„Marvel's Spider-Man 2“: … whatever a spider can!
Doppelt hält besser?
Die freundliche Spinne aus der Nachbarschaft hatte es nicht immer leicht. Wenn man schon mit den überfordernden Schrecken der Pubertät zu kämpfen hat, wird man auch noch von einer Spinne gebissen, die einem übermenschliche Kräfte verleiht, und dann lernt man durch den eigens verursachten Tod des Onkels, dass man so früh auch schon eine ganze Menge Verantwortung hat. Und wenn wir das bei „Marvel’s Spider-Man“ weiterspinnen, wird der Arbeitgeber und größte Vaterfigur, die man hat, zu einem achtarmigen irren Schwerverbrecher, verliert auch noch die eigene Tante, während sich der philanthrope Leiter einer Einrichtung für Obdachlose, die man sein zweites Zuhause nannte, als hundsgemeiner Mafiaboss herausstellt – und derweil gönnt sich der beste Freund seit Jahren eine Auszeit in Europa … oder – tut er das? Und wir reden hier erstmal nur von einem, der beiden Spider-Men! Verwirrt? Keine Sorge. Jeder entwächst mal den Wirrungen der Kindheit. So auch „Mavel’s Spider-Man 2“ von „Ratchet & Clank“-Entwickler Insomniac Games, das seit Kurzem exklusiv für die Sony PlayStation 5 erhältlich ist.
Die Handlung setzt nach dem 2020 erschienen „Marvel’s Spider-Man: Miles Morales“ ein, nachdem Peter Parker nun schon etliche Jahre als Spider-Man unter dem Hut hat, Miles sich bereits seine Sporen verdienen konnte, und sich Peter an Miles Visions Academy als Lehrer verdingen will. Natürlich wird die erste Unterrichtsstunde jäh von einem amoklaufenden Sandman unterbrochen, und die beiden Spider-Men machen sich auf, den Bösewicht zu stoppen. Aufgrund von Vernachlässigung in einer Notsituation der in seiner Obhut überlassenen Schüler wird Peter sofort wieder gefeuert. Aber wie es das Schicksal so will, tritt plötzlich Peters bester Freund Harry Osborn wieder in sein Leben mit dem Vorschlag, Peter solle mit ihm zusammen bei der Emily-May-Foundation, einem weltverbesserndem Tech- und Umwelt-Startup, zum Wohle der Menschheit arbeiten – ganz im Sinne ihrer beider verstorbenen „Mütter“, Emily Osborn und Peters Ziehmutter und Tante May Parker. Währenddessen bereitet sich der aus einer adeligen Familie stammende Sergei „Kraven“ Kravinoff, ein selbsternannter Meisterjäger, auf die Jagd seines Lebens vor – und hat neben diversen Superhelden und -Schurken auch die beiden Spider-Men im Visier und natürlich wäre da noch diese ganze Venom-Sache, wie die Trailer und das Marketing natürlich schon lange vorher verrieten …
Zu sagen, dass „Marvel’s Spider-Man 2“ sich in ungeahnte Höhen katapultiert, ist vielleicht noch eine Untertreibung. Gleich die erste Mission, die uns gegen einen gigantischen Sandman ins Feld schickt, beeindruckt nicht nur atmosphärisch und spielerisch, sondern ebenso technisch und zeigt in Grundzügen den Kern des Spiels. Wir wechseln im Gefecht konstant an Schlüsselstellen zwischen Miles Morales und Peter und kümmern uns um Flint Marko, alias Sandman, während der jeweils andere Spider-Man sich um die Bevölkerung und andere Probleme kümmert und sie gemeinsam einen Weg suchen, den gebäude-großen Sandkasten wieder zusammenzukehren. Der Eröffnungsakt erinnert unweigerlich an die Eröffnungsminuten von „Ratchet & Clank: Rift Apart“, wenn es um die schiere Fulminanz und die ausufernden Wow-Momente geht. Insomniac verstehen ihr Handwerk. Und nach einem brachialen, abwechslungsreichen und atemberaubenden Bosskampf werden wir gemächlich an die etlichen neuen Mechaniken des Spiels herangeführt.
Im späteren Verlauf des Games können wir übrigens ganz einfach per „FSMN-App“ (einmal nach links auf dem Touchpad streichen) zwischen Miles und Peter wechseln, beinahe in Sekundenschnelle, gänzlich ohne Lade- oder Wartezeiten. Und hin und wieder begegnen wir dem jeweils anderen Spider-Man gar zufällig im deutlich größer gewordenen New York, während wir Verbrechen bekämpfen und uns freundliche Unterstützung im Kampf zuteil wird. Hierbei hat nicht nur jeder Spider-Man einen eigenen Skillbaum mit unterschiedlichen Fähigkeiten, es kommen auch wieder (diesmal noch umfangreicher und erweiterter) Spider-Gadgets ins Spiel, die per Schultertastenkombo Netze verschießen, die die Gegner an einem Punkt sammeln für einen gezielten arealen Angriff, oder das Upshot-Gadget, das Gegner in die Luft katapultiert, bereit für zerstörerische Luftkombos.
Das an die „Batman Arkham“-Games angelehnte Freeflow-Combo-Kampfsystem kehrt hier natürlich wieder zurück und lässt uns wie auch in den vorherigen Spielen Feinde verdreschen, die Anzeige in die Höhe treiben, und dann per Auslöser und Combo-Schwellenwert superstarke Finishing-Moves austeilen. Das Ausweichen per Kreistaste und dank hilfreicher Spinnensinnwarnung über den Köpfen der Spider-Men ist für hohe Combo-Zahlen natürlich wieder unabdingbar. Neu hingegen ist die Fähigkeit, Angriffe per L1-Schultertaste bei gut getimten Momenten zu parieren – und auch bitter notwendig, wenn im späteren Verlauf hünenhaften Bösewichten, schwertschwingenden Säbelrasslern und verbarrikadierenden Schildträgern mit normalen Angriffen oder Netzschwingern nicht mehr beizukommen ist.
Hilfreich sind auch hier Peters neue Tech-Arm-Angriffe, die für kurze Momente vier mechanische Spinnenarme hinter Peters Rücken für ebenfalls superstarke Angriffe zu Hilfe holen oder Miles‘ Venom-Angriffe (Achtung! Verwechslungsgefahr vorprogrammiert, die haben nichts mit dem gleichnamigen Symbionten im Spiel zu tun, sondern sind elektrisch überladene Angriffe.). Und wenn wir schon bei Venom sind … Sobald der Symbiont im Verlauf der Geschichte in Peters Leben tritt, spielen sich die recht ähnlichen Spider-Men doch nochmals spürbar unterschiedlicher. Besonders Peters Angriffe werden brachialer und sind häufig bei Kämpfen gegen größere Massen hilfreicher. Und auch hierzu gibt es im Skillbaum mehrere gesonderte Äste freizuschalten.
Zu den größten Highlights zählen sicher die Bosskämpfe, die sich diesmal endlich abwechslungsreicher gestalten als etliche der Beispiele aus den Vorgängern. Etliche Bosskämpfe sind in mehreren Phasen mit zusätzlichen Lebensleisten der Obermotze versehen und fordern meist eine angepasste Herangehensweise, um siegreich aus dem Scharmützel zu kommen, was besonders auf den höheren Schwierigkeitsgraden eine harte Nuss werden könnte. Besonders Kämpfe gegen Sandman, die Echse und später natürlich Venom sind die herausragenden Glanzlichter der Spiels. Und auch so manche unerwartete spielerische Passage wird Fans eins Grinsen ins Gesicht zaubern, mit der man vermutlich so nicht gerechnet hat. Während die Story des Erstlings im Besonderen viele Fans durch ihre Vielschichtigkeit und emotionale Tragweite erstaunt hat, setzt Insomniac Games hier zwar nahtlos an – und zeigt, dass Sony und die PlayStation immer noch die Könige der narrativ getriebenen Singleplayer-Erfahrung sind – erreicht aber dennoch nicht die wuchtigen, überraschenden Höhen des Erstlings. Besonders Miles’ Rolle im Gesamtkonstrukt der Handlung bleibt rückblickend auf der Strecke und lässt einen etwas wundern, ob die Geschichte gänzlich ohne Miles nicht doch trotzdem ähnlich verlaufen wäre. Nichtsdestotrotz bietet die Story einen Wahnsinnsritt mit vielen emotionalen Lichtpunkten, die in Sachen Inszenierung ihres gleichen sucht.
Ein Wermutstropfen bleiben die Nebenmissionen und abseitigen Aktivitäten, die diesmal zwar in Sachen Vielfalt weiter ausgearbeitet wurden – und so manche geniale Idee beinhalten – sich im Großen und Ganzen aber dennoch etwas fahl anfühlen. Seinerzeit schrieben wir im Test zum Erstling: „Gerade die Nebenmissionen wären der perfekte Ort, die gigantische Riege an Bösewichten auftauchen zu lassen, die Spider-Man bietet. Warum dort dann so viel Zeit mit austauschbarer Nichtigkeit verplempert wird, bleibt ein Rätsel.“ Und an dieser Aussage hat sich nicht sonderlich viel geändert. Bis auf Mysterio, gegen den wir in Challenge-Room-artigen Kämpfen als Miles antreten, wird in sämtlichen Nebenquests verzweifelt nach einem Spider-Man-Bösewicht gesucht. Und auch wenn die Missionen um den Kult von „The Flame“ vielversprechend enden, bleibt angesichts des schieren Potenzials hier der Rest total auf der Strecke.
Dabei hat es doch gerade „Batman: Arkham …“ vor Urzeiten so schön vorgemacht. Wenn man dann nach Abschluss von „Marvel’s Spider-Man 2“ an die aufgetretenen Bösewichte denkt, kann man die doch leider an einer Hand abzählen – was irgendwie befremdlich und unerklärlich ist, da Spider-Man die vermutlich ikonischste und vielfältigste Riege an Bösewichten aller Zeiten aufweisen kann. Stattdessen machen wir erneut Fotos, sammeln Spider-Bots, helfen verloren gegangenen Senioren, oder setzen uns für die Umwelt mit Bienendrohnen und helfen Schülern der Visions Academy bei ihren romantischen Dates. Wie gesagt, in manchen Missionen steckt so mancher Hauch von Genialität – aber viele davon bleiben dröge und fühlen sich vor allem nicht nach einem Superhelden-Spider-Man-Spiel an. Und das Fiasko, um den im Finale herbeigezwungen, optisch grausigen von Adidas entworfenen Spidey-Anzug, den Miles trägt – und sich nicht wechseln lässt, bis die Story vorbei ist – wollen wir über diese Zeilen hin gar nicht erwähnen … George Orwell würde rotieren.
Zum Schluss bleibt zu sagen, dass „Marvel’s Spider-Man 2“ in seinen rund 20-35 Stunden einen phänomenalen Spaß bereitet. Sich durch die tiefen Häuserschluchten zu schwingen, ist nach wie vor ein unvergleichlich atemberaubendes Gefühl, das einen wirklich zu Spider-Man werden lässt. Und sogar die Einschübe mit Mary Jane Watson sind spielerisch deutlich ausgereifter und abwechslungsreicher! Die spielerische Vielfalt, die sich besonders durch die beiden Spider-Men, Miles und Peter, ergibt, und die beeindruckende Inszenierung des Haupthandlung und der Bosskämpfe machen aus „Marvel’s Spider-Man 2“ nicht nur einen spektakulären Ritt, sondern vor allem einen erstaunlichen Spaß, den man selbst nach Abschluss nicht aus der Hand geben will.
„Marvel’s Spider-Man 2“ ist seit dem 20. Oktober 2023 exklusiv für Sonys PlayStation 5 erhältlich.
Abb. © Insomniac Games/Marvel
Marvel’s Spider-Man 2 • Insomniac Games • Third-Person Adventure
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