Verwirrtes Fleisch
Neues aus Punktown: „Dai-oo-ika“ von Jeffrey Thomas
In seinen Punktown-Geschichten verbindet Jeffrey Thomas seit Jahren auf grandiose Weise Elemente der Science-Fiction und des Horrors, oft sogar konkret des Cthulhu-Kosmos und des Cyberpunk oder des Biopunk. Obendrein gehört der 1957 geborene Amerikaner zu den besten zeitgenössischen Verfassern von Lovecraft-Pastiches, von denen er den einen oder anderen ebenfalls in Punktown angesiedelt hat, dieser verruchten Kolonialstadt im All, die eigentlich Paxton heißt, auf dem Planeten Oasis liegt und wirklich jeder Lebensform des Universums und jeder künstlich erschaffenen Bioform einen Platz bietet, weshalb Androiden neben Aliens, Klone neben Kreaturen und Mutanten neben Menschen existieren. Was im Prinzip ständig zu Problemen führt. Punktown, dessen Ursprünge in der Fanzine-Szene der 80er liegen, begleitet Thomas schon sein halbes Leben. Bis heute legt er immer wieder neue Storys und Sammlungen vor, für die ihm z. B. die Weird-Fiction-Größen China Míeville (im Shop) und Jeff VanderMeer applaudierten; die ihm Nominierungen für den Bram Stoker Award und den John W. Campbell Award einbrachten; und die u. a. Matthias Odens SF-Roman „Junktown“ (im Shop) inspirierten. Und nachdem Punktown bereits als Cthulhu-Rollenspiel adaptiert wurde, wird seit einiger Zeit an einer Comic-Interpretation der Geschichten gearbeitet.
Auf Deutsch erschienen im Festa Verlag 2003 und 2006 zwei brillante, nicht deckungsgleiche Kurzgeschichtensammlungen mit dem schlichten Titel „Punktown“, 2005 wurde der Roman „MonstroCity“ übersetzt, der Punktown mit noch mehr Lovecraft als ohnehin infizierte. Hinter der aktuellen deutschsprachigen Punktown-Publikation „Dai-oo-ika“ verbirgt sich wiederum der Roman „Deadstock“, der im englischsprachigen Original vor zehn Jahren veröffentlicht wurde. Als Protagonist der Geschichte dient Privatdetektiv Jeremy Stake, ein psychisch gezeichneter Veteran des interdimensionalen Blauen Krieges und obendrein ein Mutant, dessen Gesicht sich nach kurzer Zeit unterbewusst dem Gesicht von Stakes Gegenüber anpasst. Ein klarer Fall von verwirrtem Fleisch und für Punktown-Verhältnisse eigentlich ein Klacks. Stake soll die verschwundene Kawaii-Puppe namens Dai-oo-ika finden, die eigentlich der Tochter eines reichen Totfleisch-Produzenten gehört. Der im Labor entstandene Knuddel-Tintenfischkönig des Mädchens hat sich jedoch abgesetzt und wandert verwirrt durch Punktown. An anderer Stelle beißt sich eine jugendliche Straßengang mehr vom üblichen Punktown-Wahnsinn ab, als sie kauen, geschweige denn schlucken kann …
Die faszinierende Verschmelzung von futuristischer Science-Fiction und deftigem Horror, die Jeffrey Thomas in seinem Punktown-Moloch kultivierte, hat bis heute nichts an Reiz, Atmosphäre oder Coolness eingebüßt. Punktown gehört zu den großen, den wichtigen Schauplätzen der New Weird- bzw. der Weird-Fiction-Bewegung. Allerdings sind die unberechenbare Stadt und ihre fremdartigen Bewohner die eigentlichen Stars von „Dai-oo-ika“ – der Plot und die Prosa können da nicht mithalten. Erfahrene Punktown-Touristen dürfte das wenig überraschen, immerhin waren die scharfkantigen Storys mit ihren gigantischen Pointen schon früher um einiges stärker als z. B. „MontroCity“, obwohl man freilich bei jedem Punktown-Trip über die wilden Ideen und die bizarren Fusionen staunt. Selbst wenn der Grat zwischen geistreich und bemüht ein schmaler ist angesichts von Jugendlichen mit Telefonverbindungen ins Jenseits und Höschen als Einstecktüchern …
Schön, dass endlich wieder ein neues Punktown-Buch auf Deutsch vorliegt, und der letzte ausstehende Roman „Blue War“ dürfte gerne ebenfalls noch folgen – trotzdem bleibt es dabei, dass es sich bei Punktown um eine Kurzgeschichten-Hochburg handelt.
Jeffrey Thomas: Dai-oo-ika. Ein Punktown-Roman • Festa, Leipzig 2017 • 416 Seiten • Paperback: 13,99 Euro
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