20. März 2015 4 Likes

„Das Gift der Nacht“ von Ann Leckie

Eine kostenlose Kurzgeschichte aus dem Radchaai-Universum

Lesezeit: 28 min.

Mit ihrem Debütroman „Die Maschinen“ (im Shop) landete Ann Leckie auf Anhieb einen Bestseller, der 2014 (fast) alle Genre-Preise abräumte und einer der meistdiskutierten Romane dieses Jahres ist. Nicht nur die ungewöhnliche Heldin Breq fasziniert, auch das gewaltige und vielfältige Universum, die verschiedenen Spezies und ihre Kulturen, die Ann Leckie erschaffen hat, machen Laune auf mehr. Bis Band zwei der großartigen Zukunftssaga erscheint (auf den die Autorin im Interview einen klitzekleinen Ausblick gegeben hat), können wir jetzt einen Blick auf eine andere Kultur aus dem Radchaai-Universum werfen: „Das Gift der Nacht“ erzählt von einer langen Reise, die vor allem für eine der Wachen an Bord des Schiffes Juwel von Athat zur unangenehmen Konfrontation mit seiner Vergangenheit wird …

Wer „Das Gift der Nacht“ lieber auf dem Reader lesen möchte, kann sich die kostenlose Kurzgeschichte auch in unserem Shop herunterladen.

 

ANN LECKIE

Das Gift der Nacht

 

Ann Leckie: Das Gift der NachtDie Juwel von Athat war in erster Linie ein Frachtschiff, und die meisten Räume waren eng und vollgestopft. Wie auch in der Äußeren Station, an der sie angedockt hatte, gab es kaum Luxus, die Decks und Wände waren schäbig und abgenutzt. Bewaffnet und angemessen maskiert stand Inarakhat Kels im Durchgang, der von der Station ins Schiff führte, wo er soeben eine Passagierin abgewiesen hatte und nun auf den nächsten Reisenden wartete.

Der Mann näherte sich mit weiten Schritten, als würde der schmale Gang ihn nicht beengen. Er trug einen Kilt und eine bestickte Bluse. Seine Haut war hellbraun, das Haar dunkel und glatt und kurz geschnitten. Und seine Augen … Inarakhat Kels empfand Beschämung. Dabei hatte er gedacht, während seines jahrelangen Umgangs mit Außenseitern die Hemmung verloren zu haben, Fremden ins Gesicht zu blicken.

Der Mann schaute über die Schulter zurück und zog eine Augenbraue hoch. »Sie war recht wütend.« Seine Mundwinkel zuckten mit einem unterdrückten Grinsen.

»Man bedauert.« Hinter seiner Maske runzelte Inarakhat Kels die Stirn. »Wer?«

»Die Frau, die vor mir an der Reihe war. Sie haben ihr den Zugang zum Schiff verweigert haben, nicht wahr?«

»Sie war mit nicht deklarierten Kommunikationsimplantaten ausgestattet.« Insgeheim hegte Kels den Verdacht, dass es sich um eine Spionin der Radchaai gehandelt hatte, aber er sprach es nicht aus. »Natürlich tun einem die Unannehmlichkeiten leid, die ihr bereitet wurden, aber …«

​»Mir nicht«, unterbrach ihn der Mann. »Gestern hätte sie mir fast das Abendessen verdorben, als sie darauf bestand, dass ich ihr meinen Platz überlasse, weil sie davon überzeugt war, von höherer Kaste zu sein als ich.«

»Haben Sie es getan?«

»Nein«, erwiderte der Mann. »Weder bin ich von Xum, noch befinden wir uns auch nur in der Nähe ihrer Welt. Warum sollte ich mich also ihren Sitten unterwerfen? Und heute früh hat sie sich vor mir in die Reihe gedrängt, als wir draußen warteten.« Jetzt grinste er tatsächlich. »Ich gestehe, dass ich erleichtert bin, sie für die nächsten sechs Monate nicht als Mitreisende ertragen zu müssen.«

»Aha«, sagte Kels in unverbindlichem Tonfall. Das Grinsen des Mannes, die Form des Kiefers – plötzlich wurde ihm klar, warum er so emotional auf diese Augen reagierte. Doch jetzt war nicht die Zeit für alte Erinnerungen. Er konsultierte seine Liste. »Sie sind Awt Emnys aus der Gerentate.« Der Mann bestätigte es. »Der Grund für Ihren Besuch auf Ghaon?«

»Meine Großmutter war eine Ghaonish«, antwortete Awt Emnys. Sein zuvor amüsierter Blick war nüchtern geworden. »Ich habe sie nie kennengelernt, und niemand kann mir viel über sie erzählen. Ich hoffe, in Athat mehr zu erfahren.«

​Wer auch immer sie gewesen war, Kels war sich ziemlich sicher, dass sie der Ghem-Agnate entstammte. Die Augen, der Mund, der Kinnwinkel … Mit nur ein paar Informationen mehr hätte Kels dem Mann sagen können, in welchem Haus seine Großmutter geboren war. »Man wünscht Ihnen viel Glück bei Ihrer Suche, Ehrwürdiger Awt«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung, die er nicht unterdrücken konnte.

Awt Emnys antwortete mit einem Lächeln und verbeugte sich respektvoll. »Ich danke Ihnen, Ehrwürdiger«, sagte er. »Wie ich hörte, muss ich sämtliche Kommunikationsimplantate deaktivieren.«

»Wenn sie während der Reise reaktiviert werden, müssen wir alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit des Schiffs zu gewährleisten.«

Awt warf einen Blick auf die Waffe an Kels’ Hüfte. »Selbstverständlich. Aber ist es wirklich so gefährlich?«

»In etwa drei Monaten«, sagte Kels mit bemüht ausdrucksloser Stimme, »werden wir das letzte Schiff passieren, das versucht hat, den Kriechraum mit aktivierten Kommunikationseinrichtungen zu durchqueren. Es wird von der Passagierlounge aus zu sehen sein.«

Awt grinste. »Ich hege den innigen Wunsch, in hohem Alter in meinem Bett zu sterben. Vorzugsweise nach einem langen und langweiligen Leben, das ich mit dem Verwalten von Lagerbeständen verbracht habe.«

Kels gestattete sich den Ansatz eines Lächelns. »Man wünscht Ihnen Erfolg«, sagte er und trat zur Seite. Er drückte sich gegen die Wand, damit Awt passieren konnte. »Ihr Gepäck wird in Ihre Kabine gebracht.«

»Ich danke Ihnen, Ehrwürdiger.« Awt streifte Kels im Vorbeigehen und löste dabei eine ungewohnte Gefühlsregung aus.

»Gute Reise«, murmelte Kels dem Rücken des Mannes zu, aber Awt ließ nicht erkennen, ob er die Worte gehört hatte.

*

Ghaon ist ein mondloses blau-weißes Juwel, das eine gelbe Sonne umkreist. Auf den drei Kontinenten findet sich jede Art von Landschaft, von den großen Wüsten auf dem südlichen Lysire und dem von Flüssen durchzogenen Ackerland im Norden und Westen desselben Kontinents bis zu den Bergen von Aneng, die nach wie vor gelegentlich Rauch ausstoßen. Arim, der dritte Kontinent, ist arktisch und unbewohnt. Abgesehen von der üblichen Industrie und Landwirtschaft, die wie auf jeder Welt die Bevölkerung mit Gütern versorgt, ist Ghaon für seine Perlen und kunstvoll geschnitzten Korallen bekannt, die hoch gehandelt werden, wenn sie den Weg durch den Kriechraum nach draußen finden. Flöten, die aus dem Holz der Wälder im Westen von Aneng geschnitzt werden, erzielen hohe Preise bei Musikern der Gerentate.

Der Legende zufolge kamen die ersten Bewohner von Ghaon von einer Welt namens Walkaway, deren Position unbekannt ist. Es gab dreizehn ursprüngliche Siedler, drei Agnaten mit je vier Angehörigen sowie ein Eunuchenpriester des Iraon. Die drei Agnaten teilten die Welt unter sich auf: Lysire, Aneng und die Meeresoberfläche. Der Priester segnete die Parzellierung, und jede Agnate florierte und besiedelte die Welt.

Das ist natürlich nur die Legende. Dreizehn Personen können unmöglich die nötige genetische Diversität besitzen, um einen Planeten zu bevölkern. Außerdem haben Untersuchungen ergeben, dass die ersten menschlichen Bewohner von Ghaon, deren Nachkommen sich auf Lysire und Aneng ausbreiteten, überwiegend von denselben Populationen abstammen, deren Nachkommen auch den Großteil der Gerentate ausmachten. Die Vorfahren der seefahrenden Agnaten trafen mehrere tausend Jahre später ein, und ihre Ursprünge liegen im Dunkeln.

Jedenfalls mussten die ersten Kolonisten vor ihrer Ankunft vom Kriechraum gewusst haben, sofern sie ihn nicht selbst errichteten. Letzteres erscheint jedoch äußerst unwahrscheinlich.

Die Gerentate hatte Ghaon erst einige Jahre nach ihrer Expansionsphase entdeckt, und so bestand die einzige Bedrohung, die jetzt noch von ihren Kundschaftern ausging, in schlecht erzogenen Touristen mit nackten Gesichtern.

Doch mit der Radch war das etwas anderes. Jede Seele auf Ghaon, vom kleinsten Baby an der Mutterbrust bis zur ältesten lysirischen Matriarchin in ihrem Zelt am Rand der Trockensteppe, war davon überzeugt, dass der ruchlose Anaander Mianaai, das Oberhaupt der Radch, ein begehrliches Auge auf Ghaon geworfen hatte und überlegte, wie er sich diese Welt aneignen könnte.

Doch zum Glück konnten die Schiffe und scheinbar endlosen Armeen der Radch, die Tausende von Planeten und Stationen zu Fall gebracht hatten, den Kriechraum nicht durchqueren. Nur dieser stand zwischen Ghaon und den Radchaai. Diese Barriere wurde regelmäßig von Spionen erkundet, dessen waren sich die Ghaonish sicher, und die habsüchtigen Radchaai planten und intrigierten unentwegt, wie sie am besten zu durchbrechen wäre.

Vergeblich wiesen vernünftigere Stimmen darauf hin, dass die Welten der Gerentate ein größeres und in mancher Hinsicht leichteres Ziel wären, dass die Belohnung für die Überwindung des Kriechraums bei Weitem von der Schwierigkeit eines solchen Unterfangens übertroffen wurde, dass die Rachaai mit ihren weitreichenden Ambitionen kaum diese eine kleine und recht unbedeutende Welt bemerkt haben konnten. Die Bewohner von Ghaon trauten diesen Argumenten nicht. Das Oberhaupt der Radch hatte es sich in den Kopf gesetzt, Ghaon zu erobern – davon waren die Ghaonish überzeugt.

*

Die dritte Wache hatte gerade Dienst, stand vor der Pilotenstation auf Posten und patrouillierte die Korridore der Juwel von Athat. Die erste Wache schlief. Die zweite Wache hatte soeben das Abendessen beendet, und auf dem kleinen Tisch standen noch die Teetassen und Brotreste. Inarakhat Kels beugte sich vor, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Ninan und Tris, seine Kollegen von der zweiten Wache, lehnten sich gegen die Wand.

»Eine Spionin!«, sagte Ninan und bemühte sich, nicht eifersüchtig zu klingen. »Es wurde auch langsam Zeit, dass es wieder jemand versucht.« Er stellte einen Ellbogen neben dem von Kels auf den Tisch und rückte vertraulich näher.

»Wie kommt es«, fragte Tris, »dass ihre Versuche so offensichtlich sind, obwohl die Radchaai so reich und mächtig sind?«

»Sie sind von Natur aus pervers.« Ninan hob eine Teetasse auf und betrachtete den Inhalt.

»So meint man«, sagte Kels. »Jedenfalls muss Anaander Mianaai nach einer anderen Möglichkeit suchen, den Kriechraum zu durchqueren.«

Tris grinste, und seine Zähne wurden unter der Maske sichtbar, die seine obere Gesichtshälfte verdeckte. »Und die anderen? Worauf dürfen wir uns diesmal freuen?«

»Chis Sulca«, sagte Kels. Er lehnte sich zurück, da er sich von Ninan bedrängt fühlte. Sie kannten die Händlerin von Ghaon von früheren Reisen. »Und ein paar andere.« Er dachte an Awt Emnys. »Die üblichen Verdächtigen. Ein Tourist von Semblance.« Ninan und Tris stießen Laute der Verachtung aus. »Eine Clanfrau von Faunt auf Wanderschaft. Ein junger Mann aus der Gerentate.«

»Ebenfalls ein Tourist«, stöhnte Ninan.

»Nein!«, sagte Tris halb lachend. »Mit ihm habe ich gesprochen. Er ist auf der Suche nach seiner Ghaonish-Großmutter.«

Ninan lachte. »Was nützt es ihm, wenn er herausfindet, dass irgendeine Ausreißerin oder Hure seine Vorfahrin war?«

»Wer auch immer sie war, ihr Enkel hat Geld und Zeit, seiner Neugier nachzugehen«, sagte Kels verletzt.

Ninan schüttelte missbilligend den Kopf. »Er hofft sicher, eine uralte, noble Agnate zu finden, deren Matriarchin ihn als ihren Cousin anerkennt.«

Tris nickte. »Er wird sich eine überteuerte, geschmacklose Maske an die Wand hängen und vor seinen Nachbarn mit seiner exotischen und aristokratischen Abstammung prahlen.«

»Und wenn sein Blut tatsächlich aristokratisch ist?«, fragte Kels, der etwas wusste, was die anderen nicht wussten. Die Ghem-Agnate gehörte zu den ältesten und angesehensten Familien. Er beugte sich vor und goss sich noch etwas Tee ein.

»Das spielt kaum eine Rolle«, sagte Ninan. »Keine Agnate wäre begeistert, wenn ein bloßgesichtiger Grobian auf ihrer Türschwelle steht.«

Unter der Maske kniff Kels die Augen zusammen. »Man kann ihm die Sitten seines Volkes nicht zum Vorwurf machen«, sagte er mit möglichst gleichmäßiger Stimme.

Ninan wandte sich ihm zu und musterte ihn genauer. »Zweifellos.«

»Es war ein langer Tag«, sagte Tris versöhnlich. »Und Inarakhat hat ihn damit verbracht, sich mit Passagieren auseinanderzusetzen. Doch jetzt werden wir uns ausruhen, zumindest bis zum morgigen Tag.«

»Und es wird ein langweiliger Tag werden«, sagte Ninan. »Iraon sei Dank.«

»Iraon sei Dank«, pflichteten Tris und Kels ihm einstimmig bei.

*

Ghem Echend war das allerschönste Mädchen, das Inarakhat Kels jemals gesehen hatte. Ihr Mund war fest und voll, ihre Haut hatte einen warmen dunkelbraunen Ton. Ihre Hände waren gerade, stark und anmutig, genauso wie all ihre Bewegungen. Wenn Echend nur den Mund aufmachte, schien sie zu lachen. Am schönsten aber waren ihre Augen, groß und grau und leuchtend. Der Mode, die Augen gänzlich zu bedecken, war sie nie gefolgt. Sie wagte sich sogar bis zur äußersten Grenze des Akzeptablen, indem sie Masken wählte, die ihre Augen so weit wie möglich freiließen und zusätzlich betonten.

Sie hatte ihn auf einem moosbewachsenen Hang am Fluss geküsst. Die Sommersterne standen dicht und silbern am Himmel, keine anderen Lichter außer denen der Stadt unter ihnen und der vorbeifahrenden Schiffe mit den farbigen Laternen an den Masten, rot und blau und grün und golden. Sie schmeckte nach Blumen. Ihm war, als würde sein Herz stehenbleiben und alles außer ihr aus seinem Bewusstsein entschwinden. Er hob eine Hand, um ihre Wange zu berühren, war selbst erstaunt über seinen Wagemut. Sie küsste ihn erneut, was er als Zustimmung auffasste, sodass er zaghaft einen Finger an den unteren Rand ihrer Maske legte.

Mit beiden Händen stieß sie heftig gegen seine Brust, dann fand er sich auf dem Rücken im weichen Moos liegend wieder, nur die Sterne in seinem Blickfeld. »Noch nicht«, sagte sie und rannte lachend fort.

Vor Glück konnte er kaum atmen. Noch nicht!

Niemals.

Sechs Monate später war das Ausmaß der Verschuldung seiner Agnate offenbar geworden, genauso wie die Bemühungen seiner Tanten, ihren Lebensstil beizubehalten, der schon seit einiger Zeit ihre Mittel überstiegen hatte.

Als der erwartete Brief, in Rot und Gold versiegelt, eingetroffen war, hatte er nicht etwa eine Einladung zur Heirat enthalten, sondern ein paar knappe Zeilen, die ihm mitteilten, dass gewisse Erwartungen, die möglicherweise geweckt worden waren, völlig unbegründet seien, und dass es das Beste wäre, wenn er sich dessen bewusst würde. Das Schreiben kam nicht von Echend, sondern von der Matriarchin ihrer Agnate.

Er hatte eine einzige Garnitur Kleidung in einen Sack gestopft und war zu den Docks hinuntergegangen, mit der Absicht, dem nächstbesten Schiff seine Dienste anzubieten, wenn es ihn nur so weit wie möglich von Athat fortbrachte. Doch niemand wollte ihn dort haben, sodass er sich auf den Weg zur regionalen Arbeitsvermittlung machte, wo der diensthabende Beamte ihn als geeigneten Kandidaten für die Wache von Ghaon  einstufte. Am nächsten Morgen befand er sich an Bord eines Shuttles, das zur Orbitalstation unterwegs war. Seitdem hatte er Ghaon nicht wiedergesehen.

*

Der Kriechraum ist weder optisch noch mit allen bislang entwickelten Scannern wahrzunehmen. Aber er ist unabweisbar vorhanden. Seine äußeren Grenzen sind von Schiffswracks übersät, deren Kapitäne die Warnungen nicht glauben wollten. Manchmal sind es äußerlich intakte Schiffe ohne Anzeichen von Beschädigungen, nur dass sie ziellos dahintreiben. Andere sind Ansammlungen von Fragmenten, die auf unheimliche Weise im Licht der Warnleuchtfeuer schimmern, die in regelmäßigen Abständen am Rand des Kriechraums installiert wurden. Gelegentlich stößt ein Schiff, das den Kriechraum durchquert, auf eine menschliche Leiche, die starr und gefroren im Vakuum rotiert.

Um den Flug durch den Kriechraum zu überleben, muss sich ein Schiff langsam bewegen. Die Reise dauert fast sechs Monate, wohingegen eine solche Strecke in anderen Systemen innerhalb von Stunden bewältigt werden kann. Und es ist allgemein bekannt, dass die Benutzung von Kommunikationstechnik innerhalb des Kriechraums katastrophale Folgen haben kann.

Weniger bekannt ist, dass sich der Kriechraum nur auf bestimmten Routen sicher durchqueren lässt, die von den Ghaonish weder dokumentiert noch auf irgendeine Weise markiert wurden. Um ihren einzigen Schutz zu bewahren, legen sie größten Wert darauf, dass das Wissen darüber ausschließlich in den Köpfen der Piloten gespeichert ist, die für diese Routen autorisiert sind. Die Wache von Ghaon wurde nicht nur gegründet, um Spione von den Schiffen fernzuhalten und die Einhaltung des Kommunikationsverbots zu überwachen, sondern auch, um jeden Kontakt zu den Piloten zu unterbinden.

*

Die Lounge auf dem zweiten Deck war klein und eng, nur ein paar Tische und Stühle säumten die Wand gegenüber den Aussichtsfenstern. Zwei Reisende, der eine in das farbenfrohe drapierte Gewand gekleidet, das typisch für die Welt Semblance war, die andere mit bloßer Brust und ockerfarbenem Rock, saßen an einem Tisch über ein Counters-Brett gebeugt. Mit schnellen Bewegungen nahmen sie Spielsteine aus den Vertiefungen und verteilten sie neu, nur alle paar Züge wechselten sie ein Wort. Am anderen Ende des Raumes stand Awt Emnys und blickte hinaus in die Leere. Sein Gesicht befand sich im Schatten, für Kels eine Erleichterung und Enttäuschung zugleich.

Es waren die Augen von Ghem Echend. Er hätte sich nicht sicherer sein können, wenn ihm die zwei Genotypen präsentiert worden wären. Echend war nicht Awt Emnys’ Großmutter gewesen, aber mit Sicherheit hatte irgendeine Tante oder Cousine von ihr Ghaon verlassen und war in die Gerentate gegangen.

Wäre Kels die Ehe mit Echend eingegangen, hätte er Kinder gehabt. Oder seine Mit-Ehemänner, was auf das Gleiche hinausgelaufen wäre. Zum ersten Mal seit Jahren erlaubte er sich die Frage, wie das gewesen wäre. Einen kindlichen Awt konnte er sich nur schwer vorstellen, eher schon den dunkelhaarigen, grauäugigen Jungen … eine Erinnerung stieg in ihm auf, wie Kels und sein Vater (damals so groß und imposant!) Hand in Hand zum Flussufer hinuntergegangen waren, um die Ankunft der Schiffe zu beobachten.

Awt Emnys drehte den Kopf und verschob damit die Schatten. Er lächelte, als er Kels sah. »Sie schon wieder.«

»Man ist immer man selbst«, sagte Kels, seltsam beunruhigt von den Worten des jüngeren Mannes.

»Aber Sie sind nicht immer im Dienst«, sagte Awt und trat näher an Kels heran, der am anderen Ende der Reihe der Sichtfenster stand. »Sie alle tragen die gleiche Kleidung und die gleichen Masken, und ich bin mir nie ganz sicher, wer wer ist.« Er lächelte leicht und machte eine entschuldigende Geste. »Ich habe mit der Ehrwürdigen Händlerin Chis gesprochen«, sagte er, als würde sich das ganz natürlich aus seinen vorherigen Worten ergeben. »Sie ist äußerst liebenswürdig. Sie rät mir, die Suche nach meiner Vorfahrin aufzugeben und stattdessen ein Schiff zu mieten, um die Küstenstädte im Westen von Aneng zu besuchen, wo ich, wie sie mir versichert, die schönste und außergewöhnlichste Landschaft des ganzen bekannten Weltraums sehen werde. Ganz zu schweigen vom edelsten Arrak und den günstigsten Preisen für Zuchtperlen.«

»Aha«, sagte Kels mit leichter Verachtung. »Sie stammt aus dem Westen von Aneng und dürfte demzufolge voreingenommen sein. All das findet sich auch in der Nähe von Athat.«

Awt antwortete mit einem ironischen Lächeln. »Ich vermute, sie möchte mich daran hindern, die Agnate meiner Großmutter durch meine Existenz in Verlegenheit zu bringen. Aber Sie raten mir zu einer Rundreise in der Umgebung von Athat?«

»Auf jeden Fall.« Athat war die schönste Stadt auf Ghaon –  wie eine kunstvolle Maske breitete sie sich über die Mündung des Flusses aus. »Im Süden von Athat gibt es außerdem ein Waldreservat, das Sie vielleicht interessiert. Allerdings«, sagte er mit einem Stirnrunzeln, als er an Awts Gepäck dachte, »müssten Sie vermutlich die nötige Ausrüstung erwerben, falls Sie beabsichtigen, für längere Zeit dort zu bleiben.«

»Ich kampiere nur selten auf Welten, mit denen ich nicht bestens vertraut bin.«

»Zweifellos ein kluger Grundsatz. Es wäre nicht ratsam, es allein zu tun, nirgendwo auf Ghaon.«

»Und weswegen, Ehrwürdiger?«, fragte Awt.

»Wegen der Vondas.«

»Vondas?«

»Es gibt sie von sehr klein bis …« Kels legte die Hände zu einer weiten, flachen Schale zusammen. »… so groß. Ein Biss von den kleineren und häufigeren juckt ein paar Tage lang. Das Gift der größeren ist wesentlich stärker. Manche sind wegen der berauschenden Wirkung sogar sehr begehrt.« Er dachte an die Vonda-Bars in den nördlichen Stadtvierteln und stieß einen leisen, angewiderten Laut aus. »Es ist nicht zu empfehlen. Doch vor allem sollten Sie sich vor der Tee-Vonda in Acht nehmen.«

»Ist sie gefährlich?«

»Sie wird Tee-Vonda genannt, weil Ihnen nach dem Biss gerade noch genug Zeit bleibt, Tee zuzubereiten und eine Tasse zu trinken, bevor Sie sterben.«

Awt zog eine Augenbraue hoch. »Das ist vielleicht nicht das Klügste, womit man diese wenigen Minuten verbringen sollte. Sind Sie jemals einer begegnet?«

»Ich wurde gebissen«, sagte Kels. Damals war er fünfzehn gewesen, sein Onkel hatte auf dem Markt von Athat einen Korb Beeren gekauft und ihn auf einer Anrichte in der langen und schmalen Küche an der Rückseite des Hauses stehen lassen. Die Beeren waren zum Höhepunkt ihrer Reife geerntet worden, riesig und dunkelrot, und als Kels sie sah, griff er ohne nachzudenken zu. Seine Finger hatten kaum die Frucht berührt, als er auch schon einen eiskalten Stich spürte.

»Was haben Sie getan?«, fragte Awt Emnys. »Vermutlich kein Teewasser aufgesetzt.«

»Ich geriet in Panik«, gestand Kels. Im ersten Moment hatte er nur blinzelnd dagestanden und zu verstehen versucht, was geschehen war, während die Kälte durch seine Hand hinaufkroch. Dann registrierte sein Verstand, dass sich die Tee-Vonda an seiner Hand festgesetzt hatte, die beerenrot ausblutete. In der Mitte war die Vonda ganz weiß mit silbernen Streifen. Ihre dünne Haut kräuselte sich pulsierend, und die gewellten Ränder verfärbten sich rosa und schließlich rot, als sie ihren Rüssel tiefer in seine Hand bohrte. Während er zusah, wurde seine Hand taub, und das Eis kroch durch sein Handgelenk immer weiter auf den Ellbogen zu. Er wollte schreien, aber seine Kehle gab keinen Laut von sich. »Ich war wie gelähmt.«

»Was hätten Sie tun sollen?«, fragte Awt Emnys.

»Ich hätte das größte Messer in der Küche nehmen und mir die Hand abschneiden sollten.« Und dieser Gedanke war ihm auch gekommen. Er war durch den langen Raum gegangen, um den Schrank zu öffnen und ein Messer herauszunehmen, mit schwerem Griff und einer Klinge, die sieben Zentimeter breit und vierzig lang war. Dann hatte er dagestanden, unfähig zu tun, was getan werden musste. Kein klarer Gedanke löste sich aus dem Strudel der Furcht und Panik in seinem Kopf. Schließlich kam seine Schwester in die Küche. Sie stürzte auf ihn zu, riss ihm das Messer aus der Hand und stieß ihn gegen die Anrichte. Und als würde sie Wildbret für ein Festmahl zubereiten, zog sie mit einem Ruck seinen Arm lang und holte mit dem Messer zu einem kräftigen Hieb aus. Die Klinge drang knirschend durch den Knochen und trennte ihm den Arm knapp unterhalb der Schulter ab.

Erst dann hatte er geschrien.

»Wie ging es weiter?«, fragte Awt.

»Meine Schwester fand mich und schnitt mir den Arm ab. Das war mein großes Glück. Ich hatte mich sehr dumm verhalten.«

»In der Tat«, mischte sich die Frau von Faunt ein, die mit dem Rock. »Wäre ich Ihre Schwester gewesen, hätte ich Sie sterben lassen.«

»Ich bitte Sie, Ehrwürdige«, sagte ihr Spielgegner. »Bestimmt nicht. Jeder könnte in einer solchen Situation in Panik geraten.«

»Aber nicht jeder, der überlebenstauglich ist«, sagte die Frau mit geschürzten Lippen. »Es ist ein Armutszeichen für die Wache, dass so jemand aufgenommen wurde.«

»Ihr Volk wäre sicherlich nicht so grausam«, sagte der Mann. »Sicherlich nicht.«

»Grausam? Wir handeln pragmatisch«, erwiderte sie.

»Ich kann es ihm nicht zum Vorwurf machen«, sagte Awt Emnys. »Es sagt sich leicht, dass ein Arzt den Arm ersetzen kann, aber wenn man es tatsächlich tun muss …« Er schüttelte den Kopf. »Es ist durchaus sinnvoll, dass wir vor einer solchen Selbstverstümmelung zurückschrecken.«

Die Frau schnaufte. »Allmählich bin ich davon überzeugt, dass die Gerentate an Anaander Mianaai fallen wird, sobald er seine Aufmerksamkeit darauf richtet. Sie alle sind viel zu sentimental. Ghaon ebenfalls, trotz des Kriechraums und des Aufwands mit der Wache.« Dabei sah sie Kels direkt an.

»Ehrwürdige«, sagte Kels. »Es besteht kein Grund, grob zu werden.«

»Ich sage, was ich denke«, erklärte die Frau. »Mein Volk versteckt sich nicht hinter Masken.«

»Oh doch, durchaus«, sagte Awt ruhig. »Ihre Maske ist die Grobheit und die beleidigende offene Rede. Wir sehen Sie nur so, wie Sie erscheinen möchten, und nicht Ihr wahres Wesen. Ob er nun eine Maske trägt oder nicht, Wächter Inarakhat hat aufrichtiger gesprochen als Sie.«

Wieder schnaufte die Frau angewidert, sagte aber nichts mehr.

Kels blickte eine Weile aus dem Fenster, sammelte seine Gedanken, beruhigte sich. Er wollte die Lounge verlassen, hatte jedoch das Gefühl, dass es dann eine Art von Rückzug wäre. »Ehrwürdiger Awt, haben Sie die Absicht, mit der Agnate Ihrer Großmutter Kontakt aufzunehmen?« Es war nicht das, was er eigentlich hatte sagen wollen.

Awt Emnys schien die Frage nicht zu überraschen. »Ich weiß es nicht. Raten Sie mir dazu?«

Ja und nein und das habe ich nicht gemeint kollidierten miteinander, vermischten sich und blockierten seine Sprachfähigkeit. Ghem, die sich gegen jede Verbindung mit seiner abgewirtschafteten Agnate gesperrt hatte, wäre Awt gegenüber gleichermaßen abweisend – ein bestürzender Gedanke. Gleichzeitig freute sich Kels insgeheim. Sollte die Ghem-Agnate doch sehen, was sie da zurückwies!

Vielleicht würden sie ihn zumindest mit Höflichkeit empfangen. »Man kann es schwer beurteilen, Ehrwürdiger. Allerdings …«

»Ja?«

»Wenn Sie es tun, kaufen Sie eine Maske. Nicht in den Läden neben dem Shuttleport und auch nicht am Flussufer. Gehen Sie zu einem Geschäft auf dem dritten Hügel, hinter dem Juweliersviertel. Und suchen sie auf jeden Fall eine aus, die weder zu kunstvoll noch zu farbenfroh gestaltet ist.«

»Dazu hätte ich ohnehin tendiert«, sagte Awt. »Ich danke Ihnen erneut für Ihren Rat.« Er hielt einen Moment lang inne, als wäre er wegen irgendetwas unentschlossen. »Die Händlerin Chis ist ein unverbesserliches Klatschweib.«

Hinter der Maske runzelte Kels die Stirn.

Awt fuhr leise fort. »Sie erzählt eine phantastische und romantische Geschichte, wie Sie in ihrer Jugend von der Liebe enttäuscht wurden. Nicht etwa, da bin ich mir sicher …« Awt machte eine kleine ironische Geste. »… aus Respektlosigkeit Ihnen gegenüber, sondern um mich gründlich zu entmutigen, die Agnate meiner Großmutter zu besuchen. Welche auch immer das sein mag. Aber als ich soeben Ihre Geschichte hörte, kam mir eine Frage in den Sinn. Haben Sie sich an etwas festgehalten, das Sie hätten loslassen sollen? Die Tochter einer reichen, noblen Agnate mag vielleicht nicht ihren ersten Ehemann gewählt haben, auch nicht ihren zweiten. Aber der dritte wäre die Wahl ihres Herzens gewesen. Vielleicht haben Sie sie nicht so gut gekannt, wie Sie dachten. Zweifellos hat sie Ihnen übel mitgespielt, wenn es stimmt, was Chis sagt.« Er verbeugte sich leicht, um sich zu entschuldigen. »Verzeihen Sie meine Vermessenheit.«

»Ihre Agnate …«, begann Kels, und Awt hob eine Augenbraue. Kels war froh über seine Maske. »Das war vor sehr langer Zeit, Ehrwürdiger.«

»Ich habe Sie verletzt. Bitte glauben Sie mir, dass es nicht meine Absicht war.«

»Nein, Ehrwürdiger«, sagte Kels so unbewegt wie möglich. Außerstande, etwas zu erwidern, verbeugte er sich schließlich und verließ die Lounge.

*

Sechs Monate in einem kleinen Schiff sind eine lange Zeit. Der Ausblick von der Juwel von Athat unterscheidet sich in keiner Weise von dem irgendeines anderen Schiffs. Man kann nicht die ganze Zeit Counters spielen, und man findet nur eine begrenzte Anzahl potenzieller Gegner. Selbst Wetten auf Spiele verlieren nach einem Monat ihren Reiz.

»Es gilt als schick, einen sechs oder sieben Generationen zurückliegenden Ghaonish-Vorfahren zu haben«, sagte Awt gegen Ende des ersten Monats zu Kels. Die Frau von Faunt hatte sich in stummem Groll zurückgezogen, nachdem Awt sie dreimal hintereinander beim Counters geschlagen hatte, und nun waren sie allein in der Lounge. »Weiter zurück ist sogar noch besser. Doch mit zu nahen und armen Verwandten ist man ein halber Fremder, ein Außenseiter in der eigenen Familie. Die Familie meiner Mutter hat meinen Vater, der zur Hälfte Ghaonish war, stets der Gewinnsucht verdächtigt. Sie kümmerten sich um mich, als meine Eltern starben, aber eher aus Anstand als aus irgendwelchen anderen Motiven.«

»Wie anders wäre Ihre Kindheit verlaufen, wenn Ihre Großmutter Ghaon niemals verlassen hätte!«, sagte Kels und dachte dabei genauso an sich selbst wie an Awt.

»Wohl wahr, aber dann wäre ich nicht Awt Emnys gewesen.«

Im zweiten Monat der Reise war die Bibliothek mit aufgezeichneten Unterhaltungsprogrammen, die ihnen anfangs so groß und abwechslungsreich vorgekommen war, monoton und langweilig geworden. Mitreisende, die einem entweder exotisch oder umgänglich vertraut erschienen waren, verloren jeden Reiz und wurden gar zum Anlass von Verärgerung. Die kleinen Räume wurden zu immer engeren Fallen.

Seit er sie kannte, waren Ninan und Tris, die Wächterkameraden von Inarakhat Kels, mehr oder weniger angenehme Gesellschaft gewesen, auch wenn sie ihm ein gewisses Misstrauen entgegenbrachten – trotz ihres Niedergangs stand seine Agnate immer noch weit über ihren. Gegen Ende des zweiten Monats empfand Kels ihre respektlosen Bemerkungen über die Passagiere zunehmend als bedrückend, vor allem wenn es um Awt Emnys ging. Sie unterschieden sich nicht von früheren Spötteleien über Reisende aus der Gerentate, die nach Ghaonish-Vorfahren suchten, und in der Vergangenheit hatte sich auch Kels darüber amüsiert. Doch nun erkannte er, dass seine Verachtung eine andere Ursache und Richtung hatte als ihre.

*

Im dritten Monat scheint es, als hätte es nie eine andere Welt als das Schiff und nie etwas anderes als den endlosen Flug durch die Schwärze gegeben. Das Leben vor der Reise ist nur noch eine ferne Erinnerung, unwirklich und fremdartig strukturiert. Es kommt einem unvorstellbar vor, irgendwann das Ziel zu erreichen und auszusteigen. Das Wrack des letzten Schiffs, das sich dem Kommunikationsverbot widersetzt hat, erregt in diesem Monat ein Interesse, das in keinem Verhältnis zu seiner Bedeutung steht.

»Genau, wie Sie versprochen haben«, sagte Awt zu Kels, als er das tote Schiff dahintreiben sah. Leise, weil alle anderen schwiegen – die verbitterte Faunt, der Tourist von Semblance und sogar Chis Sulca, die es schon einmal gesehen hatte. »Ich frage mich, warum sie das getan haben.«

»Weil sie Dummköpfe waren«, sagte Chis.

»Sie wurden durch die Isolation in den Wahnsinn getrieben«, sagte der Tourist von Semblance. Offenbar war es als Witz gemeint, der jedoch nicht besonders überzeugend war.

*

Im vierten Monat setzt verzweifelte Langeweile ein. Die kahlen beigefarbenen Wände, das Schwarz hinter den Aussichtsfenstern, die nahrhafte, aber eintönige Kost werden zu einem undifferenzierten Hintergrund, und die sensorische Deprivation zwingt den Geist, alle möglichen Phantasien hervorzubringen, um der Reizarmut entgegenzuwirken.

»Haben Sie Thersay gelesen?«, fragte Kels. Er befand sich wieder mit Awt in der Lounge.

»Der Trost des Wahnsinns?« Awt lächelte. »Nein, dazu bin ich nie gekommen. Und wahrscheinlich bin ich noch nie jemandem begegnet, der es gelesen hat, obwohl es so hoch geschätzt wird.«

»Ich habe es versucht«, gestand Kels.

Awt lächelte. »So langweilig?«

»Sie lachen«, sagte Kels. »Sie begann hier mit der Arbeit daran, in genau diesem Schiff, an diesem Tisch dort, ungefähr zu diesem Zeitpunkt der Reise. Welch ein seltsames und ausuferndes Werk! Sie muss selbst halb wahnsinnig gewesen sein.«

»Das würde mich nicht im Geringsten überraschen«, sagte Awt.

*

Der fünfte Monat unterscheidet sich kaum vom vierten – die Zeit zieht sich zu einem einzigen ewigen Augenblick zusammen.

*

Im sechsten Monat begreift der Verstand langsam, dass die endlose Reise tatsächlich ein Ende finden wird. Wenn die Wache ankündigt, dass nur noch ein Tag verbleibt, bis das Schiff den Kriechraum verlässt und beschleunigt, ergreift fieberhafte Aufregung die Passagiere. Der folgende Tag und die wenigen Tage, die bis zum Erreichen der Orbitalstation von Ghaon verstreichen werden, erscheinen unerträglich lang. Vergeblich rufen sich die Passagiere ins Gedächtnis, dass die Zeit auf jeden Fall vergehen wird, auch ohne dass sie darauf achten. Jeder wird entweder offen oder heimlich jede endlose Sekunde mitzählen und gespannt auf das Klacken und den Ruck des Andockvorgangs warten.

*

Am letzten Tag im Kriechraum ereignete sich die Katastrophe.

Kels hatte seine Schicht und ein schweigendes, angespanntes Abendessen mit Ninan und Tris hinter sich gebracht. Er war früh zu Bett gegangen, doch nachdem er sich mehrere Stunden lang unruhig hin- und hergeworfen hatte, stand er wieder auf, zog sich an und ging zur Lounge. Sie war leer. Er war ein wenig überrascht und enttäuscht, Awt Emnys hier nicht vorzufinden, obwohl ihm klar war, dass die Passagiere zu dieser Zeit wahrscheinlich schliefen.

Sobald Awt das Schiff verließ, würde Kels ihn vermutlich nie mehr wiedersehen. Das galt für alle Passagiere, die er im Laufe der Jahre kennengelernt hatte, aber bislang hatte das für ihn nie eine Rolle gespielt. Das war also der Grund, warum er nicht schlafen konnte. Es gab Dinge, die er noch sagen wollte, von denen er jedoch nicht wusste, ob er sie sagen sollte oder es überhaupt konnte.

Er folgte dem Weg, den er sonst während seiner Schicht ging, aber er begegnete niemandem, nicht einmal seinem Kollegen von der dritten Schicht. Die Kabinen der Passagiere waren verschlossen, das Schiff fühlte sich verlassen und einsam an. Er wünschte, jemand würde herauskommen und ihm zunicken oder ihn sonstwie flüchtig grüßen, nur um das beunruhigende Gefühl zu zerstreuen, dass er ein unsichtbarer, körperloser Geist allein an Bord eines aufgegebenen und dahintreibenden Schiffs war.

Wegen dieses Gefühls tat er etwas, das er sonst fast nie tat – er näherte sich den zwei Wächtern vor der Tür, hinter der der Pilot das Schiff steuerte.

Er hob eine Hand zum Gruß und erwartete die gleiche Geste als Antwort. Und die Frage, warum er zu dieser Stunde durch die Korridore streifte. Ein oder zwei dahingeworfene Sätze, dass er nicht schlafen konnte, lagen ihm auf der Zunge, doch die zwei Wächter standen maskiert und regungslos am Ende des engen Korridors.

Verwirrt blieb er stehen. »Die Tage werden zum Ende hin länger, nicht wahr?«, sagte er probeweise.

Keine Antwort. Das Gefühl, unsichtbar zu sein, nahm zu, und für einen Moment wunderte sich Kels nicht mehr so sehr über die Wächter, sondern zweifelte viel mehr an seiner eigenen substanziellen Existenz. Doch dann setzte sein gesunder Menschenverstand wieder ein. Er legte einem der stummen Wächter eine Hand auf die Schulter. »Ehrwürdiger!« Nichts. Er drückte behutsam, und der Mann drehte sich langsam und wie in Trance zur Seite.

Kels zog seine Waffe und schob sich an den beiden regungslosen Männern vorbei, um die Tür zur Pilotenstation zu öffnen.

Der Pilot befand sich in seinem Sitz, mit dem Rücken zur Tür, vor ihm die Kontrollen des Schiffs. Eine dunkelhaarige Gestalt in Kilt und bestickter Bluse beugte sich über ihn, ein kleines Aufzeichnungsgerät in der Hand. Beide waren nahe genug, dass Kels sie mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können. Kels wollte bereits feuern, als Awt Emnys sich aufrichtete und ihn mit Ghem Echends Augen ansah.

Das kurze Zögern genügte. Awt griff nach der Waffe, drückte sie hoch und von sich weg, drehte Kels’ Arm herum, bis der Schmerz ihn zwang, die Waffe loszulassen. Awt richtete die Waffe auf Kels und drängte ihn gegen die Wand.

»Warum?«, keuchte Kels unter den Schmerzen, die Awts Griff seinem Arm bereitete.

»Das ist mein Beruf«, sagte Awt. »Haben Sie mich wirklich für einen Lagerverwalter gehalten?«

»Haben Sie keine Wertschätzung für Ihr eigenes Volk?«, fragte Kels. »Oder ist die Gerentate unser wahrer Feind?«

Awt lächelte, ein wenig traurig. »Die Gerentate ist nicht Ihr Feind. Die Radch hingegen …« Er zuckte mit den Schultern.

»Die Radchaai«, flüsterte Kels entsetzt. »Wir sind vernichtet!«

»Im Gegenteil. Die Vernichung irgendeines Teiles einer Welt wäre die Vernichtung ihres Wertes. Wer sich fügt, wird keinen Schaden erleiden. Wer sich nicht fügt …« Wieder zuckte er mit den Schultern, die Waffe weiterhin auf Kels gerichtet. »Jeder wählt sein eigenes Schicksal. Aber wenn Sie damit irgendeine undefinierbare Eigenschaft der Ghaonish meinen oder diesen Stolz und die grandiose Isolation … nun, ich hätte gedacht, gerade Sie würden verstehen, dass all das nicht schützenswert ist.« Mit sarkastischer Miene zog er eine Augenbraue hoch. »Nicht nur Sie wurden von der Ghem-Agnate schlecht behandelt. Ich weiß mehr über meine Großmutter, als ich gesagt habe.«

Kels wurde schwindlig, und das Atmen fiel ihm schwer, als würde er ertrinken – die Luft schien sich in Wasser verwandelt zu haben. Awt hatte verstanden, hatte bereits alles gewusst, was Kels ihm noch hatte sagen wollen.

»Ich bin Ghaon nichts schuldig«, fuhr Awt fort. »Oder der Gerentate. Und die Radchaai bezahlen mich gut für meine Dienste.« Er ließ Kels los, der sich nicht rührte, immer noch wie erstarrt angesichts der Enthüllung und der drohenden Waffe. »Machen Sie sich keine Vorwürfe. Nichts wäre gewonnen, wenn Sie mich getötet hätten. Glauben Sie, dies wäre der erste erfolgreiche Versuch gewesen? Keiner von Ihnen wird sich an irgendetwas erinnern, genauso wie bei allen anderen Agenteneinsätzen.« Awt legte Kels eine Hand auf die Schulter, drückte ihn tröstend. »Ich werde sie nicht töten, es sei denn, Sie zwingen mich dazu. Und das würde ich sehr bedauern.« Dann wandte er sich ab, immer noch die Waffe in der Hand, und machte mit der leisen Befragung des Piloten weiter.

Kels’ Arm schmerzte, was er jedoch nur entfernt wahrnahm, als wäre der Schmerz Teil eines Traum, aus dem er in Kürze erwachen würde. Er atmete tiefer, was das Gefühl des Luftmangels jedoch nur verstärkte. Hatte er selbst schon einmal in Trance neben der Pilotenstation gestanden, während ein Radchaai-Spion nach dem Schlüssel zu Ghaons stärkster Verteidigung suchte? Wie viele Male? Sein Versagen war bitter genug, doch viel schlimmer war der Gedanke, dass er immer wieder versagt haben könnte, ohne es jemals zu ahnen. Er hatte Angst vor dem Sterben, Angst davor, sein Leben aufs Spiel zu setzen - es war gut möglich, dass sein Tod dann genauso sinnlos sein würde, wie es sein ganzes Leben gewesen war. Und welchen Unterschied würde es schon machen? Wenn Awt die Wahrheit sagte, war Ghaon bereits dem Untergang geweiht, und ihm selbst würden keine Erinnerungen an irgendetwas bleiben, das er sich vorzuwerfen hätte.

Awt sprach leise zum Piloten, der mit einem Murmeln antwortete. Kels kam etwas in den Sinn, was Awt vor sechs Monaten in der Lounge zu ihm gesagt hatte. Haben Sie sich an etwas festgehalten, das Sie hätten loslassen sollen? Awt hatte ihn gut eingeschätzt. Es ist ein Armutszeichen für die Wache , dass so jemand aufgenommen wurde.

»Awt Emnys.«

Awt drehte sich um, ein Ohr weiterhin dem murmelnden Piloten zugewandt.

»Tun Sie es nicht. Vernichten Sie die Aufzeichnung, und kehren Sie in Ihre Kabine zurück. Ich werde es niemandem sagen.«

Ohne zu antworten, wandte Awt sich wieder um.

Kein Zögern mehr. Jetzt war der Moment. Kels stieß sich von der Wand ab, packte Awts Arm, als dieser sich umdrehte. Aus der Waffe löste sich ein Schuss, die Kugel streifte Kels’ Ohr und schlug in die Wand hinter ihm. Alarmsirenen ertönten, schwach und fern im lauten Pochen von Kels’ Herz. Er zog das Knie hoch, genau zwischen Awts Beine, riss ihm die Waffe aus der Hand, legte die Mündung an Awts Kopf und feuerte.

*

Der Alarm rief die erste und zweite Wache herbei. Blut war über Kels gespritzt, auf den immer noch bewusstlosen Körper des Piloten, auf das Deck. Ninan sprach, doch Kels konnte nur die tosende Stille hören, die auf den Schuss gefolgt war.

»… unter Schock«, sagte eine ferne Stimme. Aber Awt stand nicht unter Schock, sondern war tot.

»Er ist unverletzt.« Ninans Mund bewegte sich zu den Worten. Ninan sprach. Seine Maske saß schief. »Es ist nicht sein Blut. Bei Iraon! Schauen Sie es sich an!« Jemand gab würgende Geräusche von sich, und das Bedürfnis, sich zu übergeben, war einen Moment lang überwältigend, aber es gelang Kels, es zu unterdrücken.

»Verfluchter Lügner!« Tris. Kels konnte ihn nicht sehen. »Ich wette, es gibt überhaupt keine Ghaonish-Großmutter. Ich wusste, dass er ein Nichtsnutz war. Das sind solche Leute immer.«

»Inarakhat Kels, Sie sind ein Held!«, sagte Ninan und tätschelte vorsichtig Kels’ Kinn. »Sie haben einen Spion gefangen!«

Kels nahm einen langen, zitternden Atemzug. Ninan erzählte etwas von Beförderungen und Gehaltserhöhungen, und jemand sagte: »Jetzt wissen sie, dass sie die Wache von Ghaon nicht zum Narren halten können.« Sie alle waren ihm vertraut und fremd zugleich.

»Wir bringen Sie jetzt in Ihre Koje«, sagte Ninan.

»Es spielt keine Rolle«, sagte Kels.

Ninan zog ihn am Arm hoch. »Was?«

»Es spielt keine Rolle. Es war die Mühe nicht wert.«

Ninan sah ihn verständnislos an.

»Keiner von Ihnen ist es wert.« Kels schüttelte den Kopf. Ninan würde es nie verstehen, genauso wenig wie Tris oder irgendjemand von ihnen. Awt Emnys vielleicht, aber Awt Emnys war tot.

»Natürlich«, sagte Ninan beruhigend. »Eine schlimme Sache. Aber er hat sein Schicksal selbst gewählt. Sie haben lediglich Ihre Pflicht getan.«

»Er wollte sich nicht fügen«, sagte Kels.

»Genau. Ein fataler Fehler.« Ninan klopfte Kels auf die Schulter. »Aber genug davon. Lassen Sie uns jetzt zu Ihrer Kabine gehen. Und etwas Starkes trinken.«

»Man meint«, sagte Inarakhat Kels, »dass eine Tasse Tee genügen würde.«

 

Maschinen-MärzAus dem Amerikanischen von Bernhard Kempen.

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