26. Juni 2018 3 Likes

Aussteiger mit Ideen

Cory Doctorows neuer Roman „Walkaway“ auf Deutsch

Lesezeit: 3 min.

Seit Jahren erklärt uns Cory Doctorow (im Shop), wie wir uns im Angesicht von technologisch bedingten Veränderungen am Besten verhalten sollten. Das Internet, Copyright, Datensicherheit, politisches Engagement, Publizieren – das sind nur ein paar der Themen, in deren nebeligen Dunstkreis Doctorow mehr Durchblick und obendrein mehr Vision hat als viele andere. Nachdem der Experte, Pionier, Blogger, Journalist, Redner und Romancier mit „For the Win“, „Pirate Cinema“, „Little Brother“ und „Homeland“ zuletzt mehrere erfolgreiche Young Adult-Bücher geschrieben hat, die wirklich jeder lesen konnte, legt Doctorow mit „Walkaway“ nun mal wieder einen gewichtigen SF-Schmöker für ein doch eher erwachsenes Publikum vor. Gerade ist der Roman in der Übersetzung von Jürgen Langowski bei Heyne auf Deutsch erschienen.

Der 1971 in Kanada geborene Doctorow, der mit seiner Familie früher in London residierte und heute in Los Angeles lebt, macht sein Geburtsland zum Schauplatz einer SF-Geschichte, die rund fünfzig Jahre in der Zukunft einsetzt. Ein Großteil der Menschheit wird von Kapitalismus, Fortschritt und wenigen einflussreichen Superreichen gelenkt und gebändigt. Wer das bequeme, aber makelhafte und ungerechte System satt hat, in dem Egoisten prosperieren und ihre dynastische Macht sichern und vermehren, steigt aus, lässt das Default hinter sich und schließt sich außerhalb der regulierten Städte der berüchtigten Walkaway-Bewegung an. Auf der ganzen Welt leben die Walkaways in hochtechnisierten, selbstregulierenden vernetzten Kommunen und suchen nach Utopia, das sie durch eine Gemeinschaft ohne kapitalistischen, sexuellen oder sonst wie gearteten Druck zu erreichen versuchen. Als sie in der Virtualität auch noch die Grenzen zur Unsterblichkeit überwinden, wird der Druck durch die gierige Außenwelt jedoch beständig größer, begegnet man den Walkaways mit regelrecht militärischer Gewalt …

Auch ohne Young Adult-Etikett bleibt der preisgekrönte Mr. Doctorow dem Konzept seiner letzten Bücher treu. Denn in „Walkaway“ stellt er letztlich wieder eine Gruppe cooler, smarter und versierter Rebellen gegen das gedankenlose, brutale kapitalistische Establishment – diesmal allerdings mit mehr Sex und mit deutlich längeren intellektuellen Debatten über gesellschaftliche, zwischenmenschliche und technologische Konzepte und Entwicklungen. Wer auf Doctorows junge Hacker steht, wird sie in „Walkaway“ nicht in der gewohnten Form finden, obwohl Doctorow nach wie vor ein Meister darin ist, die Gegenwart auf eine nahe Zukunft zu projizieren, die erschreckend real und erstaunlich greifbar wirkt zwischen Drohnen, Biotech, selbstplanenden Häusern, 3D-Druck und der Digitalisierung des Geistes. Auf über 700 Seiten wirkt der neue Doctorow manchmal wie eine marxistische oder futuristische Diskussionsgruppe voller Hightech-Hippies, die das Lebensmodell der Zukunft erzwingen wollen. In seinen besten Momenten ist der von Edward Snowden, Kim Stanley Robinson (im Shop), William Gibson (im Shop) und Neal Stephenson (im Shop) gelobte Roman dafür ein vor interessanten Impulsen und Ideen nur so vibrierendes Science-Fiction-Werk, das mit seiner Mischung aus Social Science Fiction und Postcyberpunk aus der Masse an Genre-Veröffentlichungen hervorsticht, und letztlich pure Ideenliteratur, die ihre Überlegungen auch wirklich über alles andere stellt.

„Walkaway“ hat einen extrem auffälligen Einband, der wie eine Warnweste leuchtet – und glüht im Inneren förmlich vor Gedanken. Dass Doctorow in diesem sozialen, bisweilen sozialistischen Ideenfeuer immer wieder mal vergisst, nach den Figuren zu sehen und den Plot zu wenden, lässt die Ideen keineswegs verbrennen. Seltsam nur, dass er es ausgerechnet mit diesem Roman über das Streben nach Freiheit und Utopia nicht in die Endrunde des Prometheus Awards der Libertarian Futurist Society geschafft hat, den er immerhin schon drei Mal einheimsen konnte.

Cory Doctorow: Walkaway Aus dem Englischen von Jürgen Langowski • Heyne, München 2018 • 736 Seiten • E-Book: 13,99 € (im Shop)

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