Zeitlose Erinnerungs-Landkarten
Abenteuer nach dem Zeit-Kollaps: S. E. Groves Roman „Weltenriss“
In ihrem Romandebüt „Weltenriss – Die Karten der verlorenen Zeit Bd. 1“ erzählt die Historikerin, Globetrotterin und Autorin S. E. Grove von einer Welt, die sich komplett gewandelt hat. Am 16. Juli 1799 bricht die Zeit in einem einzigen langen Augenblick des Stillstands nämlich schlichtweg auseinander. Später spricht man von der Großen Disruption, in deren Folge alle Kontinente und Länder in verschiedenen Zeiten und Epochen ‚wiederauferstehen‘. Gesellschaft, Religion, Politik, Fortschritt – alles wird wild durcheinander gewirbelt, und manche Gebiete sind sogar noch gänzlich unbekannt und unerforscht.
In dieser Neuen Welt lebt Sophia, die Tochter zweier verschollener Entdecker, bei ihrem Onkel Shadrack, einem der größten Kartologen, Geografen, Gelehrten und Geschichtskenner überhaupt. Knapp einhundert Jahre nach der Großen Disruption werden sie erneut Zeuge eines dramatischen Wandels. Denn das Parlament von Boston im Reich Neu-Okzident verabschiedet die Schließung der Grenzen und die Deportation aller Ausländer, deren Papiere nicht in Neu-Okzident ausgestellt sind und deren persönliche Uhren daher anders gehen (auffallend aktuell, obwohl das Buch aus den Vereinigten Staaten und von 2014 stammt). Kurz bevor Shadrack von einer mysteriösem Fremden und ihren narbengesichtigen Schergen entführt wird, bringt ihr kluger, gut vernetzter Onkel Sophia, die ironischerweise keinerlei inneres Zeitgefühlt besitzt, noch alles über Erinnerungskarten bei: Geradezu magische, auf alle Fälle meisterliche Landkarten aus den unterschiedlichsten Materialien, die durch bestimmte Reize oder Einflüsse aktiviert werden, sich aus den Erinnerungen vieler Menschen zusammensetzen und einen Ort in den Gedanken des Betrachters auf vielfältige Weise nachzeichnen können. Die größte dieser Erinnerungskarten ist die legendäre Carta Major, die alle Länder in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft abbilden können soll. Der Mythos um diese Mutter aller Karten bring Soph, ihren gekidnappten Onkel und ihren mutigen neuen Bekannten Theo in große Gefahr …
Das sind die Zutaten des ersten Abenteuers von Sophia, die es mit Kartenräubern genauso zu tun bekommt wie mit – natürlich – Piraten. Klingt nach genau dem richtigen, in der Hardcover-Version obendrein sehr schön aufgemachten Stoff für alle Leser von Kai Meyer, der es nicht unverdient auf die New-York-Times-Bestsellerliste schaffte, oder? Definitiv. Allerdings dauert es recht lange, bis S. E. Grove das Abenteuer im Auftaktband ihrer Trilogie um die Neue Welt auch wirklich beginnen lässt. Und selbst dann hat man ständig das Gefühl, dass sie zwar einen gefällig zu lesenden fantastischen Young-Adult-Roman geschrieben hat, der die Anforderungen und den Takt des Sujets jederzeit bedient, aber unterm Strich viel zu wenig aus diesem grandiosen Setting macht. Da wäre so viel mehr drin angesichts dieser auf den Kopf gestellten Welt, in der die Zeit nicht einfach nur aus den Fugen geraten ist, sondern die Historie und das Antlitz der Erde in allen Bereichen und Winkeln neu geschrieben hat! Das Konzept ist schließlich so ungewöhnlich und erfrischend, dass nicht einmal das so dehnbare Genre-Etikett Steampunk mehr richtig greift.
Da kann man nur hoffen, dass die von Karten und Geschichte begeisterte Mrs. Grove, für die Ort und Zeit eine gemeinsame Größe darstellen, im nächsten Band ihrer „Mapmaker“-Serie, die im englischsprachigen Original diesen Sommer abgeschlossen worden ist, noch etwas mehr aus ihrer faszinierenden Weltenschöpfung herausholt und vor allem mehr davon zeigt.
S. E. Grove: Weltenriss – Die Karten der verlorenen Zeit Bd. 1 • Fischer, Frankfurt 2016 • 576 Seiten • Hardcover: 18,99 Euro
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