Mehr Stadt, mehr Land
Wenn wir überleben wollen, müssen wir unsere Zivilisation neu denken
Über Städte zu reden, ist, als würde man über die Knoten in einem Netz reden. So wichtig sie auch sind, sie sind nur Teil einer größeren Geschichte – eben der Geschichte des Netzes und wofür es geknüpft wurde. Es bringt wenig, nur über die Knoten zu sprechen, wenn es eigentlich auf das Netz ankommt.
Städte sind Teil jenes Systems, das wir erfunden haben, um auf der Erde zu überleben. Menschen sammeln sich seit der Erfindung des Ackerbaus in Städten, also seit etwa 10.000 Jahren. Deshalb nennen wir es Zivilisation. Der Ackerbau hat Städte überhaupt erst ermöglicht; erst dadurch konnte man ausreichend Nahrung produzieren, um eine dauerhaft an einem Ort lebende Anzahl an Menschen regelmäßig zu versorgen. Städte funktionieren nicht ohne Landwirtschaft, so wenig wie sie ohne Wasserscheiden funktionieren, die sie mit Trinkwasser versorgen. Aber so bedeutend Städte auch für unsere Zivilisation sind, sie sind eben nur ein Teil eines Systems.
Aktuell leben weit über sieben Milliarden Menschen auf dem Planeten, eine gewaltige Zahl: mehr als doppelt so viele wie noch vor fünfzig Jahren. Ohne Absicht haben wir damit ein Experiment gestartet, bei dem enorm viel auf dem Spiel steht, denn wir haben keine Ahnung, ob die Biosphäre der Erde die Bedürfnisse so vieler Menschen langfristig und auf nachhaltiger Basis befriedigen oder den Abfall und das Gift, die sie produzieren, absorbieren kann. Das finden wir nur heraus, indem wir es versuchen.
Derzeit sieht es allerdings nicht danach aus, als würden wir das hinkriegen. Das Global Footprint Network schätzt, dass wir den jährlichen Vorrat an erneuerbaren Ressourcen bereits im August eines jeden Jahres aufgebraucht haben. Alles, was wir danach verbrauchen, ist nicht erneuerbar. Mit anderen Worten: Wir stehlen es den künftigen Generationen. Die ausgesäten Körner essen, so nannte man das früher. Gleichzeitig blasen wir so viel Kohlendioxid in die Atmosphäre, dass das Klima immer mehr außer Kontrolle gerät, was wiederum die Versorgung mit Nahrungsmitteln gefährdet.
Dieser Zustand kann nicht von Dauer sein – vielleicht geht es noch einige Jahre so weiter, aber bestimmt nicht Jahrzehnte. Die Zukunft ist auf dramatische Weise unvorhersehbar: Von einem Zeitalter friedlichen Wohlstands bis zu einem furchtbaren Massenaussterben ist alles möglich. Eine solche Bandbreite an Szenarien ist verstörend, ja sogar überwältigend. Eines allerdings lässt sich mit Sicherheit sagen: Was nicht passieren kann, wird auch nicht passieren. Da der gegenwärtige Zustand nicht nachhaltig ist, werden sich die Dinge auf jeden Fall verändern.
In diesem Wirrwarr an Möglichkeiten erscheinen mir Städte wie Leuchttürme der Hoffnung. Ihrer Definition nach bieten sie einer sehr großen Anzahl an Menschen auf einem relativ kleinen Stück Land ein Zuhause – ein großer Vorteil gegenüber den Vorstädten. In ökologischer Hinsicht sind Vorstädte eine Katastrophe, während Städte funktionieren könnten.
Der Drang der Menschen, in Städte zu ziehen - entweder weil sie es wollen, oder weil sie es müssen - birgt eine riesige Chance. Wenn wir die Urbanisierung des Planeten richtig steuern, könnten wir Menschen einen beträchtlichen Teil der Erdoberfläche räumen. Das wäre gut für die vielen bedrohten Arten, mit denen wir den Planeten teilen. Und das wiederum wäre gut für uns, denn wir sind mit dem Netz des Lebens auf der Erde untrennbar verwoben.
Ich beziehe mich hier auf einen Vorschlag des berühmten Biologen Edward O. Wilson. Sein Buch mit dem Titel „Half Earth“ (auf deutsch: „Die Hälfte der Erde“) ist auf genau die richtige Weise provokativ und wurde meiner Meinung nach deshalb so wenig diskutiert, weil die zentrale Idee so extrem scheint. Aber da die Menschen den ländlichen Raum derzeit ohnehin scharenweise verlassen und in die Städte strömen, kann uns das „Half Earth“-Konzept dabei helfen, diesem Prozess einen Rahmen zu geben – und das Massenaussterben, das wir initiiert haben und das uns ebenfalls massiv treffen wird, aufzuhalten.
„Half Earth“ ist ein ziemlich simples Konzept: Ist die Hälfte der Erdoberfläche mehr oder weniger menschenleer, können dort wilde Pflanzen und Tiere ohne Beeinträchtigung leben, so wie sie es in den Jahrmillionen getan haben, bevor wir Menschen gekommen sind. Dasselbe gilt übrigens auch für die Ozeane; etwa ein Drittel unserer Nahrung kommt aus dem Meer, also brauchen wir ökologisch intakte Ozeane.
In einer Epoche, in der mehr Menschen als je zuvor auf der Erde leben, erscheint diese Idee allerdings merkwürdig, ja geradezu absurd. Aber das ist sie nicht. Da so viele Menschen rund um die Welt in die Städte ziehen, sind etliche Regionen menschenleerer als noch vor hundert Jahren, und sie werden immer leerer. Viele Ortschaften haben kaum mehr als tausend Einwohner, und die Zahl sinkt immer weiter, da die Jungen wegziehen. Wenn man diese Orte neu definiert (und neu bewertet), sozusagen als „nützlich leer“, gäbe es dort noch einige Jobs für Aufseher und Wildhüter – während der Rest der Menschen in den Städten am großen Rad mitdreht.
Die Hälfte der Erde zu räumen, wäre also nichts, was man erzwingen müsste – der Prozess ist ohnehin schon im Gange. Es ginge darum, wie gut wir diese Abwanderung steuern und in welchem Zustand wir das Land zurücklassen. Ein sehr wichtiger Aspekt dabei wäre es, jede Art von Ideologie oder reiner Lehre zu vermeiden; wir Menschen sind ein bunter Haufen auf einem bunten Planeten, und wenn wir überleben wollen, müssen wir flexibel sein. Deshalb sollten wir diese neu entstehenden leeren Landschaften auch nicht Wildnis nennen. Eine Wildnis ist in bestimmten Zusammenhängen eine gute Idee, aber die neuen leeren Landschaften wären „arbeitende Landschaften“, vielleicht sogar gemeinschaftliche Landschaften, in denen Weide- und Landwirtschaft weiterhin ihren Platz haben. Die vielen Menschen in den Städten müssen ja etwas essen, und für die Nahrungsproduktion braucht man nun einmal Land. Auch wenn wir unsere Lebensmittel in riesigen Fässern anbauen, kommt die Grundlage dafür vom Land. Es wäre allerdings eine neue (oder alte) Art von Weide- und Landwirtschaft – mit weiten Korridoren, in denen sich unsere Mitgeschöpfe bewegen können, ohne dass sie von Zäunen gestoppt oder von Zügen getötet werden.
Diese Vision ist eine Möglichkeit, wie wir auf dem Planeten überleben können. Die zukünftigen Städte wären natürlich allesamt grüne Städte mit dekarbonisierten Transportsystemen und entsprechender Energieproduktion: weiße Dächer, Gärten auf jeder freien Fläche, vollständiges Recycling und alle anderen nachhaltigen Technologien, die wir derzeit entwickeln. Darunter auch jene Technologien, die wir „Recht“ und „Gerechtigkeit“ nennen – sozusagen die Software des Systems. Ja, Gerechtigkeit: Frauenrechte stabilisieren Familien und die Bevölkerungszahl. Eine gerechte Einkommensverteilung und progressive Steuergesetze verhindern, dass die ärmsten und die reichsten Menschen die Biosphäre auf eine Weise schädigen, wie es nur extreme Armut und extremer Reichtum tun. Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit und die Herrschaft des Rechts sind notwendige Überlebensstrategien.
Diese Städte der Zukunft sind mit einem Land verbunden, das weitaus größer ist als ihr ökologischer Fußabdruck. Die Landwirtschaft ist CO2-neutral; ja, es wird notwendig sein, negative Kohlendioxid-Ströme zu erzeugen, also den Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu holen und im Boden zu binden, entweder als Zwischenlager oder permanent; wir können es uns nicht mehr leisten, in dieser Sache wählerisch zu sein. Die „arbeitenden Landschaften“ existieren neben dem echten leeren Land (das eigentlich nur fast menschenleer ist, die meiste Zeit jedenfalls). Aber diese wirklich leeren Regionen arbeiten auf ihre Weise ebenfalls für uns – als lebenserhaltender und lebensspendender Rahmen einer nachhaltigen Zivilisation. Und all dieses Land ist von Ozeanen umgeben, die auf ähnliche Weise zum größten Teil unbewirtschaftet sind.
Das alles ist machbar. Das alles ist notwendig, wenn wir die harten Jahrhunderte überstehen wollen, auf die wir zugehen; wenn wir eine zivilisierte Permakultur schaffen wollen, ein gutes Zuhause, das wir an zukünftige Generationen weitergeben können. Dazu gibt es keine Alternative; es gibt keinen Planeten B. Wir haben nur diesen einen Planeten, und wir müssen wieder Teil der Energieflüsse seiner Biosphäre werden. Das ist jetzt unser Projekt. Das ist – für den Fall, dass Sie auf der Suche danach sein sollten – der Sinn des Lebens.
Kim Stanley Robinson ist einer der bekanntesten und renommiertesten Science-Fiction-Autoren der Gegenwart. Mit seiner Mars-Trilogie hat er einen weltweiten Bestseller gelandet. Außerdem hat sich Robinson als wichtige Stimme in der internationalen Umweltdebatte etabliert. Sein gerade erschienener Roman „New York 2140“, in dem er sich mit dem Klimawandel auseinandersetzt, ist im Shop erhältlich.
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