20. Juni 2018 1 Likes

Keine Revolution

Edward Bellamys utopischer Roman „Ein Rückblick aus dem Jahr 2000“

Lesezeit: 4 min.

Ich habe genug von Dystopien. Schließlich habe ich jeden Tag das Gefühl, in einer zu leben. Deswegen freue ich mich umso mehr über Bücher wie Kim Stanley Robinsons „New York 2140“ (im Shop, Leseprobe) und Cory Doctorows „Walkaway“ (im Shop, Leseprobe). So unterschiedlich diese beiden Romane auch sind, beiden liegt ein Gedanke zugrunde: sie zeigen gewissermaßen „die ersten Tage einer neuen Welt“. Etwas weiter dachte 1888 der bis dahin relativ unbekannte amerikanische Journalist Edward Bellamy, als er seinen Roman „Rückblick aus dem Jahre 2000“ veröffentlichte. Darin skizzierte er eine sozialistische Utopie in Amerika, betrachtet durch die Augen Julian Wests, eines „Zeitreisenden“ aus dem Jahr 1887.

West leidet unter Einschlafproblemen, deswegen lässt es sich eines Abends von einem Magnetiseur in einen künstlichen Schlaf versetzen. Jedoch verlässt besagter Magnetiseur noch am selben Abend Boston, und als Wests Haus in Flammen aufgeht und sein Diener wahlweise flieht oder umkommt (genau wird das nie geklärt), verschläft West in seinem unterirdischen Schlafzimmer-Bunker die nächsten 113 Jahre, bis er von Dr. Leete und dessen Familie gefunden und aufgeweckt wird. Anders als bei Doctorow und Robinson ist bei Bellamy der soziale Umbruch bereits Geschichte und die schöne neue Welt in vollem Gange, sodass Julian West zahllose Gespräche mit seinen Gastgebern braucht, die ihm alles erklären. Denn inzwischen haben sich die Amerikaner (und nicht nur die) in einem Gemeinwesen organisiert, in dem alle Betriebe verstaatlicht wurden, es kein Bargeld mehr gibt, alle denselben Lohn bekommen und jeder Mensch gemäß seinen Fähigkeiten arbeiten kann, bis er das 45. Lebensjahr erreicht hat. Danach geht man in Rente.

Wie genau es dazu gekommen ist, hält Bellamy im Vagen. Es sei ein evolutionärer und absolut unblutiger Umbruch gewesen, erklärt Leete seinem Zeitreiseden, da die gesamte Menschheit beschlossen hatte, fortan genossenschaftlich zu leben. Es sei einfach besser so, und inzwischen können Leete und seine bezaubernde Tochter Edith sich gar nicht mehr vorstellen, dass es einmal anders gewesen sein soll; dass einmal Ungleichheit zwischen den Menschen geherrscht haben soll; dass einmal der eine den anderen ausgebeutet haben soll. Der technische Fortschritt erleichtert viele Arbeiten, sodass jeder Mensch erst einmal eine gute Bildung erhalten kann, ehe er sich ins „Arbeitsheer“ einreiht. Jeder hat die Pflicht zur Arbeit, aber weil jedem eine Arbeit zugewiesen wird, die seinen Neigungen entspricht, will jeder gerne arbeiten gehen. Die unangenehmeren Aufgaben werden von den „Lehrlingen“, jungen Menschen, die nach der Schule zunächst drei Jahre Arbeitsdienst verrichten müssen, ehe sie einen Beruf wählen, erledigt. Alle Einnahmen gehen in die Staatskasse, aus der dann die Arbeiter bezahlt werden, und zwar in Form eines jährlichen Kredites auf einer Karte, der so großzügig bemessen ist, dass man sich schwertun würde, ihn in einem Jahr auszugeben. Wie man diesen Kredit schließlich ausgibt, bleibt jedem selbst überlassen – es bleibt also noch genug Raum für Individualität. Nach und nach handeln West und Leete alle möglichen gesellschaftlichen Aspekte ab, vom Justizwesen über die internationale Zusammenarbeit bis hin zur Stellung der Frau.

Einige dieser Aspekte erweisen sich als außerordentlich gut gealtert. Zum Beispiel, dass jeder Mensch denselben Anteil am Gemeinwohl erhält, ganz gleich, welcher Tätigkeit er oder sie nachgeht, klingt sehr nach dem bedingungslosen Grundeinkommen, das immer wieder gefordert wird. Die Abschaffung von Bargeld und – bis zu einem gewissen Grad – Privateigentum sind ebenfalls Dinge, die sich zum Beispiel bei Cory Doctorow ebenfalls finden. Dazu kommen technische Spielereien wie die Rohrpost, über die Waren in die Haushalte geliefert werden, oder Unterhaltungsprogramme, die quasi „on demand“ Livekonzerte übertragen. Anderes wiederum ist nicht so gut gealtert; das Kapitel „Frau und Kind im Sozialismus“ etwa oder das oben kurz erwähnte „Arbeitsheer“ sind aus heutiger Sicht wahre Gruselkabinette. Bellamys Ideen trafen den Nerv seiner Zeit: es war das am zweithäufigsten verkaufte Buch um 1900, gleich nach „Onkel Toms Hütte“ von Harriet Beecher-Stowe. Überall auf der Welt entstanden Bellamy-Clubs, die seinen Roman diskutierten (162 solcher Clubs, aus denen eine politische Bewegung entstand, zählte man 1891). Der „Rückblick“ inspirierte zahllose Antwortromane, manche kritisch, manche lobend.

Und dann? Dann kamen die großen Kriege des 20. Jahrhunderts, die die Arbeiterfrage auf eine ganz andere Art und Weise lösten. Totalitarismus. „1984“. Margaret Thatchers Slogan „Es gibt keine Alternative!“, der sich bis heute hält. Eine rational denkende Gesellschaft, in der jeder gleichberechtigt ist, es keine Arbeitslosigkeit, keine Armut gibt? Unvorstellbar in Zeiten der Banken- und Flüchtlingskrisen. Und doch schreiben heute wieder Autoren Geschichten wie einst Edward Bellamy. Weil sie eine Welt ohne Gewalt, ohne Ungerechtigkeit, ohne Zerstörung der Natur für möglich halten. Utopien können Entwicklungen in Bewegung setzen, indem sie Menschen auf die Distanz zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen aufmerksam machen. Wenn uns das dann genug empört, tun wir vielleicht endlich den nächsten Schritt in unsere utopische Zukunft.

Edward Bellamy: Rückblick aus dem Jahre 2000 •Roman • Aus dem Amerikanischen von Clara Zetkin • Golkonda Verlag, Berlin 2017 • Gebundenes Buch • € 24,90

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