9. Oktober 2024

„Wir. Tagebuch des Untergangs“ – Ist Russland noch zu retten?

Der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky blickt auf seine Heimat

Lesezeit: 3 min.

Über zweieinhalb Jahre liegt der russische Überfall auf die Ukraine nun schon zurück, wie viele Soldaten und Zivilisten seitdem ums Leben gekommen sind lässt sich nur schätzen, es werden wohl weit über 100.000 sein. Ein Ende des Krieges scheint nicht absehbar, zumal er so eng mit der Herrschaft von Wladimir Putin verknüpft ist, der seit nunmehr fast einem Vierteljahrhundert an der Macht ist. 72 Jahre ist Putin an diesem Montag geworden, sein Ende scheint also absehbar, denn auch wenn er sich möglicherweise dafür hält, unsterblich ist der uneingeschränkte Herrscher Russlands dann doch nicht.

Aus offensichtlichen historischen Gründen interessieren sich die Deutschen besonders für Russland, zwischen Faszination und Abscheu bewegen sich dabei oft die Emotionen, die meist nicht aus eigenen Erfahrungen mit Russland oder Besuchen vor Ort resultieren. Neutrale Berichte über den Zustand der russischen Politik und Gesellschaft zu finden ist allerdings nicht einfach, fast jeder schreibt und berichtet aus dieser oder jenen ideologischen Positionen.

Auch der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky macht da keine Ausnahme, doch sein neues Buch Wir. Tagebuch des Untergangs“ (im Shop) wird gerade durch den scharfen, alles andere als neutralen Blick seines Autors lesenswert. Voller Zynismus und Wut blickt Glukhovsky auf sein Land, auf die korrupte Elite, die sich um ihren Zaren schart, aber auch auf die Bevölkerung, die sich zu weiten Teilen mit der Situation arrangiert hat und zulässt, dass das moderne Russland zu einem der Pariahs der Welt wurde.

Glukhovsky wurde 1979 geboren, genau in dem Jahr, in dem die damalige UdSSR Afghanistan überfiel, was letztlich der Anfang ihres Endes bedeutete. Im freien Russland, das sich in den 1990ern mehr schlecht als recht bemühte, demokratische Institutionen zu etablieren, wuchs Glukhovsky auf, und veröffentlichte ab 2007 die Romane der Metro-Reihe (im Shop), düster-dystopische Werke, in denen man leicht eine Ahnung mitlesen konnte, in welche Richtung sich Russland entwickeln würde.

Seit 2012 veröffentlicht Glukhovsky auch politische, gesellschaftskritische Texte, meist kurze Vignetten, manchmal auch längere Essays, die Anfangs nur in Russland erschienen, später, als sich sein Ruf als interessanter Autor, vor allem aber als scharf und pointiert formulierender Regimekritiker verbreitete, auch im Ausland.

Knapp 50 dieser zwischen 2012 und 2024 veröffentlichten Texte sind nun im Band „Wir. Tagebuch des Untergangs“ vereint, das natürlich alles andere als ein Tagebuch ist, aber dennoch einen gerade für nicht Russen erhellenden Einblick in die Entwicklung der russischen Gesellschaft gibt. Denn das Wir des Titels darf man ernst nehmen: Lange Zeit schreibt Glukhovsky nicht aus einer neutralen Position, sondern aus dezidiert subjektiver, schreibt von uns und wir, auch wenn er sicher weiß, das er mit seinen gesellschafts-, Kreml-, Putin-kritischen Texten ganz gewiss nicht für die breite Mehrheit der Russen spricht. Dass das so ist, macht ihn wütend, sorgt für den anfangs scharf polemischen Ton, der in späteren Texten größerer Analyse weicht.


Dmitry Glukhovsky. Foto © Jana Mai

Wie Zeitkapseln wirken die Texte oft, vor allem da Glukhovsky sie meist doppelt einrahmt: Zum einen mit „Kontext“, einführende Zeilen, in denen er die zeithistorischen Umstände beschreibt, in denen die Texte entstanden, all jene Morde, Korruptionsfälle und andere Ereignisse erwähnt, die Anlass für die Texte waren. Gerade für nicht Experten eine höchst spannende Reihe an Ereignissen der russischen Innenpolitik, die weit über im Ausland wahrgenommene Personen wie Alexej Nawalny oder die Annektion der Krim hinausgehen.

Viele der Texte werden schließlich mit einem kurzen „Rückblick aus der Zukunft“ eingeordnet, kurze Reflexionen Glukhovskys, in denen er sein früheres, teils zwölf Jahre jüngeres Ich oft auch kritisch analysiert. „Mein Bauchgefühl hat mich nicht getrogen“ kann er zwar allzu oft schreiben, aber dass es mit seiner Heimat so schlimm wird, das hatte er nicht befürchtet.

Auch wegen der hier veröffentlichen Texte wurde Dmitry Glukhovsky in Abwesenheit zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Die Hoffnung, seine Heimat wiederzusehen, hat er nach eigener Aussage aufgegeben, zumindest für den Moment, aber da Blicke in die Zukunft ja bekanntermaßen schwierig sind, mag man in diesem Fall hoffen, dass sich Gluhkovsky irrt.

Dmitry Glukhovsky: Wir. Tagebuch des Untergangs • Aus dem Russischen von M. David Drevs • Heyne, München 2024 • 448 Seiten • Erhältlich als Hardcover, eBook und Hörbuch Download • Preis des Hardcovers: € 24,00 • im Shop

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