17. Juli 2020 1 Likes

„Quantenträume“: Fünfzehn Stories über Künstliche Intelligenz – mit Leseprobe

Ein Sammelband mit Erzählungen von Hao Jingfang, Qiufan Chen, Han Song und vielen chinesischen Newcomer-Autoren

Lesezeit: 6 min.

Neben Cixin Liu, dem unbestrittenen Meister, gibt es noch viele andere Science-Fiction-Autorinnen und -Autoren aus China, die zu entdecken sich lohnt. In dem Band „Quantenträume“ (im Shop) sind fünfzehn von ihnen versammelt, und sie alle haben sich dem Thema Künstliche Intelligenz gewidmet – auf ihre ganz eigene, unnachahmliche Weise.

"Quantenträume", hrsg. von Jing BartzEin intelligenter Plüsch-Seehund, der eine eigene Sprache erfindet … Eine Maschine, die sich in ein buddhistisches Kloster zurückzieht … Ein Haushaltsroboter, der eines Mordes verdächtigt wird … Diese Erzählungen zeigen, wie intelligent, emotional und zuweilen auch humorvoll sich die chinesische Science-Fiction mit der Beziehung zwischen Menschen und Maschinen auseinandersetzt. Und Cixin Liu hat es sich nicht nehmen lassen, hierzu ein Vorwort zu verfassen.

Zusammengestellt wurde „Quantenträume“ von der Literaturwissenschaftlerin Dr. Jing Bartz, die bereits mehrere Jahre lang das Pekinger Büro der Frankfurter Buchmesse geleitet hat. Als Herausgeber und Kooperationspartner hat sie die renommierteste chinesische Literaturzeitschrift gewinnen können, 《人民文学》Renmin Wenxue („Volksliteratur“).

Hier ist ein kleiner Vorgeschmack – eine Leseprobe aus „Chinesische Enzyklopädie – Lass uns reden“ von Xia Jia.

 

Xia Jia

„Chinesische Enzyklopädie – Lass uns reden“

Aus dem Chinesischen von Marc Hermann
 

Nur wenige Umstände erfordern es, eine Linguistin mitten in der Nacht aus dem Bett zu holen.

Als mein Telefon klingelte, war es kurz nach drei Uhr in der Nacht. Ich müsse sofort kommen, verlangte eine trübselige Stimme. Mein erster Gedanke war: Oje, jetzt sind die Aliens wirklich da.

In einem düsteren kleinen Raum traf ich auf einige seltsame Gestalten, mit denen ich mir ein nicht minder seltsames Video ansah: Eine Schar weißer Robbenbabys drängte sich schreiend aneinander. Es wirkte wie eine Mischung aus Zoo, Autowerkstatt und Kindergarten.

„Scheiße, was … ist das denn?“, kam mir jemand mit seiner Frage zuvor.

Darauf bekamen wir eine absonderliche Erklärung zu hören: Diese Heuler waren von einem Forschungslabor entwickelte KI-Spielzeuge, die ähnlich einem Neugeborenen eine menschliche Sprache von Null auf imitieren und erlernen konnten. Dem Produkthandbuch zufolge konnten sie auf diese Weise in etwa das sprachliche Niveau eines Fünfjährigen erreichen.

Die Labormitarbeiter hatten hundert Prototypen in einen Container gepackt, um sie zu Testzwecken ins Ausland zu verschiffen, doch irgendjemand hatte geschlampt und den Container falsch etikettiert. Als man ihn endlich mit viel Mühe wiedergefunden und geöffnet hatte, lagen die Robbenbabys nicht etwa still und friedlich da – ausgeschaltet, wie sie hätten sein sollen –, sondern sie krakeelten fröhlich durcheinander.

„Anscheinend benutzen sie irgendeine fremde Sprache, die wir nicht verstehen, um sich miteinander zu unterhalten“, drang eine ungläubige Stimme durch die Dunkelheit.

„Genau diese Frage müssen wir klären“, bestätigte der Mann in schwarzem Anzug, der die nächtliche Besprechung leitete, und nickte uns mit gewichtiger Miene zu. „Kann das wirklich sein? Und wer hat ihnen diese Sprache beigebracht? Sie dürfen nicht vergessen, dass der Container die ganze Zeit verschlossen war.“

Sealed seals“, murmelte ich verstohlen. Zum Glück hörte niemand meinen Kalauer.

„Da fällt mir ein ähnlicher Fall ein“, sagte die Stimme aus dem Dunkeln. „Idioma de Señas de Nicaragua, kurz: ISN, zu Deutsch: Nicaraguanische Gebärdensprache. Das ist eine Sprache, die eine Gruppe von gehörlosen Kindern in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts im Westen Nicaraguas entwickelt hat.“

„Erzählen Sie mehr darüber.“ Der Mann in Schwarz war daran augenscheinlich sehr interessiert.

„Nun ja, ursprünglich gab es in Nicaragua keine Gehörlosengemeinschaft und entsprechend auch keine Sprache, die unter ihnen verbreitet gewesen wäre. Erst in den siebziger Jahren wurden dort im Westen spezielle Berufsschulen für gehörlose Kinder eingerichtet. Mit der Zeit gingen einige hundert Schüler auf diese Schulen. Weil Spanisch die Amtssprache in Nicaragua ist, versuchten die Lehrer anfangs, den Kindern beizubringen, wie man Spanisch von den Lippen liest. Doch die Kinder wurden aus den Wörtern nicht schlau und machten kaum Fortschritte. Aber dann geschah etwas, das niemand vorhergesehen hatte: Auf dem Schulweg, beim täglichen Unterricht und in den Pausen beim Spielen lernten sie allmählich, sich mit ihrer eigenen Gebärdensprache zu verständigen. Sie kombinierten Gesten und individuelle Gebärden, die sie zu Hause benutzten, miteinander und schufen so schließlich ein neues Sprachsystem. Das war wahrscheinlich das erste Mal in der menschlichen Geschichte, dass wir mit eigenen Augen erleben konnten, wie eine Sprache wie in einem Schöpfungsmythos aus dem Nichts erschaffen wurde.“

„Vielleicht war es das erste Mal, aber sicher nicht das einzige Mal“, warf eine andere Stimme ein. „Vor gut zehn Jahren hat ein Forscherteam an der University of Queensland sogenannte Lingodroiden entwickelt, das heißt Roboter, die in der Lage waren, ihre eigene Sprache zu erfinden. Diese Roboter konnten Labyrinthe erkunden und die Stellen, an denen sie gewesen waren, mithilfe von Silben benennen, die sie aus einer Datenbank entnahmen. Wenn sie sich begegneten, kommunizierten sie diese Namen über Mikrofone und Lautsprecher miteinander. Danach entwickelten sie allmählich ein gemeinsames Vokabular, um Richtungen und Entfernungen anzugeben.“

„Und woher sollen wir wissen, was diese Roboter miteinander reden?“, fragte eine dritte Stimme.

„Hat sonst noch jemand irgendeine Idee?“, ergriff der Mann in Schwarz wieder das Wort und blickte sich im Raum um.

„Warum Robbenbabys?“, fragte ich laut.

„Wie bitte?“

„Ist das nicht komisch? Warum hat man ausgerechnet Robbenbabys genommen? Warum nicht Kätzchen oder Welpen?“

„Ist das wichtig?“ Der Mann in Schwarz zuckte die Schultern.

„Vielleicht wollte der Designer sein Produkt so unschuldig und harmlos wie möglich erscheinen lassen“, sinnierte ich. „Und vielleicht zeigt das, wie sehr wir uns tief in unserem Innern vor einer fremden Spezies ängstigen, die sprechen kann.“

„Worauf wollen Sie hinaus?“

„Ich meine: Warum schalten wir dieses Überwachungsvideo nicht einfach aus, verlassen dieses kleine dunkle Zimmer und reden von Angesicht zu Angesicht mit diesen … Wesen, wenn wir wirklich daran glauben, dass sie eine neue Sprache entwickelt haben? Alle Linguisten wissen: Es gibt nur einen Weg, um eine fremde Sprache zu erlernen, nämlich mit ihren Sprechern zu kommunizieren, also ein Gespräch mit ihnen zu führen, ihnen Fragen zu stellen und ihre Fragen zu beantworten. Solange wir nicht einen von uns zu ihnen schicken, damit er an ihre Containertür klopft und Hallo sagt, werden wir nie verstehen, was sie da eigentlich reden.“

Als ich das düstere Innere des Containers betrat, verstummten die Robbenbabys und fixierten mich mit ihren großen glänzenden Augen. Zum Glück sahen sie viel süßer aus als irgendwelche Tiere mit Klauen und Zähnen. Genau wie damals bei meiner ersten Feldforschung hielt ich ihnen die Hände hin, mit den Handflächen nach oben, um ihnen zu zeigen, dass ich keine versteckten Waffen bei mir trug – auch wenn mir bewusst war, dass diese Geste in ihrem Sprachsystem wahrscheinlich keine Bedeutung besaß.

Ein Roboter darf kein menschliches Wesen verletzen.

Ein Roboter muss seine Existenz beschützen.

So high, so low, so many things to know.

Ni hao“, begrüßte ich sie in meiner Muttersprache und wartete geduldig auf Antwort.

Das Robbenbaby, das mir am nächsten war, legte mir seine flauschige Vorderflosse in die Hand und stieß ein Geräusch aus, das wie ein herzhaftes Gähnen klang.

Ich versuchte mein Bestes, um es zu imitieren. War das ihre Weise, Hallo zu sagen? Oder doch nur ein Gähnen? Jedenfalls schien es mir kein schlechter Anfang.

„Lass uns reden“, sagte ich leise. „Okay?“

Lesen Sie weiter in:

„Quantenträume“, hrsg. von Jing Bartz und Shi Zhanjun · Erzählungen aus China über Künstliche Intelligenz · Aus dem Chinesischen von Karin Betz, Johannes Fiederling, Marc Hermann, Michael Kahn-Ackermann und Eva Lüdi-Kong · Wilhelm Heyne Verlag · 512 Seiten · E-Book: € 12,99 (im Shop) · Erscheint am 14.09.2020

 

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.