpflanzen lassen, während sein von ihm wenig geschätzter Kollege Jeff praktisch nur noch aus Silikonimplantaten zu bestehen scheint. Den ganzen Tag ist Nio dank einer Internetbrille mit dem Netz verbunden und erhält fortlaufend Infobröckchen; sei es über subsaharische Wasserkriege oder den angebrannten Kuchen einer Bloggerin. Zusätzlich gängelt ihn die Brille mit Hinweisen zu seiner Körperlichkeit: „Weniger Eiweiße zuführen, mehr Ausdauersport!“ All dies nützt ihm jedoch im Hinblick auf die Geschäftsanbahnung wenig – Nio soll ein Fußband namens True Barefoot Running vermarkten, weiß aber nur zu gut, dass es zum Laufen überflüssig ist. Auch der Leitfaden seiner Vorgesetzten mit dem Titel „Die Bedeutung der Marke im postpostmateriellen Zeitalter“ erweist sich als wenig hilfreich.
Zudem hat Nio genug damit zu tun, pisi zu sein – political correct. Er spricht von „Menschen und Menschinnen“, benutzt den Männerfahrstuhl und weiß sehr wohl, dass jemand im Rollstuhl ein „Sonderbegabter“ ist. Das Lao-Tse-Zitat „Wer das Dao hat, kann gehen, wohin er/sie/trans will“, findet ebenso seine Zustimmung wie strikt geschlechterneutrale Kinderbekleidung. Sein soeben verstorbener Großvater scheint derartige Gewohnheiten ganz anders gesehen zu haben – gerüchteweise soll er spontan nach Florida aufgebrochen sein, nur weil jemand während des Weihnachtsessens telefoniert hat …
„Follower“ ist vieles – eine sarkastische Dystopie um Konsumkult und Genderwahn, aber auch ein stilistisch erstklassig erzähltes Stück Literatur. Obwohl die vierzehn Kapitel des Buches nur aus jeweils einem Satz bestehen, lesen sie sich ausgesprochen flott, wobei man aufpassen muss, nicht eine der zahlreich eingestreuten Boshaftigkeiten zu verpassen. Der Roman setzt kaum auf Pointen, sondern auf unterschwelligen Witz, der dafür umso bissiger daherkommt. Mit der Gestalt des Großvaters Alexander Umnitzer wird „Follower“ zudem mit „In Zeiten abnehmenden Lichts“ verknüpft, jener Familiensaga, die dem Schriftsteller, Regisseur und Übersetzer Eugen Ruge den Deutschen Buchpreis 2011 eingebracht hat. Ganz nebenbei ist Umnitzer zudem das Alter Ego des Verfassers.
Doch Ruge hat noch einen Clou eingebaut: Die Geschichte der Umnitzers wird in einem Extrakapitel umrissen. Nach zehn Generationen mühevollen Plagens, in deren Verlauf die Familie immer wieder drohte, durch Krieg und Gewaltherrschaft ausgelöscht zu werden, steht am Ende Nio Schulz, der sich über Geruchsmarketing, essbare Zimmermädchenkostüme und Impotenz Gedanken macht – ein Taugenichts also, wenn auch von besonderer Art.
„Follower“ ist aber auch ein glänzendes Beispiel dafür, wie weit ein SF-Plot gehen kann, ohne dass das Buch explizit als Genreroman ausgewiesen wird. Tatsächlich hat der Verlag den Begriff „Science-Fiction“ komplett ausgeblendet, was andeutet, wie es um das literarische Renommee der Gattung steht. Und hier handelt es sich keineswegs um einen Einzelfall; SF wird auf dem Buchmarkt bereits seit längerem (wieder) mit den im Kino höchst erfolgreichen Weltraumabenteuern gleichgesetzt. Dies führt zu der absurden Situation, dass die besten Beispiele ambitionierter Science-Fiction abseits des Genres herauskommen, das dann nicht von ihnen zu profitieren vermag und umso mehr als Tummelplatz dickleibiger Schmöker mit serienmäßiger Trilogie-Option erscheint. Derlei darf man durchaus bedauerlich finden. Die Leserschaft von Ruges herausragendem Buch braucht dies allerdings nicht zu kümmern.
Eugen Ruge: Follower. Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel • Rowohlt Verlag • 320 Seiten • € 22,95
Bild © Jasper James/Getty Images
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