Ultranetz, Mobril und Denker
Robert M. Sonntags „Die Scanner“ und „Die Gescannten“ ist eine Reise durch literarische Dystopien
Im Jahr 2035 heißt es Mzzzp nicht Klack. Klappernde Tastaturen braucht in Robert M. Sonntags 2013 zuerst erschienenen Roman „Die Scanner“ niemand mehr, außer Rob am Ende der knapp 200 Seiten umfassenden Dystopie. Die bekam im Februar einen Nachfolger spendiert: „Die Gescannten“. Doch alles der Reihe nach.
Robert M. Sonntag ist das Pseudonym des studierten Politologen und Journalisten Martin Schäuble. Als Sachbuchautor beschäftigt er sich mit den Entstehungsgeschichten und Auswüchsen von politisch und religiös motiviertem Fanatismus. In seinem Roman „Endland“ hat er sich 2017 mit der Frage auseinander gesetzt, wie Deutschland unter einer rechts-nationalen Regierung aussehen könnte. Genauso wie „Endland“ ist auch das Romanduo „Die Scanner“ und „Die Gescannten“ primär für Jugendliche geschrieben worden. Doch davon sollte sich kein Erwachsener abschrecken lassen.
Was sogleich auffällt ist jedoch die Prämisse. Die erinnert stark an Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ (im Shop). Rob und sein bester Freund Jojo arbeiten für „Ultranetz“, einen Konzern, der die IT-Welt dominiert. Er ist Google, Facebook, Amazon, Apple, Wikipedia, WhatsApp und YouTube in einem. „Ultranetz“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, das gesamte Wissen der Menschheit kostenlos zur Verfügung zu stellen. Daher suchen Rob und Jojo nach Büchern, die sie scannen und so in die Wissensdatenbank einpflegen können. Was danach mit den Werken passiert, interessiert die beiden jungen Männer nicht. Denn wer liest heutzutage schon noch bedrucktes Totholz, wenn man die Freunde und die Freunde der Freunde und deren Freunde jederzeit über die Datenbrille „Mobril“ an seinem Leben teilhaben lassen kann? Außerdem ist die virtuelle Realität einfach packender. Als Rob auf den Leser Arne Bergmann trifft, beginnt er an „Ultranetz“ zu zweifeln. Schon bald stellt sich ihm die Frage, wem er mehr glauben soll: Arne und seiner Widerstandsgruppe „Büchergilde“ oder „Ultranetz“, dem Konzern, der es doch so gut mit den Menschen meint.
Das Bradbury déjà-vu ist jedoch nur der Beginn von Schäubles literarischer Reise durch die Welt der Dystopien. In den von ihm erdachten Städten sind noch andere Schreckensszenarien präsent: die totale Überwachung wie in George Orwells „1984“, die Schwangerschaft nach eugenetischen Faktoren wie in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, die Abschottung der Bevölkerung von der als feindlich geltenden Außenwelt wie in Jewgeni Samjatins „Wir“ oder die Altersdiskriminierung, die entfernt an William F. Nolans und George Clayton Johnsons „Logan’s Run“ erinnert. Auch andere Autorinnen und Autoren wie Magaret Atwood, Philip K. Dick und Gary Shteyngart werden angesprochen. Und natürlich findet sich keiner ihrer Romane auf „Ultranetz“. Sonst wüssten die Menschen ja, was mit ihnen passiert. Daher sind in dieser von Krieg, Genetik und IT-geprägten Welt Widerstandsgruppen wie die „Büchergilde“ eine Ausnahmeerscheinung und bestehen zumeist aus den Älteren, die sich noch an eine Zeit vor „Ultranetz“ und mit Meinungsfreiheit erinnern können.
„Die Scanner“ ist auch ein Kind seiner Zeit. Wir erinnern uns: 2012 stellte Google seine Datenbrille Google Glass vor. Der Hype um die neue Technik und die Kritik an ihren Risiken rissen fortan nicht ab. Nur drei Jahre später wurde die Brille als Flop bezeichnet. Seitdem wird vor allem in Unternehmen die Enterprise Edition verwendet. Längst ist diese Art von Datenbrille durch eine neue ersetzt worden: die VR-Brille. Um Virtuelle Realitäten und ihre Gefahren geht es dann auch in „Die Gescannten“. Sechs Jahre nach „Die Scanner“ erschien im Februar die Fortsetzung, die dreizehn Jahre später spielt. Hauptfigur ist der fünfzehnjährige Jaro, der Stiefsohn von Rob, der mit seinen Eltern in einer Siedlung außerhalb der Stadt lebt. Für Jaro sind die Verheißungen von „Ultranetz“ unwiderstehlich. So schlecht, wie seine Eltern immer sagen, kann es in der Stadt doch gar nicht sein. Oder doch? Als Jaro auserwählt wird, etwas für die „Büchergilde“ zu besorgen, bekommt er die Chance auf einen Besuch in der nahe gelegenen Stadt. Dort sind Mobrils inzwischen kalter Kaffee. Die neue Datenkrake nennt sich der „Denker“ und wird direkt am Kopfport angebracht. „Ultranetz“ erlaubt seinen Nutzern, ihre eigene Realität zu erschaffen und Unliebsames herauszufiltern. Gleichzeitig bestimmt „Ultranetz“, wer was sieht und warum. Zudem bekommt der Konzern die Datenhoheit über die Gedanken seiner Nutzer. Und wer hat schon etwas zu verbergen? Für Jaro und die gleichaltrige Nana wird ihr Aufeinandertreffen und ihre Auseinandersetzung mit „Ultranetz“ zu einem Abenteuer auf Leben und Tod.
Während „Die Scanner“ eine klassische Dystopie ist, lässt „Die Gescannten“ genügend Raum für eine positive Entwicklung. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich kritisch mit Themen wie totaler Überwachung, Zensur, Manipulation, Machtmissbrauch, Virtuelle Realität, KI und Fake News beschäftigen. Dabei verzichtet Schäuble auf den gehobenen Zeigefinger. Rob und Jaro müssen sich stattdessen mit ihrer Welt auseinandersetzen und brauchen Zeit, um hinter die Fassaden von „Ultranetz“ zu blicken. Überzeugend sind nicht nur Schäubles Protagonisten, sondern auch der Weltenbau. Außerdem sensibilisiert er seine (jungen) Leser für den eigenen Umgang mit Medien – eine Tatsache, die beide Titel auch für den Schulunterricht interessant macht. Interessant ist auch der erzählerische Kniff, bei dem Rob sowohl Protagonist als auch Autor der beiden Romane ist. Gerade bei „Die Scanner“ sorgt die Metaebene für den besonderen Moment am Ende der Erzählung.
Martin Schäuble schafft es in „Die Scanner“ und „Die Gescannten“ eine Welt zu kreieren, in der alle dystopischen Horrorszenarien Realität geworden sind. Dennoch überzeugen beide Romane als eigenständige Dystopien. Egal wie oft in Debatten betont wird, wie sehr eine Entwicklung an „1984“ oder „Schöne neue Welt“ erinnert, oftmals bleiben diese Anmerkungen bloße Floskeln und haben etwas von ihrer argumentativen Schlagkraft verloren. In solchen Zeiten braucht es Literatur, die neue Akzente setzt und zeigt, dass die Vorstellungen der alten Damen und Herren aktueller denn je sind. Wenn diese neuen Romane dann auch noch so flüssig geschrieben sind und das Lesen wie im Flug vergeht so wie bei „Die Scanner“ und „Die Gescannten“, dann hat der Autor alles richtig gemacht.
Robert M. Sonntag: Die Scanner • Fischer KJB, Frankfurt, 2014 • 192 Seiten • 7,99 € • Empfohlen ab 12 Jahren
Robert M. Sonntag: Die Gescannten • Fischer KJB, Frankfurt, 2019 • 192 Seiten • 8,00 € • Empfohlen ab 12 Jahren
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