18. Juli 2019

Ab in den Wahnsinn

Trotz biederer Technik ein echter Atmosphäre-Hit: Das Detektiv-Adventure „The Sinking City“ im Test

Lesezeit: 6 min.

Was denkt man eigentlich, wenn man einem Mann im Anzug vorgestellt wird, dessen Körper dem eines Gorillas entspricht oder wenn man in einer Stadt voller grausiger Tiefseeabfälle dazu Gestalten begegnet, die mehr Fisch als Mensch zu sein scheinen und sich dennoch wie letzteres verhalten? Genau diese Frage stellt sich Privatschnüffler Charles Reed gleich zu Beginn von Frogwares jüngstem Open World-Adventure The Sinking City, das seit Ende Juni für PS4, Xbox One und PC in den Läden steht. Geplagt von düsteren Visionen und Alpträumen voller apokalyptischer Andeutungen, verschlägt es Reed ins alles andere als beschauliche Oakmont in den USA. Der Name des Spiels ist gleich volles Programm. Oakmont liegt zur Hälfte unter Wasser und wie in einer dunklen Version von Venedig können viele Straßen und Gebäude nur mithilfe frei verfügbarer Motorboote überquert werden.

Unser Ziel besteht folglich darin, Reeds Visionen auf die Spur zu kommen und dabei immer tiefer in die bedrohlichen (Sub-)Kulturen der Stadt und ihrer größtenteils von Dämonen und Prophezeiungen terrorisierten Bürger einzudringen. Alte Dynastien und vermoderte Keller erwarten uns dabei ebenso wie weitere merkwürdige Bewohner und deren Geheimnisse. Wer würde beispielsweise beim Anblick der örtlichen Bibliothekarin, die sich freiwillig den Mund zugenäht hat, um Buße zu tun, nicht fragen, was der Grund ihrer Selbstbestrafung ist?

Genau aus solchen Begegnungen zieht The Sinking City eine seiner größten Motivationen. Denn während wir uns mit Reed durch die einzelnen Viertel schlagen, um den Hauptmissionen zu folgen, bietet uns das Spiel immer wieder dezent Nebenquests an, die sich nicht wie bei vielen Ubisoft Open World-Titeln mittels ausufernder, meist exakter Wegbeschreibung verfolgen lassen. Die Macher legten spürbar Wert auf ein Detektiv-Erlebnis, das sich nicht aufdrängt und uns nicht allzu sehr an die Hand nimmt. Ein Spiel für echte Entdecker also. Gute Wahl!

Unser labiler Held folgt trotz regelmäßiger Action-Einlagen dem Sherlock Holmes-Prinzip und so besteht das Gameplay von The Sinking City die überwiegende Spielzeit über aus der Suche nach Hinweisen an Tatorten und deren Kombination im Sinne des jeweiligen Falls. Dazu passt es ganz hervorragend, dass der Titel nicht jede Schlussfolgerung knallhart vorgibt und uns Platz für unterschiedliche Lösungen gibt. Die wiederum können sich in teils sehr dramatischen Handlungen widerspiegeln, sodass wir uns etwa je nach Fallergebnis für eine von mehreren beteiligten Parteien entscheiden und so auch Dinge verheimlichen oder gar Leute töten können.

Erfüllte Aufgaben führen jedoch nicht nur zum Weiterkommen innerhalb der zwar oft gemächlich erzählten, stets spannenden Story, sondern beschenken uns mit Erfahrungspunkten und Gegenständen, die wir genreüblich für die Verbesserung unserer Lebensanzeige oder unserer Schießkünste verwenden müssen. Die drei vorhandenen Skilltrees fallen nicht allzu komplex aus und auch das Crafting-System markiert mehr einen Automatismus anstatt von uns einen genaueren Fokus zu verlangen. Überall in der Stadt plündern wir Truhen, Mülleimer oder von Monstern befallene Räume, um aus Gegenständen ganz einfach im Inventarmenü frische Munition, Molotowcocktails oder Verbandskästen anzufertigen.

Ganz alte Schule, erholt sich Reed nach erlittenem Schaden nicht von selbst und neben der Lebensenergie gilt es stets einen zweiten Balken im Auge zu behalten, der Reeds psychische Stabilität anzeigt. Ausgelöst durch besonders mysteriöse Ereignisse oder Monster, fällt die Anzeige rapide und Reeds mentaler Zustand nimmt bedrohliche Ausmaße an, bis sich unser Held entweder von selbst oder nach Einnahme eines Medikaments wieder erholt. Ein sinnvoller Schachzug der Entwickler, um die in The Sinking City allgegenwärtige Grenze zwischen Realität und Wahnsinn weiter auszubauen.

Die Lösung der Fälle verlangt von uns jedes Mal das Abarbeiten verschiedener Stationen. Meist muss zunächst die Adresse unseres nächsten Tatorts bestimmt werden, der dann nach Hinweisen wie Notizen, Blutspuren oder Artefakten abgesucht wird, um daraus wiederum Tathergänge visuell zu rekonstruieren und weitere Schlussfolgerungen für den nächsten Tatortort ziehen zu können. Zusätzlichen Pep garantiert Reeds Fähigkeit, mit einer Art drittem Auge Mysterien offenlegen und geisterhafte Gestalten verfolgen zu können. Zwar nutzt sich auch dieses Feature im Ablauf der Fälle etwas ab, dennoch unterstützt es mal wieder das – man kann es nicht oft genug betonen – überragende Mystery Horror-Flair.

Gerade aufgrund der äußerst üppigen Spielzeit von über 30 Stunden (wenn man eben auch einige Nebenquests absolviert) stellt sich so eine gewisse Redundanz im Ablauf ein. Dieser Befund geht Hand in Hand mit der Spielwelt: Da Oakmont als Gebiet sehr weitläufig ist und wir oft in Archiven wie dem des Rathauses oder der örtlichen Zeitung stöbern müssen, um an dringend benötigte Infos zu gelangen, hüpfen wir mittels Schnellreise-System via Telefonzellen sehr oft in der Stadt hin und her. Das bedeutet konkret, dass wir innerhalb eines Falles erst zu einem Haus, dann zu einem Archiv, dann wieder zum nächsten Haus, dann wieder zu einem Archiv und dann eventuell wieder zurück zu unserem Auftraggeber müssen. Das kostet viel Zeit, die man eleganter hätte füllen können. Schade.

Die Abnutzung des Gameplays wäre leichter zu verschmerzen, würde The Sinking City nicht an elend langen Ladezeiten leiden, die uns dieses Hin- und Her-Prinzip oft zur Hölle machen würden. Die Technik ist überhaupt das vielleicht gravierendste Problem des Titels, denn obwohl Oakmont und dessen Bewohner nur so vor düsterer Lovecraft-Atmosphäre strotzen, ächzt die Stadt unter seiner grafischen Limitierung. Das merkt man auch an den sehr steifen Animationen der gut vertonten Charaktere, wobei sogar manche Animationen wie beispielsweise bei der Benutzung der Verbindungsboote oder beim Öffnen von Türen schlicht weggelassen wurden. Nachladende Texturen und detailarme Umgebungen trüben weiterhin das Gesamtbild des eigentlich so stimmungsvollen Adventures. Auf der Habenseite stehen wiederum sehr gute Lichteffekte, ein stimmiges Design sowie die subtile Einbindung bedrohlicher Szenarien in den Gesamtkontext der offenen Welt.

Für Abwechslung sorgen neben einigen trägen, glücklicherweise eher kürzeren Taucherausflügen ins Meer (inklusive angriffslustiger Riesenfische und nerviger Bodenquellen) die bereits angesprochenen Action-Einlagen gegen menschliche wie monströse Gegner an Land. Innerhalb der Stadt treten die Bestien meist nur in klar definierten, vom Rest der Bewohner abgegrenzten Gebieten oder innerhalb der Tatorthäuser auf. Ganz im Stile eines Survival-Horror-Ablegers ist Weglaufen in den meisten Situationen die beste und auch vom Gameplay durchaus geförderte Option. Allerdings werfen Feinde dringend benötigte Erfahrungspunkte ab, die wir zum Beispiel in gezielten Manövern innerhalb monsterversuchter Gebiete auf eigene Gefahr verdienen können.

Ob kleine spinnenartige oder gewaltig große Ungetümer, die Konfrontationen verlaufen eher zweckmäßig (sprich: hakelig), wobei dank latenter Munitionsknappheit intensive Momente garantiert sind. Wer will, kann übrigens sowohl den Schwierigkeitsgrad der Kämpfe als auch der Rätsel an das eigene Leistungsvermögen anpassen. Zu schwer wird das Adventure also für niemanden. Wer jedoch in den Gefechten dennoch mal das Zeitliche segnet, wird – mit langer Ladezeit versteht sich – zur nächststehenden Telefonzelle oder einen anderen Safepoint versetzt. Die Karte der Stadt gestaltet sich übrigens recht übersichtlich und weitere Orientierungsmittel wie die Straßennamen oder markierte Eingangstüren erfüllen ihre Pflicht, sodass niemand verloren geht oder zu lange nach der nächsten Station sucht.

Unter dem Strich ist Frogwares Adventure eine gelungene Hommage an Sherlock Holmes und Lovecraft, der es leider sichtbar an Budget und somit an Feinschliff fehlt. Die Geschichte um Charles Reed, dessen Schicksal enger mit Oakmont verflochten ist, als zunächst angenommen, verfängt bis zum Schluss und bleibt dank vieler verschiedener Handlungsmöglichkeiten und mehrerer Enden sogar für einen weiteren Durchgang motivierend. Themen wie Rassismus, Fanatismus und natürlich Okkultismus geben dem Geschehen eine Tiefe, die sich durchaus als kritischer Kommentar auf die Gegenwart interpretieren lässt, ohne uns aber mit aufgesetzten Deutungsangeboten zu erschlagen.

Trotzdem bleibt der Eindruck, dass es dem Titel gutgetan hätte, ihn dramaturgisch zu straffen und so den Vorwurf zu entkräften, man würde viel zu oft speziell in den Archiven das Gleiche tun ohne echten Mehrwert. Auch die Kämpfe sowie die Tauchgänge spielen leider mangels Variation nicht ganz in der oberen Genre-Liga. Doch gerade Lovecraft- und Detektiv-Fans sollten hier (ähnlich wie bei Call of Cthulhu) unbedingt zugreifen, da die Fälle wie die bedrückende Spielwelt schon allein aufgrund ihrer packenden wie glaubhaften Stimmung eine echte Marke setzen.

Fazit

Eine fesselnde Spielwelt sowie ein durchdachter, zumindest über weite Strecken hochmotivierender Genre-Mix bilden neben der genial umgesetzten Lovecraft-Atmosphäre die Highlights eines Titels, dem es vor allem technisch leider am letzten Schliff fehlt, um wirklich in den Open World-Olymp einziehen zu können.

The Sinking City • Frogwares/BigBen • Detektiv-Adventure/Open World-Horror • PS4/Xbox One/PC

Abbildung © Frogwares/BigBen

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