London sehen...und töten?
Das Action-RPG „Vampyr“ im Test
London, 1918, der Erste Weltkrieg ist gerade erst am Abklingen, da wird Englands Metropole von der Spanischen Grippe heimgesucht, die zahllose Opfer fordert und nicht aufzuhalten scheint. Ordnung und Recht bleiben da ebenso auf der Strecke wie die Versorgung der Kranken und Kriegsveteranen. In dieses Szenario einer im Chaos zu versinkenden Stadt kehrt Dr. Jonathan Reid in Vampyr (Anfang Juni für PS4, Xbox One und PC erschienen) nach seinem Kriegsdienst zurück. Doch schon kurz nach seiner Ankunft (und einem wunderbar das Kommende anteasernden wie stimmungsvollen Opening im Comic-Look) wird der Arzt von einem mysteriösen Urvampir gebissen und findet sich nach seinem Erwachen inmitten eines Leichenberges wieder.
Völlig benommen von der Wiederauferstehung und blind getrieben von seinem ihn nun überwältigenden Durst nach Blut, greift sich Reid den ersten Menschen, den er in seinem Delirium erblickt und nur noch als Blutspender wahrnehmen kann. Erst nachdem er seine neuen Kräfte auf unerbittliche Weise erstmals zum Einsatz gebracht hat, erkennt er die Tragik seiner Tat – das Opfer war seine Schwester Mary, die fieberhaft nach ihrem Bruder gesucht hat. Ein Mord, der die Systematik der kommenden gut 15-20 Spielstunden von Vampyr bereits sehr stimmig einleitet und vorwegnimmt.
In der Gestalt unseres untoten Protagonisten durchstreifen wir London auf der Suche nach unserem Erschaffer und den Hintergründen unserer Wandlung, während wir gleichzeitig versuchen, in unserer Profession als Doktor die Epidemie in der Stadt einzudämmen und damit Menschen zu helfen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit dieses actionlastigen RPGs. Denn es steht uns frei, die ganze Angelegenheit auch ganz anders anzugehen und unserem Unleben auf grausame Weise einen blutigen Ausdruck zu verleihen. Den Machern von Dontnod, die sich bereits in ihrem episodischen Indie-Hit Life is Strange als Meister der unsanften Entscheidung mit nachhallenden Konsequenzen gezeigt haben, setzen auch diesmal voll und ganz auf die Wirkungsmacht unserer Aktionen.
Deshalb treffen wir in der umfangreichen, aber dankenswerterweise nicht zu weitläufigen nächtlichen Open World Londons neben zahlreichen menschlichen wie unmenschlichen Gegnern auch trotz grassierender Epidemie einige Einwohner, die wir mittels ausführlicher Dialoge ähnlich wie ihre komplexen Beziehungen untereinander näher kennenlernen. Ob überfordertes Krankenhausperson, zwielichtige Händler, fanatische Geistliche oder um ihr Leben kämpfende Familien; das Figurenpersonal gefällt mit Abwechslung und Tiefe, denn kein Charakter ist wie der andere und folgt seinem individuellen Lebenslauf. Viele von ihnen müssen wir auch erst selbst aufspüren, wenn wir beispielsweise an einige der verhältnismäßig wenigen noch aktiv bewohnten Behausungen gerade in den ärmeren Vierteln klopfen oder via Nebenmission verschleppte oder verschollene Bürger befreien.
In den Gesprächen erhalten wir Informationen und (weitere) Aufträge, die uns neben zusätzlichem Hintergrundwissen über Stadt und Bewohner auch Gegenstände und Erfahrungspunkte zuschanzen, die wir wiederum für die Herstellung besserer Waffen, Tränke oder Medizin verwenden können. Doch auch hier gilt: Wer sich auf die Personen wirklich einlassen und deren Storyverflechtungen über mehrere Spielstunden hinweg ausführlich verfolgen will, ist ebenso richtig bei Vampyr wie all diejenigen, die in ihren Gesprächspartnern nur lebende Bluttransfusionen sehen, die man – einen entsprechenden Mesmerismuslevel vorausgesetzt – aussaugen und daraufhin deren aktuellen Erfahrungspunktewert abgreifen kann. Der wiederum variiert je nach Gesundheits- oder Gemütszustand, sodass es durchaus sinnvoll sein kann, ein potenzielles Opfer erst von einer Krankheit zu heilen, um ihm dann ganz eigennützig den Tod zu „schenken“.
Die Erfahrungspunkte legen wir in verschiedene Skilltrees an, um wahlweise starke magische Angriffe freizusetzen oder unsere Ausdauer-, Lebens- und Blutleiste auszuweiten. Denn in den Kämpfen kommt es darauf an, unsere Kräfte gut einzuteilen und gerade die Blutleiste mit beherzten Bissen wieder aufzufüllen, da wir mit ihr unsere Spezialangriffe (oder auch die enorm wichtige Heilfähigkeit) aktivieren können.
Außerhalb der Gefechte regeneriert sich die Lebensenergie langsam automatisch (allerdings nur bis zu einem variablen Schadenspunkt, den wir erst mithilfe unserer Heilung wieder deaktivieren können), während unser Ausdauerbalkon je nach Aktionsgrad mit Schlag- oder Schusswaffe sofort wieder ansteigt. Wer jedoch bei seinen Kombos nicht aufpasst oder entsprechend geschwächt wird, kann schon mal von den meist in Horden attackierenden Gegnergruppen in ein paar Sekunden in die Ecke gedrängt und ohne Ausdauer recht wehrlos zerrissen werden.
Die Kämpfe laufen dabei zwar flüssig ab, spielen sich jedoch oft etwas zu hektisch und unübersichtlich aufgrund der permanenten Überzahl der Gegner. Doch wer den guten Dr. Reid zu einer echten Kampfmaschine ausbaut und geschickt mit Ausweich-, Block-und Angriffsmanöver hantiert, kann speziell mit den verschiedenen (schnell umschaltbaren) Waffensets im Zusammenspiel mit Biss- und Magieattacken allen Widersachern sehr elegant das Fürchten lehren. Ausgenommen davon sind die recht knackigen Endgegner, die teilweise sehr heftig austeilen und gerne mal unser Nervenkostüm mit ihrer Überlegenheit strapazieren.
Zwar sind die Rücksetzpunkte im Falle eines recht häufig eintretenden Ablebens dank überall in London verteilter Safe Rooms (inklusive Werkbänke zum Craften und Kisten zum Auffüllen von Munition und Tränken) fair gesetzt, doch die leider ätzend langen Ladezeiten machen jede Niederlage zur echten Geduldsprobe. Selbiges gilt beim Betreten von Häusern oder dem Untergrund – fast eine Minute Ladezeit ist da einfach zu viel! Technisch gibt es auch an anderen Stellen Kritikpunkte: So zeigt sich das nächtliche London in den sechs Storykapiteln und den sehr unterschiedlichen Stadtvierteln äußerst stimmungsvoll, doch rein grafisch betrachtet nicht sonderlich detailliert bei genauerem Hinsehen.
Speziell die Texturen und Charaktermodelle fallen sehr grob und bei der Mimik fast schon leblos aus. Die sehr guten (englischen) Sprecher reißen das zwar in Verbindung mit den gut geschriebenen Dialogen raus, doch da die Gespräche schon mal länger dauern und schließlich oft genug von einer gewissen Dramatik über Leben und Sterben getragen werden, fällt die kaum emotionale Grafikperformanz an der Stelle negativ ins Gewicht.
Allerdings sollte man sich stets vor Augen führen, dass es Dontnod gelingt, eine ungemein dichte Gothic-Atmosphäre zu kreieren, bei der das überragende Artdesign des viktorianischen Londons oder der knisternde Soundtrack auch ohne echten Horror für Dauergänsehaut sorgen. Dazu gefällt der Mix aus Kämpfen, Erkunden und Dialogführung sehr gut, da unsere Taten tatsächlich sichtbare Folgen auf allen Ebenen nach sich ziehen und nicht leichtfertig banalisiert werden. Töten (oder in manchen Fällen verwandeln) wir etwa entscheidende Stützen oder auch nur einige der normalen Einwohner eines Viertels, müssen wir mit mehr Gegnern und kritischgen Entwicklungen sowohl bei Neben- wie Hauptstory rechnen.
Besonders gelungen ist dabei die Ambivalenz unseres „Helden“, der als Mediziner zwar eigentlich mithilfe der im Spiel implementierten Suche nach neuen Formeln oder dem auf Knopfdruck verfügbaren Gesundheitscheck in den Gesprächen an der Gesundung der Menschen mit einer glaubhaften Passion interessiert ist, jedoch in untoter Gestalt strenggenommen eben nicht mehr zu ihnen gehört und speziell bezüglich seiner Identität als Vampir eine eigene Agenda fahren muss.
Außerdem verführt uns das Gameplay gerade mit seinem selbst auf niedrigerem Niveau recht knackigen Schwierigkeitsgrad gezielt dazu, es uns optional mit ein paar weiteren Morden vordergründig etwas einfacher zu machen, da wir ohne Extra-Erfahrungspunkte nur mit viel Aufwand mühsam weitere Verbesserungen erspielen können. Die Story dreht sich dabei ebenso um Themen wie Ausgrenzung, Rassismus oder das britische Klassensystem und zieht entlang des Epidemie-Motivs stellenweise dezente Parallelen bis in die Gegenwart.
Eine Umkehr getroffener Entscheidungen gibt es dabei ausdrücklich nicht, da unser Speicherstand automatisch absichert und Vampyr somit zu mindestens einem weiteren Durchlauf einlädt, in dem wir dann spielbildlich zu unserem ersten austesten können, was unser alternatives Handeln bis hin zum Abspann bewirkt. Und selbst wenn sich manche Dialoge mit der Zeit spielerisch wie ein Abklappern anfühlen, um den im Menü abrufbaren Infobaum zu allen Vierteln und Bewohnern weiter auszubauen, so hat man selten ein Gothic-Rollenspiel gesehen, das Setting wie Thema so gut in ein daran gekoppeltes Gameplay kleidet.
Fazit
Würde man zur Steigerung der eigenen Macht einen Menschen töten, von dem man annimmt, er hätte es verdient? Ein hilflos unschuldiges Mädchen, das niemand vermisst? Oder gar die eigene Mutter? Müssen wir das nicht sogar, um ein höheres Ziel im Guten oder im Schlechten zu erreichen? Allein dass Vampyr als Action-RPG solche und weitere moralische Dilemmata zur Disposition stellt und uns dabei weder bei Story oder Gameplay mit halben Entscheidungen abspeist, verdient ein Extralob.
Gleiches gilt für die toll eingefangene Düsteratmospäre Londons, in dem sich die Folgen von Krankheit, Tod und Verfall an jeder Ecke zu Erkennen geben und uns von der ersten Minute an in Beschlag nehmen. Die sich langsam entwickelnde, aber zunehmend fesselnde Geschichte über den Arzt Jonathan Reid und die Hintergründe seiner Verwandlung, fängt die Gothic-Stimmung mitsamt ihrer passenden zeitlichen Verortung sehr gut ein und unterhält mit facettenreichen Charakteren ohne viele reißerisch aufgesetzte Wendungen.
Zu Meckern gibt es da folglich wenig. Hätten die Macher jedoch gerade bei den Charaktermodellen, dem etwas zu hektischen Kampfsystem und vor allem den nervigen Ladezeiten weiter geschraubt, hätte Vampyr das Potenzial zu einem echten Überhit. So bleibt natürlich trotzdem eines der klügsten, weil eben nicht banal mit seinem Motiv hantierenden Vampir-Games auf PS4, Xbox One und PC, das sich Rollenspielfans nicht entgehen lassen sollten.
Vampyr • Dontnod Entertainment/Focus Home Interactive • Action-RPG
Abb. © Dontnod Entertainment/Focus Home Interactive
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