Helden und Mutanten
Die Anfänge von George R. R. Martins „Wild Cards“-Alternativwelt
Vor vielen, vielen Jahren gehörte George R. R. Martin (im Shop) einer Rollenspiel-Clique in Albuquerque an. Martin und seine Freunde waren ganz begeistert von einem Spiel namens „Superworld“, in dem die Figuren alle möglichen Superkräfte hatten und man sich hinsichtlich der Attribute, des Aussehens und der Abenteuer so richtig austoben konnte. Irgendwann nahm das Rollenspiel so viel Raum in den Gedanken und Leben von Martin und Co. ein, dass die Teilnehmer der Spielrunde reagieren mussten. Aus diesem Grund kanalisierten die passionierten Rollenspieler ihre Begeisterung und transferierten viele ihrer Figuren in eine eigene Alternativwelt und darin angesiedelte Prosa-Geschichten.
So entstand die erste „Wild Cards“-Anthologie, die im Original schließlich 1987 erschien und Texte von Martin, Melinda Snodgrass, John J. Miller, Victor Milán und anderen Mitgliedern der Albuquerque-Spielgruppe enthielt. Außerdem lud Herausgeber George R. R. Martin verschiedene externe Autoren ein, weshalb z. B. der große Roger Zelazny (im Shop) im ersten Band mit von der Partie war. Martin, der damals u. a. die Bücher „Fiebertraum“ und „Planetenwanderer“ (im Shop) am Start und ferner noch zehn Jahre bis zum ersten Roman seines Mühlstein-Epos „Game of Thrones“ hatte, hätte zu Beginn gerne Alan Moore als Autor dabei gehabt, der allerdings damit beschäftigt war, sein Comic-Meisterwerk „Watchmen“ zu vollenden. Neil Gaiman wiederum hätte liebend gerne eine Figur ins Wild Cards-Universum eingeführt, die in einer Traumwelt leben sollte, doch Martin lehnte den zu jener Zeit noch relativ unbekannten Gaiman ab, der wenig später bei DC mit „Sandman“ und seinem Traumkönig aus dem Pantheon der Ewigen die Comic-Welt durchrüttelte.
Die erste Anthologie war jedoch auch ohne Moore und Gaiman erfolgreich genug – bis heute sind fast 20 Bände der Shared-Wold-Serie erschienen. Dazu kommen Comics, Hörbücher und das geradezu logische Rollenspiel, einzig und allein aus dem Wild Cards-Film ist bis heute nie was geworden. Bei Penhaligon ist unter dem Titel „Wild Cards – Die erste Generation: Vier Asse“ dieser Tage eine Neuauflage der ersten Anthologie erschienen. Das Paperback und das E-Book mit über einem Dutzend Geschichten, die im Deutschen bei Heyne einst in zwei Bänden erhältlich waren, laden nun zum Entdecken oder Wiederentdecken der Anfänge des Wild Cards-Kosmos ein …
Alles begann – alles beginnt – mit einem Alien-Virus, das von einem unverbesserlichen Schurken freigesetzt wird und dafür verantwortlich ist, dass sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg viele Amerikaner verwandeln. Wer Glück hat, wird ein Ass und ein Held mit einer erstaunlichen Superkraft – wer Pech hat, wird ein Joker und bezahlt seine neuen Fähigkeiten durch zum Teil monströse Verwandlungen und Entstellungen. Das Phänomen der Wild Cards verändert die Leben der transformierten Superwesen, ihrer verängstigten Mitmenschen und letztlich den Verlauf der ganzen Welt, und damit ist eigentlich alles über den Sandkasten gesagt, in dem sich die Autoren des ersten Bandes austoben durften. Dabei brachten sie die Wild Cards vom Ende des Krieges in die Gegenwart der Franchise-Entstehungszeit und schufen mit ihren Erzählungen sowie fiktiven Sachtexten und Zeitzeugenberichten die Basis für die nachfolgenden Mosaikromane, in denen die einzelnen Storys noch stärker miteinander verwebt werden sollten.
Die Verbindungen zu den klassischen Pulp-Helden und Comic-Recken sind bereits in diesem ersten neu aufgelegten Band mit zwei bisher auf Deutsch ausgesparten Geschichten nicht zu übersehen. Kein Problem, immerhin ist die Metawesen-Thematik nie aus der Mode gekommen und in Comics und in TV-Serien heute präsenter denn je, was den Mainstream angeht (wer hätte gedacht, dass die Inhumans mal in einer exzellenten Fernsehserie um Marvels Spionageorganisation S.H.I.E.L.D. zu sehen sein würden?) – auf jeden Fall mainstreamiger als vor 30 Jahren, da eine Gruppe Fantastik-Autoren und Rollenspiel-Enthusiasten die Wild Cards auf den Weg brachte.
Es ist also allemal recht und billig, die frühen Abenteuer aus der Science-Fiction-Alternativwelt unter Schirmherrschaft von GRRM wieder in die Regale und erstmals auf die Reader zu bringen, selbst wenn nicht jede Geschichte taufrisch geblieben ist, manche Karten schon etwas abgegriffen wirken und die späteren Ausflüge ins Universum der Wild Cards oft gar nicht mehr überzeugen konnten.
George R. R. Martin (Hrsg.): Wild Cards – Die erste Generation Bd. 1: Vier Asse • Penhaligon, München 2016 • 765 Seiten • Paperback: 14,99 Euro
Kommentare