14. Dezember 2021 1 Likes

Treuer Vogel Findegeld

Während wir vom Jahr 2021 Abschied nehmen, fragen wir uns: Hätte es denn anders sein können?

Lesezeit: 4 min.

Die Wahl im September 2021 wird vielen Menschen im Gedächtnis bleiben. Dass tatsächlich Jens Spahn zum neuen Reichsverweser gewählt werden würde, überraschte allerdings niemanden so wirklich. Von einigen russinfizierten Algorithmen abgesehen, hatte er in sämtlichen Prognostereien als Favorit gegolten. KPD und SPD verloren die vorausberechneten Prozentpunkte, die Waldhüter legten wie vermutet zu, aber am Ende war dem Zentrum der Triumph nicht zu nehmen.

Von persönlichem Triumph jedoch keine Spur, als der künftige Regierungschef vor den ewigleeren Thron trat, das Gesicht ernst, die Brille dunkel gerahmt. Kurz leuchtete hinter ihm das überlebensgroße Hologramm auf, welchselbiges Erzherzog Johann vergegenwärtigte, den ersten in der nunmehr langen Reihe von Reichsverwesern, der, wie es schien, gütig auf seinen späten Nachfolger herniederlächelte, aufmunternd und durchaus kollegial.

Bei Lanz traten zur Geisterstunde noch die beiden Wahlverlierer auf, Scholz für die SPD und Wagenknecht für die Kommunisten. Scholz, ganz der hanseatische Possenreißer und Posthornbläser, schalt die „Zwiebeltracht in den Reihen der KPDler“ und deren „Summelsarium an Enteignungsalfanzereien“, die zur Niederlage der einst so stolzen Partei geführt und dadurch erneut eine sozial-kommunistische Koalition verunmöglicht habe. Wagenknecht ätzte, es reiche halt nicht, im Hamburger Hafen Buddelschiffe zu entkorken. Kurz: das alte Lied.

Und die Waldhüter? Feierten ihre Zugewinne mit einem Strick- und Häkelhappening nebst Brunnenkressecanapés und Humpen voll schäumenden Ziegenmilchmets. Auch diesbezüglich: nichts Neues.

Ich schaltete um. Auf TV3 lief die Oper einer eben akkreditierten KI, teils Avantgarde, teils, wie mir schien, des Kaisers neue Kleider in Musik; ich zitiere aus dem 5. Aufzug:

 

Chor der Lebertranlüstlinge: Was wäre leckerer als Lebertran?

Chor der Thymianfanatiker: Thymian! Thymian!

Chor der Lebertranlüstlinge: Thymian? Thymian? Wär leckerer als Lebertran?

Chor der Thymianfanatiker: Allemal! Thymian!

Chor der Lebertranlüstlinge: Absurd!

 

Dann doch lieber der Lanz, han ich mir gedenkt, mit seinem transalpin-tirolerischem Hutzelmännchentum, der Lodenjoppe und dem zauseligen Bergsteigerbart … Gemach, gemach nehmen wir Abschied vom Deutschland des Jahres 2021. Das Deutschland des Jahres 2022 klopft zaghaft an die Tür, ein elfengleiches Geschöpf, durchsichtig wie eine hellgrüne Weintraube, schwerelos wie eine Fata Morgana. Was wird es in seinem Rucksack bringen?

Die sachkundige Leserin und der sachkundige Leser werden natürlich längst gemerkt haben: Hier stimmt einiges nicht. Nicht der wackere Spahn wird Reichsverweser, sondern ein verschmitzter Hanseat, und nicht einmal der so ganz. Ja, eine KI hat im Hoheitsgebiet der Musik von sich reden gemacht, aber komponiert hat sie mitnichten eine Oper, sondern Beethovens Zehnte Symphonie zu Ende, und zwar gemeinsam mit einem Forscherteam um den Musikwissenschaftler Matthias Röder.

Hätte es denn anders sein können? Hätte es vielleicht nur des einen oder anderen zu seiner Zeit winzigen Schwenks bedurft – und die Gegenwart wäre eine andere? Welcher versunkenen Gegenwart Zukunft ist die Zeit, in der wir leben? Einen und einen einzigen Reichsverweser hat es ja gegeben: besagten Erzherzog Johann Baptist Josef Fabian Sebastian von Österreich, den Menschenfreund.

Der Mann richtete eine Hilfskasse ein für Knappen und Hüttenleute, verhalf den Dienstboten zu größerer Rechtssicherheit, errichtete ein Kinderspital, bekämpfte Seuchen, förderte die Wissenschaften und Künste, ließ sich nach seiner knappen Zeit als Reichsverweser zum Bürgermeister einer winzigen Markgemeinde wählen, heiratete eine Bürgerliche und ist deswegen heute fast völlig vergessen. Wir gucken lieber Sisi-Filme oder bestaunen Denkmäler für Bismarck, der uns den Hering gebracht hat, den Krieg und das Kaiserreich. Reichsverweser ade, Reichskanzler ahoi.

Alle zehn Jahre, habe ich von meinem Professor gelernt, ändert sich die Welt fundamental. Belege gefällig?

1905: Bismarcks heringeskes Kaiserreich steht in voller Blüte, Friede, Freude, Plätzchen an der Sonne.

1915: Friede vorbei, Weltkrieg. Mit freundlicher Billigung des Reichskanzlers beginnen die Völkermorde an den Armeniern und den Assyrern.

1925: Krieg vorbei, Republik, die Goldenen Zwanziger, Heisenberg arbeitet an der Theorie zur Quantenmechanik, Lang an „Metropolis“.

1935: Schluss mit Gold und Wissenschaft. Schluss mit Demokratie. Die Tyrannei der Nazis hat begonnen.

1945: Schluss mit Nazis.

1955: Die Schneekanone wird entdeckt. Rosa Park wird verhaftet, weil sie ihren Platz im Bus nicht für einen Weißen räumen wollte. Rowan Atkinson, Bruce Willis und Dodi Al-Fayed erblicken das Licht der Welt.

Das Licht der Welt - im baldigen Jahreswechsel spiegelt es sich wie die Straßenbeleuchtung Wiens in der Drehtür zum Hotel Sacher. Was also wird das Jahr 2022 bringen? Neue Amöben, neue Krankheiten, neue Medikamente? Quantencomputer? Nasenspülomaten?

Jedes Jahr finde ich ein wenig Geld auf der Straße, mal eine Zwei-Cent-Münze, auch mal einen soliden Euro. Ich spare das Findegeld und verprasse die Summe am Ende des Jahres.

Wieviel Geld werde ich 2022 finden? Ich weiß es nicht. Aber ich werde etwas finden, kein Zweifel. Denn das verlorene Geld kommt zu mir wie ein treuer Vogel. So kann man der Zukunft mit einer gewissen Gelassenheit entgegenschauen.

 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

 

 

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