23. August 2019 1 Likes

Das Böse aus der Genre-Scheune

Jeff Lemires und Andrea Sorrentinos preisgekrönter Mystery-Comic „Gideon Falls“

Lesezeit: 3 min.

Kommen ein Priester und ein Verrückter in eine Scheune …

Was durchaus der Anfang eines schlechten Witzes sein könnte, ist viel mehr die Punchline des US-Comics „Gideon Falls“ von Autor Jeff Lemire und Zeichner Andrea Sorrentino, der bei den Eisner Awards gerade als beste neue Serie mit dem Comic-Oscar ausgezeichnet wurde. Auf Deutsch liegen bei Splitter aktuell zwei Hardcover-Sammelbände des Mystery-Titels samt limitierter Vorzugsausgaben vor. Die Geschichte beginnt an zwei völlig unterschiedlichen Orten. Zum einen ist da der junge Norton, der mit einem Mundschutz durch die Großstadt schleicht, Müll aufsammelt, seine Beute nach Hause bringt und die Splitter und Reste dann zu etwas zu arrangieren versucht, das seine Psychologin als paranoide Wahnvorstellung abtut. Zum anderen geht es um Vater Fred, der in die ländliche Kleinstadt Gideon Falls versetzt wird. Zwischen weiten Feldern haben es der Priester, der vom Geist seines Vorgängers begrüßt wird, und die taffe Gesetzeshüterin des Nests mit alten und neuen Morden sowie der unheilvollen lokalen Legende der Schwarzen Scheune zu tun. Weder der Priester im Kaff noch der Patient in der City ahnen, dass sie demselben Bösen auf die Schliche zu kommen versuchen.

Die unausweichliche Konfrontation mit der Finsternis hat spätestens im zweiten Band viel – letztlich etwas zu viel – von den älteren Werken Stephen Kings oder Clive Barkers. Außerdem gleitet die Story aus Mystery und Horror mehr und mehr in die konzeptionellen Gefilde der Science-Fiction. Diese Verschiebung oder viel mehr Kombination wundert natürlich nicht, wenn man sich die Karriere von Alleskönner Jeff Lemire betrachtet. Als schreibender und zeichnender kanadischer Will Eisner gefeiert („Essex County“), inszenierte er auch schon starke Science-Fiction („Sweet Tooth“, „Descender“) und allerhand lesenswerte Superhelden-Action, darunter die Abenteuer von Moon Knight, Green Arrow und den X-Men. Lemires eigenes „Black Hammer“-Universum wird indes immer größer und erlebt dieser Tage sogar ein Crossover mit den DC-Recken, die das Ensemble und viele Elemente von „Black Hammer“ inspirierten. Der 1976 geborene Jeff Lemire kann scheinbar alles, und der Genre-Mix in „Gideon Falls“ bildet da keine weniger gut funktionierende oder unterhaltsame Ausnahme – der Kanadier drückt im Umfeld der Schwarzen Scheune definitiv die richtigen Knöpfe, wobei Stimmung klar vor Innovation geht. Bei einer so guten Atmosphäre verzeiht man es den Machern gern, wenn das Böse ein bisschen zu sehr dem traditionellem Klischee entspricht.

Mit dem italienischen Comic-Künstler Andrea Sorrentino hat Lemire einen talentierten Kompagnon gefunden. Sorrentino machte erstmals mit „Ich, der Vampir“ für DC international von sich reden, seither arbeitete er mit Lemire u. a. an „Green Arrow“ und „Old Man Logan“ zusammen. Sorrentinos leicht schruftiges Artwork, das keine satten Konturen nutzt, wirkt wie eine Mischung aus den Stilen von Jae Lee und Travel Foreman, gelegentlich blitzt zudem ein erheblicher gestalterischer Spieltrieb durch, was den Fluss und das Arrangement der Panels angeht. Lemire, selbst kein so übler Zeichner, gibt Sorrentino bei der Umsetzung der düsteren Story freilich genügend Momente, in denen der Italiener sich austoben und brillieren kann. Was die Handlung und Motive an Frische vermissen lassen mögen, kompensieren – überkompensieren zuweilen – die Bilder und das visuelle Storytelling. Spätestens seit „Gideon Falls“ muss man Lemire und Sorrentino auf die Liste der kongenialen Comic-Kreativteams setzen.

Übrigens sollte die Geschichte vor vielen Jahren, als Lemire noch eine andere Karriere anstrebte, ein Film werden, über den vermeintlichen Comic-Umweg wird das Ganze nun wohl immerhin doch noch eine Fernsehserie. In deren Produktion werden Lemire und Sorrentino ebenfalls involviert sein, überdies realisieren sie für DCs Black Label den Comic „Joker: Killer Smile“. Ihr gruseliges Baby „Gideon Falls“ soll all das angeblich nicht tangieren, Lemire versicherte den Fans in seinem Newsletter, dass er und Sorrentino weit genug vorausgearbeitet hätten, um sich diese Projekte zwischendurch erlauben zu können.

Dem Bösen aus der Schwarzen Scheune werden sie und wir also nicht entkommen. Aber wer will das schon, bei so gutem, interessantem Genre-Stoff?

Jeff Lemire & Andrea Sorrentino: Gideon Falls Bd. 1 & 2 • Splitter, Bielefeld 2019 • je 136 Seiten • Hardcover: je 22,00 Euro

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