3. April 2020

Die Weiten des Weltalls, die Tiefen des Intellekts

In jeder Hinsicht abenteuerlich: Dietmar Daths intellektuelle Space Opera „Neptunation“

Lesezeit: 4 min.

Die Idee ist so schräg wie bestechend: Was wäre, wenn Ende der 1980er Jahre – also kurz vor dem Zusammenbruch des Ostblocks – eine deutsch-russische Expedition aufgebrochen wäre, um fremde Sterne zu erreichen? Und was, wenn ihr dreißig Jahre später eine deutsch-chinesische Expedition folgen würde, um rätselhaften Phänomenen im Außenbereich des Sonnensystems nachzugehen? „Neptunation“, der neue Roman von Dietmar Dath, entwickelt aus dieser Ausgangssituation ein faszinierendes Gedankenspiel, das sich nicht mit einer Neukombination von Genremotiven zufrieden gibt. Der intellektuelle Tiefgang des Buchs belegt ein weiteres Mal, dass ambitionierte Science-Fiction auch und gerade ein Abenteuer des Geistes ist.

„Neptunation“ lässt sich Zeit. Es dauert 160 Seiten, bis zumindest einige der Hauptfiguren – darunter der Bundeswehrsoldat Reinhard Budde, der Linguist Christian Winseck und die hochbegabte Schülerin Filipa Scholz – in einer geheimen Basis aufeinandertreffen und von der ebenso kompetenten wie geheimniskrämerischen Cordula Späth erfahren, um was es geht. In der Spätphase der Sowjetunion ist die aus siebzig kleinen Einheiten bestehende Iwan Jefremow in den Orbit geschossen worden, ein Raumschiff, das während eines jahrhundertelangen Flugs drei Sternsysteme auf der Suche nach einem bewohnbaren Planeten anlaufen sollte. Doch schon auf Höhe des Asteroidengürtels ist es zu einer Unregelmäßigkeit gekommen, und nur ein Teil der Crew konnte in dem nunmehr Eolomea genannten Schiff weiterfliegen. Hierbei handelt es sich offenbar um den ostdeutschen Teil der Besatzung, an deren Spitze Alexandra Burkhard steht. Die Zurückgelassenen haben sich zu Maschinenmenschen – den Dysoniki – weiterentwickelt und auf den Asteroiden ein eigenes Gesellschaftssystem gegründet, wobei einige von ihnen gegen die Erde vorgehen. Die Eolomea hingegen scheint sich im Orbit des Neptuns zu befinden. Ziel der neuen Expedition ist es, Klarheit in die Verhältnisse zu bringen – im Asteroidengürtel und dahinter. Doch worum es wirklich geht, wird den Reisenden erst sehr viel später bewusst.

Messermonster, Attentate, Cyborgs – man kann dem Autor nicht vorwerfen, seinen immerhin knapp 700 Seiten schweren Roman ohne Sinn für Attraktionen auszugestalten. Dath kennt die Science-Fiction; wie gut, hat er gerade erst in seiner noch umfangreicheren „Niegeschichte“ über den Werdegang des Genres dargelegt. Wer will, darf daher ein wenig an die Romane von Iain M. Banks (im Shop) und Dan Simmons (im Shop) denken, wenn es um „Neptunation“ geht. Doch die Variation von Genreelementen – so gekonnt sie auch neu zusammengesetzt worden sind – ist nicht mal die Hälfte von dem, was das Buch ausmacht. Dath erzählt eine herrlich schräge Geschichte, die man der „Hard SF“ oder der „Space Opera“ zuschlagen kann, und deren vorhandene oder mangelnde Glaubwürdigkeit überhaupt nichts zur Sache tut. Hinter der Handlung steht jedoch deutlich die Gegenwart, etwa in jener Debatte, in der von einer Figur der ungewollte Technologietransfer nach China kritisiert wird. Doch es geht noch um mehr. Um Philosophie, Naturwissenschaft, Mathematik – und um Kultur natürlich: Filme, Bücher, Songs. Zahlreiche Exkurse und Monologe durchziehen das Buch, die mal mehr, mal weniger nachvollziehbar ausfallen, aber Türen zu überraschenden geistigen Räume öffnen. Wer will, kann den hier angespielten Ideen nachgehen; wem das zu umständlich ist, der folgt einfach der Haupthandlung. Daths Verfahren erinnert nicht von ungefähr an das von Arno Schmidt, der in „Neptunation“ genannt (und an unauffälliger Stelle auch zitiert) wird. Das ist natürlich eine mutige Referenz – aber an wem soll man wachsen, wenn nicht an den Besten?

Freilich: Die Eigenart von Daths Figuren, bei schwierigen Themen „um den heißen Brei herumzureden“, wirkt im Verlauf des Buchs ermüdend. Hier hätte man sich öfter klare Worte gewünscht. Hinter der Handlung steht aber auch eine Utopie. Dath hat nie einen Hehl daraus gemacht, einer marxistischen Denkrichtung zu folgen, die sein Schaffen durchzieht. Er sieht daher ein Ziel, das mit den Mitteln der Ratio und einer grundsätzlichen Neugier auf neue Verhältnisse zu erreichen wäre; eine Utopie, die auch in „Neptunation“ von ferne durchschimmert. Dazu ließe sich einiges kritisch anmerken. Unbestritten dürfte aber sein, dass Daths Ansatz einer intellektuellen „Hard SF“ im deutschen Sprachraum ohne Konkurrenz ist und sein Buch genug Ideen enthält, um mehrere Lektüren auszuhalten.

2019 erschien übrigens noch ein zweiter hervorragender Roman, der sich mit den Grundzügen und Möglichkeiten sozialer Perspektiven auseinandersetzt, nämlich Miami Punk von Juan S. Guse. Im direkten Vergleich formuliert Dath viel mehr aus Genreperspektive, was seinen Text markanter, aber für ein Mainstreampublikum auch weniger zugänglich macht. In jedem Fall beweisen beide Bücher, was intellektuelle SF aus deutschen Landen vermag – wenn sie die seltener werdenden Spielräume nutzt.

Dietmar Dath: Neptunation • Roman • Fischer TOR • 688 S. • € 16,99 • E-Book • € 14,99

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