29. März 2018 4 Likes

Serious Literature

Warum Dmitry Rus‘ Roman „Play To Live – Gefangen im Perma-Effekt“ nicht nur für Gamer absolut lesenswert ist

Lesezeit: 5 min.

Um wirklich würdigen zu können, was dem russischen Literatur-Talent Dmitry Rus mit dem Auftakt seiner Lit-RPG-Reihe Play To Live (im Shop) gelungen ist, sollte man sich eine zunächst simple, aber durchaus weitreichende Frage stellen: Wie viele Romane, Filme oder Serien gibt es, die Gaming trotz dessen Popularität wirklich ernstnehmen? Also nicht nur als Beiwerk zur Motivation von Action oder einem damit verbundenen Clash zwischen Realität und Virtualität, sondern tatsächlich als Motiv mit intrinsischen Logiken und ganz eigenen Möglichkeiten.

Klar, viele Stories lassen gerne Realitätsebenen im virtuellen Raum verschwimmen und setzen dabei auf irgendeine Art moderner Technik, die dann zum Spiegelbild eines Unbehagens herangezogen wird. Man kann das auch Kulturkampf nennen. Am untersten Ende der Skala wabern billigste Gamer-Klischees in Form von Szenen, in denen vor allem Jugendliche gerne entrückt einen Ego-Shooter spielen, um so deren Empathielosigkeit in einer immer unsozialeren Gesellschaft anzudeuten.

In diesen und weiteren Fällen wird die Inszenierung von Gaming zur Repräsentation einer latenten Abwehrhaltung gegen eine Praktik, die viele in deren Vielfalt bis heute nicht wirklich verstehen oder verstehen wollen. Damit hat der Autor dieser Zeilen als lifelong Gamer auch kein Problem (mehr) und will diese Rezension auch nicht als larmoyante Anklage gegen digitalludische Ignoranz missverstanden wissen. Man muss sich nicht für Gaming interessieren – überhaupt nicht! Und natürlich gibt es kluge, in sich stimmige und eben nicht kulturell (rein) negativ behaftete Reflexionen innerhalb der Popkultur, die sich folglich auch nicht in das eben angerissene Spektrum einfügen. Aber es könnten definitiv mehr sein.

Und hier schließt sich der Kreis zu Dmitry Rus, denn ihm ist mit Play To Live ein Roman gelungen, der von der ersten bis zur letzten Seite sein Thema und dessen verschiedenartige Facetten in der Tat ernstnimmt – positiv wie negativ, sollte man hinzufügen. So stellt er auf über 400 Seiten wichtige gesellschaftspolitische Fragen und benutzt diese nicht als Feigenblatt für reißerische Fantasy-Action. Dabei geht er im Gegensatz zu anderen Autoren bei der Gewichtung einen eigenen Weg und lädt uns Leser fast den kompletten Roman über in eine virtuelle Spielwelt ein, ohne daraus (trotz des deutschen Zusatztitels) reflexhaft eine Flucht vor dem Abdriften in den Stumpfsinn zu gestalten.

Denn seine Hauptfigur Max erfährt gleich zu Beginn, dass sie unheilbar krank ist und nur noch wenige Monate zu leben hat. Mangels anderer Optionen beschließt er, sich mithilfe einer Kapsel, die den ganzen Körper umschließt und althergebrachte Controller oder VR-Brillen vergessen lässt, in die Welt des Fantasy-MMORPGs AlterWorld einzuklinken. Denn dort ist es bei allem Fun auch möglich, sich nach längerer Spielzeit in den sogenannten Perma-Modus zu begeben, in dem die Psyche des jeweiligen Spielers vollständig in einem Avatar aufgeht und so praktisch unsterblich wird. Eine Art Matrix für die interaktive Ewigkeit sozusagen.

Max lässt sein altes Leben schon nach wenigen Seiten hinter sich und arbeitet sich sukzessiv in die Regeln und Anforderungen seines neuen Lebens ein. Dazu gehören neben Quests und der Jagd nach Ausrüstung oder Geld auch neue Bekanntschaften zu anderen Spielern, die ihr jeweils eigenes Schicksal mit sich tragen. Schon bald entsteht so ein eigenes Sozialgefüge, bei dem verschiedene Interessen gegeneinander in Stellung gebracht werden und so die neue Welt trotz aller Fantasy immer mehr Züge der alten trägt. Als Max etwa versucht, das vom Spiel verhängte Rauchverbot mittels raffiniert hergestellter Zigaretten zu umgehen, wittern mehrere Fraktionen ein großes Geschäft und es droht ein regelrechter Handelskrieg. Aber auch privat greift das, was einem Perma-Spieler wie Max bald gar nicht mehr als solche erscheinen kann, nämlich die Realität, noch in sein Leben ein. Denn seine Freundin Taali möchte unbedingt ein Verbrechen an ihrer Schwester rächen, ehe sie selbst für immer in AlterWorld bleiben möchte und benötigt dazu Hilfe.

So entsteht ein Fluss an kleineren und größeren Abenteuern, Battles, Intrigen und Kuriositäten (man denke nur an digitale Begleiter oder Haustiere), der sich wie ein gutes Game ohne zu lange Pausen und Leerläufe konsumieren lässt. Denn auch das gehört zu einer literarisch guten Verarbeitung von Gaming: Lange Ladebildschirme oder fades Backtracking zu Händlern kann sich der Roman sparen, wohingegen er allerdings sehr genau über wichtige Komponenten wie die Bedeutung verschiedener Menüs für die in Play To Live entfaltete Charakterentwicklung sinnieren kann. Jede Aktion wird in ihrer Bedeutung für Max reflektiert. Welche Auswirkung hat das Annehmen einer vielleicht noch zu schwierigen Quest, die aber mit einer entsprechenden Belohnung lockt? Was bedeuten Allianzen und wie setzt man seine Ressourcen – auch mit Risiko – möglichst sinnvoll ein, wenn die eigene Existenz davon abhängt?

In der Motivierung solcher Aspekte liegt eine der größten Stärken des Romans, der aber auch ohne diese Metaebene dank seiner kurzweiligen Komposition und seiner zuweilen stark plotgetriebenen Erzählweise spannend ausfällt. Zwar weicht er nie von seinem Gerüst auch nur einen Millimeter ab und es macht schon deshalb Sinn, dass dem Text ein Glossar mit Erklärungen zu typischen Gamer-Begriffen wie Farmen, Raid oder Buffs beigefügt ist, doch Rus baut auch geschickt an einem Erzähl-Kosmos, den man sich nicht nur aufgrund des Fantasy-Settings vielleicht auch mal als kleines Game of Thrones vorstellen könnte.

Gerade in Form von Newsfeeds meldet sich auch die Realität immer wieder zu Wort und berichtet von Überlegungen einer staatlichen Kontrolle von AlterWorld ebenso wie von den damit verbundenen Abwägungen einer Gesellschaft, die zwar mit digitalisierten Gefangenen zwar ihre Gefängniskapazitäten erhöhen könnte, jedoch auch neue Formen des Verbrechens wachsen sieht. Und wenn Perma-Spieler wie Max plötzlich über die Möglichkeit von in AlterWorld geborenen Kindern und den Einfluss der natürlich allgegenwärtigen Admins nachdenken, wird überdeutlich, welche Möglichkeiten in diesem Lit-RPG noch schlummern.

Dabei ist es – wie immer bei Fragen nach dem Autor – letztlich völlig egal, ob Rus nun selbst jahrelang in MMORPGs abgetaucht ist oder nicht. Er hat verstanden, was man aus den Prinzipien einer virtuellen Spielwelt literarisch entwickeln kann, ohne sie einfach nur plakativ abzustempeln. Natürlich leidet Play To Live trotzdem am per se unbefriedigenden Gefühl, hier nur den Auftakt einer Serie zu erleben, die sich in ihrer Substanz hoffentlich noch weiter entwickelt und das eigene Potenzial nicht leichtfertig banalisiert im Sinne einer zu einseitigen Sicht auf Virtualität.

Aber bleiben wir positiv: Wer sich auf ein frisches Genre wie das hier vorliegende Lit-RPG einlassen und dabei angenehm unterhalten werden will, sollte Rus auch ohne Game-Affinität eine Chance geben. Ob daraus wirklich ein literarisch großes Ding wird, muss allerdings erst die Zukunft mit weiteren Bänden zeigen. Es wäre aber auch nicht das erste Mal, dass einer guten Beta eine Fortsetzung mit noch mehr Tiefgang sowie Reife im Umgang mit der eigenen (Spiel-)Mechanik folgen würde. Und das ist Rus nach diesem Start definitiv zuzutrauen.

Dmitry Rus: Play to Live – Gefangen im Perma-Effekt. Play to Live, Band 1 • Roman • Aus dem Amerikanischen von Christiansen & Plischke • Wilhelm Heyne Verlag, März 2018 • Paperback • 445 Seiten • € 12,99 • im Shop

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