30. April 2015 4 Likes

Das Gernsback-Kontinuum

William Gibsons wegweisende Story gibt es jetzt exklusiv und kostenlos auf diezukunft.de zu lesen

Lesezeit: 19 min.

Kaum ein Autor kann von sich behaupten, gleich zwei Genres maßgeblich beeinflusst oder gar gänzlich ins Leben gerufen zu haben. Der Wahlkanadier William Gibson allerdings ist ein solcher Autor: Zusammen mit Bruce Sterling schrieb er den Roman „Die Differenzmaschine“ (im Shop) und begründete damit den Steampunk. Zuvor hatte er bereits mit seinem Debütroman „Neuromancer“ (im Shop) dafür gesorgt, dass Cyberpunk zu einem der zentralen Begriffe in der Science-Fiction der Achtzigerjahre wurde. William Gibson: Das Gernsback-KontinuumVirtuelle und körperliche Realitäten, die einander überlappen, sodass sie nicht immer klar zu unterscheiden sind, und Menschen, Datenkuriere, Hacker und Killer, deren Körper und Gehirne technisch aufgemotzt wurden, um mit dieser Situation zurechtzukommen, bevölkern seine Romane ebenso wie seine Kurzgeschichten. Sie sind erste Annäherungen an die Welt von „Neuromancer“, teilweise vor dem Roman entstanden, und liegen jetzt als E-Book einzeln oder in dem Sammelband „Cyberspace“ (im Shop) vor.

Eine davon ist „Das Gernsback-Kontinuum“ (hier als Text, im Shop als kostenloses E-Book). Sie spielt ebenfalls mit verschiedenen Schichten der Realität, die wir wahrnehmen, aber auf eine ganz andere Weise, ohne Computer und VR-Brillen. Ein Fotograf entdeckt eines Tages eine Version des Jahres 1980, die es so nie gegeben hat …

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Das Gernsback-Kontinuum
 

Zum Glück verblasst die Sache allmählich, nimmt episodenhafte Züge an. Wenn ich doch noch seltsame Dinge sehe, dann nur peripher; bloße Fragmente am Rande des Blickfelds, wie die Chromobjekte in den Labors wahnsinniger Wissenschaftler in alten Hollywoodfilmen. Da war letzte Woche dieses Nurflügelflugzeug über San Francisco, aber das war beinahe durchsichtig. Auch die Haifischflossenroadster sind seltener geworden, und die Autobahnen verzichten taktvollerweise darauf, sich zu jenen schimmernden achtzigspurigen Ungetümen aufzufächern, die ich letzten Monat mit meinem gemieteten Toyota befahren musste. Und ich weiß, dass nichts von all dem mich nach New York verfolgen wird; meine Sicht der Dinge reduziert sich auf eine einzige Wellenlänge der Wahrscheinlichkeit. Daran habe ich hart gearbeitet. Fernsehen hat sehr geholfen.

Ich glaube, es begann in London, in einer dieser pseudo-griechischen Tavernen an der Battersea Park Road, bei einem Mittagessen, das Cohen von seinem Spesenkonto bezahlte. Totgekochter Fraß von der Warmhaltetheke, und es dauerte eine halbe Stunde, bis sie einen Eiskübel für den Retsina aufgetrieben hatten. Cohen arbeitet bei Barris-Watford, die große, schicke Paperbacks über Gebrauchskunst herausbringen: die illustrierte Geschichte der Leuchtreklame, des Flipperautomaten, des japanischen Aufziehspielzeugs zu Besatzungszeiten. Ich war rübergeflogen, um Werbefotos für Schuhe zu schießen; kalifornische Girls mit braunen Beinen und lustigen bunten Joggingschuhen hatten für mich auf den Rolltreppen von St. Johnʼs Wood und den Bahnsteigen von Tooting Bec posiert. Eine kleine, hungrige, junge Agentur war zu dem Schluss gekommen, das geheimnisvolle Londoner Nahverkehrssystem werde Nylonlaufschuhe mit Waffelsohlen verkaufen. Sie entscheiden; ich schieße die Bilder. Und Cohen, ein flüchtiger Bekannter aus alten New Yorker Zeiten, lud mich am Vortag meines Abflugs von Heathrow zum Essen ein. Er brachte eine sehr modisch gekleidete junge Dame namens Dialta Downes mit, die buchstäblich kinnlos und offenbar eine bekannte Pop-art-Historikerin war. Im Rückblick sehe ich sie neben Cohen hereinspazieren; eine blinkende Leuchtschrift schwebt über ihr, die in riesigen Druckbuchstaben this way lies madness verkündet.

Cohen machte uns bekannt und erklärte, Dialta arbeite federführend am neuesten Barris-Watford-Projekt, einer illustrierten Geschichte der „Amerikanischen Stromlinien-Moderne“, wie sie es nannte. Cohen sprach von „Strahlenpistolenbarock“. Ihr Arbeitstitel war Die windschlüpfrige Futuropolis: das Morgen, das nie kam.

Die Briten sind besessen von den barocken Elementen der amerikanischen Popkultur, vergleichbar mit dem abgedrehten Cowboy-und-Indianer-Fetischismus der Westdeutschen oder der spleenigen Vorliebe der Franzosen für alte Jerry-Lewis-Filme. Bei Dialta Downes manifestierte sich das als Begeisterung für eine rein amerikanische Architekturform, die den meisten Amerikanern gar nicht auffällt. Zunächst war ich mir nicht ganz sicher, was sie überhaupt meinte, aber allmählich dämmerte es mir. Ich erinnerte mich mit einemmal ans Sonntagvormittagsprogramm des Fernsehens in den Fünfzigern.

Der Lokalsender hatte manchmal alte Nachrichtensendungen als Lückenfüller gebracht. Da saß man mit seinem Erdnussbuttersandwich und einem Glas Milch, und ein von atmosphärischem Rauschen unterlegter Hollywood-Bariton erzählte von einem Fliegenden Auto der Zukunft. Dazu werkelten drei Detroiter Ingenieure an einem großen alten Nash mit Flügeln herum, und man sah das Ding über eine leere Startbahn in Michigan rasen. Man sah es zwar nie abheben, aber trotzdem flog es schnurstracks in Dialta Downesʼ Nimmerland, die wahre Heimat einer ganzen Generation völlig enthemmter Technophiler. Sie redete von den Überbleibseln der „futuristischen“ Architektur der dreißiger und vierziger Jahre, an denen man in den amerikanischen Städten täglich achtlos vorübergeht: von gerippten Kinomarkisen, die angeblich eine geheimnisvolle Energie ausstrahlen; von den geriffelten Aluverblendungen der Ramschläden; von verchromten Stahlrohrstühlen, die in den Foyers kurzlebiger Hotels verstauben. Sie betrachtete diese Dinge als Teile einer Traumwelt, denen man in der gleichgültigen Gegenwart keine Beachtung mehr schenkte; und ich sollte sie für sie ablichten.

In den Dreißigern trat die erste Generation amerikanischer Industriedesigner auf den Plan. Bis Anfang der Dreißiger hatten alle Bleistiftspitzer wie Bleistiftspitzer ausgesehen – im Prinzip die elementare viktorianische Vorrichtung, allenfalls mit ein paar Schnörkeln verziert. Nach dem Auftreten der Designer sah mancher Bleistiftspitzer aus wie im Windkanal getestet. Dabei waren die Veränderungen meist nur oberflächlich; unter der stromlinienförmigen Chromhülle fand sich der alte viktorianische Mechanismus. Was nicht weiter verwunderlich war, da die erfolgreichsten amerikanischen Designer sich aus den Reihen der Bühnenbildner am Broadway rekrutierten. Alles war Kulisse, aufwendiges Bühnenbild für das spielerische Erleben der Zukunft.

Beim Kaffee zog Cohen ein dickes braunes Kuvert voller Hochglanzbilder hervor. Ich sah die geflügelten Statuen, die über den Hoover-Damm wachen, zwölf Meter große Kühlerfiguren aus Beton, die sich standhaft gegen einen imaginären Hurrikan stemmen. Ich sah ein Dutzend Aufnahmen von Frank Lloyd Wrights Johnsons Wax Building neben Titelbildern alter Amazing-Stories-Hefte, die ein gewisser Frank R. Paul gemalt hatte. Die Angestellten von Johnsonʼs Wax mussten das Gefühl gehabt haben, in einer von Pauls Pulp-Utopien aus der Sprühdose herumzulaufen. Wrights Gebäude schien wie geschaffen für Menschen in weißen Togen und Lucite-Sandalen. Schließlich blieb ich an der Skizze einer besonders grandiosen, nur aus Flügeln bestehenden Propellermaschine hängen; sie glich einem riesigen, symmetrischen Bumerang mit Fenstern an unwahrscheinlichen Stellen. Pfeile bezeichneten die Lage des Großen Ballsaals und der beiden Squash Courts. Als Jahreszahl war 1936 angegeben.

„Dieses Ding ist doch nie im Leben geflogen, oder?“ Ich sah Dialta Downes an.

„O nein, ausgeschlossen, nicht mal mit den zwölf riesigen Propellern. Aber es sah doch toll aus, finden Sie nicht? New York-London in weniger als zwei Tagen, erstklassige Bordrestaurants, Einzelkabinen, Sonnendecks, abends Jazzmusik und Tanz … Die Designer waren nämlich Populisten. Sie versuchten, den Leuten zu geben, was sie wollten. Und die Leute wollten Zukunft.“

Ich war seit drei Tagen in Burbank und mühte mich damit ab, einer wahrhaft trüben Tasse von einem Rockmusiker Charisma zu verleihen, als ich Cohens Päckchen bekam. Es ist möglich, etwas Nichtvorhandenes zu fotografieren; es ist allerdings verdammt schwierig und erfordert daher ein Talent, das sich sehr gut in klingende Münze umsetzen lässt. Obwohl ich in der Beziehung nicht schlecht bin, ist es auch nicht direkt meine Stärke, und der arme Kerl strapazierte die Glaubwürdigkeit meiner Nikon. Schließlich gab ich es auf. Ich war frustriert, denn ich liefere gern gute Arbeit ab, aber der Frust hielt sich in Grenzen, da ich den Scheck für den Auftrag schon in der Tasche hatte. Ich wollte mich an dem künstlerisch anspruchsvollen Barris-Watford-Projekt wieder aufrichten. Cohen hatte mir einige Bücher über das Design der dreißiger Jahre, weitere Fotos von stromlinienförmigen Bauwerken und eine Liste mit Dialta Downesʼ fünfzig Lieblingsbeispielen dieses Stils in Kalifornien geschickt.

Architekturaufnahmen können zeitraubend sein; das Gebäude wird quasi zur Sonnenuhr, während man darauf wartet, dass der Schatten von einem Detail weicht, das man festhalten möchte, oder darauf, dass die harmonische Gesamtheit der Struktur auf bestimmte Weise sichtbar wird. Während ich wartete, versetzte ich mich in Dialta Downesʼ Amerika hinein. Als ich einige der Fabrikgebäude auf der Mattscheibe der Hasselblad isolierte, strahlten sie eine finstere, totalitäre Erhabenheit aus, wie die von Albert Speer für Hitler gebauten Stadien. Aber der Rest erwies sich als erbarmungslos ordinär: kurzlebiges Zeug, das vom kollektiven amerikanischen Unterbewusstsein der Dreißiger ausgestoßen worden war und vornehmlich entlang schäbiger, von staubigen Hotels, Matratzenmärkten und kleinen Gebrauchtwagenhändlern gesäumter Straßenzüge überlebt hatte. Mit den Tankstellen gab ich mir besondere Mühe.

Auf dem Höhepunkt der Downes-Ära hatten sie Ming dem Gnadenlosen die Gestaltung der kalifornischen Tankstellen überlassen. Ming, ein glühender Verfechter seiner heimatlichen mongolischen Architektur, fuhr die Küste auf und ab und errichtete utopisch anmutende Strahlengeschützstellungen in weißem Stuck. Viele wiesen überflüssige Türme mit seltsamen, tellerförmigen Verzierungen auf, die wie Kühlrippen aussahen. Sie wurden zu einem typischen Merkmal dieses Baustils und erweckten den Eindruck, die Konstruktionen würden gewaltige technische Begeisterungsstürme auslösen, wenn man nur den Einschaltknopf fände. Ich fotografierte eine in San Jose, eine Stunde bevor die Planierraupen kamen und die Fassade aus Gips, Latten und billigem Beton niederwalzten.

„Betrachten Sie es als eine Art alternatives Amerika“, hatte Dialta Downes gesagt. „Ein 1980, das es nie gab. Eine Architektur der zerstörten Träume.“

Mit dieser Einstellung fuhr ich also in meinem roten Toyota die Stationen ihres verschlungenen sozioarchitektonischen Kreuzweges ab und stimmte mich langsam auf ihre Vorstellung von einem schattenhaften Amerika ein, das es nie gegeben hatte, von Coca-Cola-Fabriken, die wie gestrandete U-Boote aussahen, und von Provinzkinos wie Tempeln einer untergegangenen Sekte, die blaue Spiegel und geometrische Formen angebetet hatte. Auf meinem Weg von einer heimlichen Ruine zur nächsten fragte ich mich, was die Bewohner dieser abhanden gekommenen Zukunft wohl von der Welt halten würden, in der ich lebte. Die dreißiger Jahre hatten von weißem Marmor und schnittigem Chrom geträumt, von unvergänglichem Kristall und brünierter Bronze, aber die Raketen auf den Titelseiten der Gernsbackʼschen Pulps* waren in tiefster Nacht heulend auf London gefallen. Nach dem Krieg hatte jeder ein Auto – ohne Flügel dran – und freie Fahrt auf der versprochenen Superautobahn, so dass der Himmel selbst sich verfinsterte und die Auspuffgase den Marmor zerfraßen und am Wunderkristall nagten …

Und als ich mich eines Tages am Rand von Bolinas darauf vorbereitete, ein besonders opulentes Beispiel von Mings martialischer Architektur im Bild festzuhalten, durchstieß ich eine feine Membran, eine Wahrscheinlichkeitsmembran …

Ganz sachte überschritt ich die Grenze …

Und ich blickte auf und sah ein zwölfmotoriges Gebilde, das einem aufgeblähten Bumerang glich und nur aus Flügeln bestand. Mit elefantenhafter Anmut flog es nach Osten, so tief, dass ich die Nieten in der matten, silbernen Hülle erkennen konnte. Womöglich hörte ich sogar ein jazziges Echo.

Ich konfrontierte Kihn damit.

Merv Kihn, freier Journalist mit ausgeprägtem Interesse an texanischen Flugsauriern, UFO-Sichtern vom Lande, drittklassigen Loch-Ness-Monstern und den zehn beliebtesten Verschwörungstheorien in den schrulligeren Winkeln des amerikanischen Massenbewusstseins.

„Das ist gut.“ Kihn putzte seine gelbe Polaroid-Schützenbrille mit dem Saum seines Hawaiihemds. „Aber nicht schräg genug; da fehlt so ʼn gewisser Kick.“

„Aber ich habʼs gesehn, Mervin.“ Wir saßen unter der strahlenden Sonne Arizonas am Pool. Er wartete in Tucson auf eine Gruppe pensionierter Beamter aus Las Vegas, deren Anführerin durch ihren Mikrowellenherd Botschaften von irgendwelchen „Wesen“ erhielt. Ich war die ganze Nacht durchgefahren und fühlte mich entsprechend.

„Natürlich. Natürlich hast duʼs gesehn. Du hast meine Sachen gelesen; hast du denn meine grundlegende Lösung des UFO-Problems nicht kapiert? Es ist schlicht und einfach so:“ – er platzierte die Brille sorgfältig auf seiner langen Hakennase und fixierte mich mit seinem besten Basiliskenblick – „Leute … sehen … Dinge. Sie sehen solche Dinge. Es ist nichts da, aber die Leute sehen es trotzdem. Muss wohl ein innerer Zwang sein. Du hast Jung gelesen, du solltest wissen, was Sache ist. In deinem Fall liegt es auf der Hand: Du sagst doch selber, du hast über diese bescheuerte Architektur nachgedacht und rumphantasiert … und ich könnte wetten, dass du dir früher auch dein Teil an Drogen reingezogen hast, stimmtʼs? Wie viele Kalifornier haben die Sechziger ohne Halluzinationen überstanden? Denk nur an all die Nächte, in denen man zum Beispiel festgestellt hat, dass ganze Armeen Disneyscher Trickkünstler damit beschäftigt gewesen waren, einem animierte Hologramme ägyptischer Hieroglyphen in die Jeans zu weben, oder an die …“

„Aber so war das nicht.“

„Natürlich nicht. Es war ganz und gar nicht so; es war ‚vollkommen realistisch‘, nicht wahr? Alles war normal, und dann erscheint das Monster, das Mandala, die Neonzigarre. In deinem Fall ein riesiger Tom-Swift-Flieger. So was passiert andauernd. Du bist nicht mal verrückt. Das weißt du hoffentlich.“ Er angelte sich ein Bier aus der abgestoßenen Styropor-Kühlbox neben seinem Liegestuhl.

„Letzte Woche war ich in Virginia. Grayson County. Ich hab eine Sechzehnjährige interviewt, die von einem Bahnhoubt angefallen worden war.“

„Von was?“

„Von einem Bärenhaupt. Einem abgetrennten Bärenkopf. Dieses Bahnhoubt – ehrlich, so reden die da drüben – schwirrte mit seiner kleinen fliegenden Untertasse rum, die aussah wie ʼne alte Caddy-Radkappe. Es hatte rotglühende Augen, wie zwei Zigarrenstummel, und verchromte Teleskopantennen, die hinter den Ohren aufragten.“ Er rülpste.

„Und es ist über sie hergefallen? Wie?“

„Das ist nichts für empfindsame Gemüter wie dich. ‚Es war kalt‘“ – er verfiel wieder in den starken Südstaaten-Akzent – „‚und metallisch‘. Hat elektronische Geräusche gemacht. Das ist der wahre Stoff, das kommt geradewegs aus dem kollektiven Unbewussten, mein Freund; das Mädel ist ʼne Hexe. Für die gibtʼs in unserer Gesellschaft keinen Platz. Ihr wäre der Teufel erschienen, wenn sie nicht mit The Bionic Man und all diesen Star Trek-Wiederholungen groß geworden wäre. Das Zeug hat sie im Blut. Und sie weiß es auch. Gleich nachdem ich weg war, sind die strammen UFO-Jungs mit dem Lügendetektor aufgetaucht.“

Ich muss ein gequältes Gesicht gemacht haben, denn er stellte sein Bier vorsichtig neben der Kühlbox ab und setzte sich auf.

„Wenn du eine klassische Erklärung hören willst, dann würde ich sagen, du hast einen semiotischen Spuk gesehen. Zum Beispiel sind all diese UFO-Geschichten in eine Science-Fiction-Bildwelt eingebettet, von der unsere Kultur durchdrungen ist. Aliens würde ich dir vielleicht abkaufen, aber keine Aliens, die aussehen wie in den Comics der Fünfziger. Das sind semiotische Phantome aus dem tief verwurzelten Gedankengut unserer Kultur, die sich irgendwie abgelöst und ein Eigenleben entwickelt haben, so wie Jules Vernes Luftschiffe, die früher immer von diesen Farmern in Kansas gesichtet wurden. Du hast eine andere Art von Spuk gesehen, aber das ist auch schon alles. Dieses Flugzeug war mal Bestandteil des kollektiven Unbewussten. Irgendwie bist du darauf gestoßen. Wichtig ist jetzt, dass du dir deshalb keine Sorgen machst.“

Ich machte mir aber Sorgen.

Kihn kämmte sich das schütter werdende blonde Haar und brach auf, um sich anzuhören, was die „Wesen“ derzeit per Mikrowelle verlauten ließen. Ich zog in meinem Zimmer die Vorhänge zu und legte mich in die klimatisierte Dunkelheit, um mir Sorgen zu machen. Beim Aufwachen machte ich mir immer noch Sorgen. Kihn hatte eine Nachricht für mich hinterlassen; er fliege mit einer Chartermaschine in den Norden, um einem Gerücht über Viehverstümmelungen nachzugehen („Stümmel“ nannte er sie; noch so eine journalistische Spezialität von ihm).

Ich aß etwas, duschte, schluckte eine bröselnde Appetitzüglerpille, die seit drei Jahren in der Schachtel mit meinem Rasierzeug herumlag, und machte mich auf den Rückweg nach Los Angeles.

Der Stoff begrenzte mein Blickfeld auf die Lichtkegel meines Toyota. Der Körper konnte fahren, sagte ich mir, solange der Verstand die Stellung hielt. Die Stellung hielt und die seltsame periphere Deko aus Amphetamin und Erschöpfung mied, die spektrale, leuchtende Flora, die auf nächtlichen Autobahnen im geistigen Augenwinkel wuchert. Aber der Geist hatte seine eigenen Ideen, und Kihns Meinung zu dem, was ich bereits meine „Sichtung“ nannte, kreiste unablässig auf einer engen, schiefen Bahn durch meinen Kopf. Semiotischer Spuk. Fragmente des Kollektivtraums, die im Fahrtwind vorüberhuschten. Irgendwie verstärkte diese Feedbackschleife den Appetitzügler, und die Speed-Flora entlang der Straße begann die Farben von Infrarot-Satellitenbildern anzunehmen; leuchtende Teilchen stoben im Windschatten des Toyota auseinander.

Ich fuhr an den Straßenrand, und ein halbes Dutzend Bierdosen wünschten mir blinkend gute Nacht, als ich die Scheinwerfer ausschaltete. Ich überlegte, wie spät es jetzt wohl in London war, und versuchte mir Dialta Downes beim Frühstück in ihrer Wohnung in Hampstead vorzustellen, eingerahmt von windschlüpfrigen Chromfigurinen und Büchern über die amerikanische Kultur.

Die Wüstennächte in diesem Land sind beeindruckend; der Mond ist einem näher. Ich betrachtete ihn lange Zeit und gab Kihn recht. Die Hauptsache war, dass ich mir keine Sorgen machte. Überall auf dem Kontinent sichteten Leute, die normaler waren, als ich es je sein wollte, tagtäglich Riesenvögel, Waldmonster und fliegende Ölraffinerien – sie sorgten dafür, dass Kinn Arbeit hatte und gut verdiente. Warum sollte ich mich darüber aufregen, ein populäres Phantasiegebilde aus den dreißiger Jahren über Bolinas gesehen zu haben? Ich beschloss zu schlafen; ich brauchte mir höchstens wegen Klapperschlangen und kannibalistischen Hippies Sorgen zu machen und war ansonsten sicher inmitten des sympathischen Straßenmülls aus dem mir vertrauten Kontinuum. Am nächsten Morgen wollte ich nach Nogales runterfahren und die alten Hurenhäuser knipsen. Das hatte ich mir schon seit Jahren vorgenommen. Die Wirkung des Appetitzüglers war abgeklungen.

Das Licht weckte mich. Dann hörte ich die Stimmen.

Das Licht kam von hinten und ließ Schatten durchs Wageninnere huschen. Die undeutlichen Stimmen – eine männlich, eine weiblich – unterhielten sich ruhig.

Mein Hals war steif, meine Augen kratzten in ihren Höhlen, und mein Bein, das am Lenkrad geruht hatte, war eingeschlafen. Ich tastete in der Hemdtasche nach meiner Brille und schaffte es schließlich, sie aufzusetzen.

Ich schaute mich um und sah die Stadt.

Die Bücher über die Architektur der Dreißiger lagen im Kofferraum; eins davon enthielt Skizzen einer idealisierten Stadt wie aus dem Film Was kommen wird, eine Art Metropolis hoch zwei, deren Türme die perfekten Architektenwolken durchstießen und über ihnen in Zeppelindocks und kühnen Neonspitzen endeten. Diese Stadt war ein maßstabsgetreues Modell derjenigen, die nun hinter mir aufragte. Turm reihte sich an Turm, eine strahlende Stufenpyramide, die sich zu einem goldenen, mit den verrückten Scheiben der Mingschen Tankstellen verzierten Tempelturm in der Mitte emporschwang. Man hätte das Empire State Building im kleinsten dieser Türme verstecken können. Zwischen den Türmen spannten sich kristallene Straßen, auf denen glatte, glänzende Gebilde wie Quecksilberperlen hin und her schossen. Der Himmel war voller Flugmaschinen: riesige Nurflügelflieger, kleine, wendige Silbergefährte (zuweilen hoben einzelne Quecksilbertropfen elegant von den Himmelsbrücken ab und gesellten sich zu dem Reigen hoch oben), kilometerlange Luftschiffe, schwebende, libellenartige Objekte, die sich als Tragschrauber entpuppten …

Ich schloss die Augen und drehte mich auf dem Sitz nach vorn. Als ich sie wieder öffnete, zwang ich mich, auf den Tacho zu blicken, auf den hellen Straßenstaub auf dem Armaturenbrett aus schwarzem Kunststoff, auf den überquellenden Ascher.

„Amphetaminpsychose“, sagte ich. Erneut schloss ich die Augen und öffnete sie wieder. Die Armaturen waren noch da, der Staub, die zerdrückten Filterkippen. Ohne den Kopf zu bewegen, schaltete ich behutsam die Scheinwerfer ein.

Und sah sie.

Sie waren blond. Sie standen neben ihrem Wagen, einer Aluminium-Avocado mit haifischartiger Steuerflosse in der Mitte und den glatten schwarzen Rädern eines Spielzeugautos. Er hatte den Arm um ihre Hüfte gelegt und deutete auf die Stadt. Sie waren ganz in Weiß gekleidet: wallende Gewänder, bloße Beine, makellos weiße Sommerschuhe. Mein Scheinwerferlicht schien ihnen nicht aufzufallen. Er sagte etwas Kluges, mit fester Stimme, sie nickte, und ich bekam es plötzlich mit der Angst zu tun, einer ganz neuen, anderen Angst. Logik und Vernunft standen nicht mehr zur Debatte; ich wusste irgendwie, dass die Stadt hinter mir Tucson war – ein Traum-Tucson, der kollektiven Sehnsucht einer Ära entsprungen. Dass es real war, völlig real. Aber die beiden vor mir lebten darin, und sie machten mir angst.

Sie waren die Kinder von Dialta Downesʼ 1980, das es nie gegeben hatte; sie waren die Erben des Traums. Sie waren weiß und blond, und wahrscheinlich hatten sie sogar blaue Augen. Sie waren Amerikaner. Dialtas Worten zufolge hatte die Zukunft zuerst Amerika erfasst, es jedoch schließlich hinter sich gelassen. Aber nicht hier, im Herzen des Traums. Hier war es immer so weitergegangen – mit der Logik des Traums, die nichts von Umweltverschmutzung wusste, nichts von den begrenzten Vorräten an fossilen Brennstoffen und nichts von Kriegen in fremden Ländern, die man verlieren konnte. Sie waren geschniegelt und gebügelt, glücklich und zufrieden mit sich und ihrer Welt. Und im Traum war es ihre Welt.

Hinter mir die erleuchtete Stadt: Suchscheinwerfer tasteten aus reinem Spaß an der Freude den Himmel ab. Ich stellte mir vor, wie sie die Plazas aus weißem Marmor bevölkerten, geordnet und aufmerksam, wie ihre Augen vor Begeisterung über die lichtdurchfluteten Straßen und die Silberwagen leuchteten.

Es war so unheilverkündend und schmalzig wie Hitlerjugendpropaganda.

Ich legte den Gang ein und fuhr langsam an, bis sie höchstens noch einen Meter von meiner Stoßstange entfernt waren. Sie hatten mich noch immer nicht bemerkt. Ich kurbelte die Scheibe herunter und hörte dem Mann zu. Seine Worte waren klangvoll und hohl wie das Werbegeschwätz in einer Handelskammerbroschüre, und ich wusste, dass er aus tiefster Überzeugung sprach.

„John“, hörte ich die Frau sagen, „wir haben vergessen, unsere Nahrungspillen zu nehmen.“ Sie drückte zwei helle Oblaten aus einem Gerät an ihrem Gürtel und reichte ihm eine. Ich setzte zurück, fuhr wieder auf die Straße und machte mich kopfschüttelnd auf den Weg nach Los Angeles.

Ich rief Kihn von einer Tankstelle aus an, einer neuen im schlecht adaptierten Stil der Spanischen Moderne. Er war von seinem Ausflug zurück, und mein Anruf schien ihn nicht zu stören.

„Tja, ganz schön abgedreht. Hast du versucht, Fotos zu machen? Die werden zwar nie was, aber es erhöht den Reiz der Geschichte, wenn die Negative leer bleiben …“

Aber was sollte ich jetzt tun?

„Sieh viel fern, vor allem Gameshows und Seifenopern. Geh ins Pornokino! Schon mal Nazi Love Motel gesehn? Gibtʼs hier im Kabel. ʼn echter Schweinefilm. Genau das, was du brauchst.“

Wovon redete er überhaupt?

„Hör auf zu zetern, und sperr die Ohren auf. Ich verrate dir ein Berufsgeheimnis: Richtig mieser Medienmurks kann dir den semiotischen Spuk austreiben. Wenn er mir das Untertassenvolk vom Leib hält, dann auch dir die ‚Art déco‘-Futuristen. Probierʼs mal. Was hast du schon zu verlieren?“

Dann entschuldigte er sich, weil er früh am Morgen einen Termin mit den Erwählten hätte.

„Mit wem?“

„Diesen Senioren aus Vegas; die mit der Mikrowelle.“

Ich überlegte, ob ich ein R-Gespräch nach London anmelden und Cohen bei Barris-Watford anrufen sollte, um mich zu einem längeren Aufenthalt in der Twilight Zone abzumelden. Schließlich ließ ich mir von einer Maschine eine wahrhaft widerwärtige Tasse schwarzen Kaffee brauen, kletterte wieder in den Toyota und fuhr nach Los Angeles.

Los Angeles war keine gute Idee. Es war Downes-Land in Reinkultur; zu viel vom Traum war da zu sehen, zu viele Fragmente des Traums, die mich in die Falle zu locken versuchten. An einer Überführung in der Nähe von Disneyland hätte ich beinahe den Wagen zu Schrott gefahren, als die Straße sich wie in einem Origami-Trick auffächerte, so dass ich über ein Dutzend schmaler Fahrbahnen kurvte, auf denen Chromtränen mit Haifischflossen umherdüsten. Noch schlimmer, Hollywood war voller Leute, die gar zu sehr an das Paar erinnerten, das ich in Arizona gesehen hatte. Ich heuerte einen italienischen Regisseur an, der auf seinen endgültigen Durchbruch wartete und sich mit Dunkelkammerarbeiten und der Installation von Markisen an Swimmingpools über Wasser hielt; er machte die Abzüge von den Negativen, die ich für den Downes-Job belichtet hatte. Ich selbst wollte das Zeug nicht sehen. Leonardo schien es aber nichts auszumachen, und als er fertig war, checkte ich die Abzüge, indem ich sie wie ein Kartenspiel durchblätterte, steckte sie in ein Kuvert und schickte sie per Luftpost nach London. Dann nahm ich ein Taxi zu einem Kino, in dem Nazi Love Motel lief, und hielt die Augen unterwegs fest geschlossen.

Cohens Glückwunschtelegramm wurde mir eine Woche später nach San Francisco nachgeschickt. Dialta sei von den Aufnahmen begeistert. Er bewundere, dass ich „so voll eingestiegen“ sei, und wolle gern wieder mit mir arbeiten. An jenem Nachmittag sah ich ein Nurflügelflugzeug über der Castro Street, aber es wirkte irgendwie verwässert, als wäre es nur halb da. Ich rannte zum nächsten Kiosk und nahm alles mit, was ich über die Ölkrise und die Gefahren der Kernenergie aufstöbern konnte. Ich hatte spontan beschlossen, mir ein Flugticket nach New York zu kaufen.

„Scheißwelt, in der wir leben, was?“ Der Zeitungsmann war ein schmächtiger Schwarzer mit schlechten Zähnen und unübersehbarem Toupet. Ich nickte und fischte Kleingeld aus meiner Jeans. Ich konnte es kaum erwarten, eine Parkbank zu finden, um mich in die knallharten Beweise für die Beinahe-Dystopie zu vertiefen, in der wir leben. „Aber sie könnte schlimmer sein, was?“

„Stimmt“, sagte ich. „Oder noch schlimmer, sie könnte perfekt sein.“

Er sah mir nach, als ich mit meinem kleinen Bündel verdichteter Katastrophen die Straße entlangging.

 

Titel der Originalausgabe: „The Gernsback Continuum“ · Aus dem Amerikanischen von Reinhard Heinz und Peter Robert

* Jeder wahre Science-Fiction-Fan kennt den Namen Hugo Gernsback. Der gebürtige Luxemburger, der eigentlich Gernsbach hieß, brachte ab 1926 in den USA Amazing Stories heraus, das erste reine SF-Magazin der Welt. Wegen ihrer schlechten Papierqualität wurden solche Magazine, die Abenteuer-, Horror- und Krimigeschichten brachten, „Pulps“ genannt (engl. für Papierbrei) – bei den Wahrern des höheren Kulturguts nach wie vor ein Synonym für „Schund“. Einer der international bekanntesten Literaturpreise im SF-Genre trägt heute Gernsback zu Ehren den Namen Hugo Award.
 

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William Gibson wurde 1948 in South Carolina geboren und studierte englische Sprache und Literatur an der University of British Columbia. In seinem ersten Roman „Neuromancer“, 1984 veröffentlicht und Auftakt der gleichnamigen Trilogie, erfindet er den Begriff „Cyberspace“ und revolutioniert damit die Literatur. „Neuromancer“ wurde mit dem Hugo-, dem Nebula- und dem Philip-K.-Dick-Award ausgezeichnet. Der Autor lebt mit seiner Familie in Vancouver.

Autorenfoto © Michael OʼShea 

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