29. Dezember 2021

Arbeiterrepubliken und modernistische Ungeheuer

Klug und umfassend: Hans Frey analysiert deutschsprachige SF zwischen 1918 und 1945

Lesezeit: 4 min.

Es ist der vielleicht heikelste Teil von Hans Freys mehrbändiger Geschichte der deutschsprachigen Science-Fiction: Ein Buch, das sich mit den Jahren 1918 bis 1945 und daher auch mit jenen Werken beschäftigt, die sich offen in einen antidemokratischen Kontext gestellt haben. Lohnt sich das überhaupt? Ist nicht durch die Lektüre solcher Texte allein schon die Gefahr gegeben, die entsprechenden Inhalte anzunehmen und weiterzuverbreiten? Ganz im Gegenteil: Freys umfassende und kluge Darstellung sortiert die Bestände, schafft Transparenz und ermöglicht erst so jede weiterführende Beschäftigung. Zudem ist ihm das Kunststück gelungen, seine Erkenntnisse sehr gut lesbar darzustellen.

Frey beginnt mit einem Prolog, in dem er zwei SF-Romane als symptomatisch herausgreift: Die „wunderbare Arbeiterrepublik“ „Utopolis“ (1931) von Werner Illing und das „modernistische Ungeheuer“ „Metropolis“ (1926) der Thea von Harbou; ein Titel, der aufgrund der Verfilmung durch Fritz Lang bis heute weltberühmt ist. Beide Bücher entwickeln auf Grundlage des wissenschaftlich-technischen Voranschreitens ein eigenes Gesellschaftsbild, schlagen dabei aber völlig unterschiedliche Richtungen ein: „Illings Aussage ist demokratisch und fortschrittlich, Harbous Botschaft ist antidemokratisch und reaktionär.“ Damit sind die beiden wesentlichen SF-Strömungen der Jahre vor 1933 bezeichnet, deren Auswirkungen allerdings bis in die Zeit des Nationalsozialismus hineinreichen.

Frey unterscheidet für die Weimarer Republik zwischen politischer und unterhaltender Literatur, wohl wissend, dass die Grenze schwierig zu ziehen ist. Zu ersterer zählt er Werke, die primär aus ideologischen Gründen geschrieben wurden; hier identifiziert er verschiedene Richtungen und stellt Inhalt wie Absicht ausgewählter Texte vor. Typisch für die meisten Autoren ist, dass sie wie ihre Arbeiten unterdessen komplett und zu Recht vergessen sind. Eine Ausnahme macht Frey bei „Das Automatenzeitalter“ (1930) von Ri Tokko (d. i. Ludwig Dexheimer, 1891–1966), einem umfangreichen „prognostischen Roman“, der collagenhaft zahlreiche Science-Fiction-Ideen aufgreift und zu einer faszinierenden Utopie verdichtet. Bei den unterhaltenden Stoffen sieht es anders aus, hat doch Hans Dominik (1872–1945) seine herausragende Rolle in der „SF zwischen den Kriegen“ bis heute weitgehend bewahrt. In seiner auf Klassikern von Kurd Laßwitz („Auf zwei Planeten“, 1897) und Bernhard Kellermann („Der Tunnel“, 1913) beruhenden Technikversessenheit, die mit abenteuerlichen Elementen angereichert wurde, ist Dominik allerdings auch typisch für die damalige Unterhaltungs-SF. Diese beschäftigte sich beispielsweise mit gigantischen Bauprojekten, neuartigen Energieformen und der Möglichkeit des Weltuntergangs; es gab aber auch Romane, die sich mit der Raumfahrt auseinandersetzten. Frey nennt „Der Schuß ins All“ (1925) von Otto Willi Gail (1896–1956) als wichtigsten Vertreter, weil der Autor den nötigen Sachverstand mitbrachte, aber zugleich anschaulich zu formulieren verstand. Ausführungen zu einigen literarischen Kuriositäten der Weimarer Republik runden diesen Teil ab.

Nachfolgend beschäftigt sich Frey dann mit deutschsprachiger Science-Fiction während der NS-Diktatur, wobei die Unterscheidung zwischen politischer und unterhaltender Literatur entfällt, da beide Kategorien in einem totalitären System nicht voneinander zu trennen sind. Hier beobachtet Frey das weitgehende Wegbrechen der für die Weimarer Republik typischen SF-Motive und benennt „NS-Utopien“ sowie „Flucht in den Outer Space“ als wesentliche Themenbereiche. Die nötige Distanz wahrt Frey dabei an jeder Stelle. Als Gegenpol und große Ausnahme wird „Tuzub 37“ (1935) von Paul Gurk (1880–1953) gewürdigt, eine Dystopie, welche die „grundfalsche Entwicklungsrichtung“ der damaligen Gesellschaft geißeln will und hierbei bereits ökologische Gesichtspunkte berücksichtigt: „Es steht außer Frage, dass Tuzub 37 der literarisch höchstwertige SF-Roman ist, der während der NS-Zeit veröffentlicht wurde.“

Aufbruch in den Abgrund“ versteht sich als Fortsetzung zu dem Band „Fortschritt und Fiasko. Die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction“ (2018), der die fast vergessene deutschsprachige SF von 1810 bis 1918 auffächert. Auch der Nachfolger beeindruckt durch ein hohes Lektürepensum, eine klare Struktur und sorgfältige Analysen; dank zahlreicher Illustrationen und einem ansprechenden Layout macht die Studie selbst dann Spaß, wenn einem das Thema fremd ist. Allerdings hätte das Buch gelegentlich eine stärkere Engführung gebraucht. Natürlich kann man in einem Epilog die wichtigsten Alternativweltromane, die sich mit der NS-Zeit beschäftigen, abhandeln, aber mit dem Thema im eigentlichen Sinne hat dieser Exkurs nichts zu tun. Sinnvoll hingegen ist das Kapitel über SF-Elemente in der damaligen Hochliteratur (Alfred Döblin, Hermann Hesse, Franz Werfel …), wenngleich Franz Kafka hier definitiv nicht hingehört. Sein Werk – etwa „Die Verwandlung“ (1915) – ist zwar in der Tat als Phantastik lesbar, ermangelt aber jener rationalen Begründung, die es als Science-Fiction klassifizieren würde. Allerdings sind Einwände dieser Art „rein akademisch“.

Hervorhebenswert ist Freys Buch jedoch nicht nur, weil es eine problematische Epoche in genrespezifischer Perspektive erschließt und damit der umfassenden Geschichte deutschsprachiger SF einen wesentlichen Baustein hinzufügt. Es wendet sich auch gegen die Position, „die Literatur der Vergangenheit allein durch die Brille der Gegenwart zu betrachten“ und aufgrund ihrer unbestrittenen toxischen Anteile zu ignorieren. In dieser Hinsicht ist „Aufbruch in den Abgrund“ von überraschender Aktualität.

Hans Frey: Aufbruch in den Abgrund. Deutsche Science Fiction zwischen Demokratie und Diktatur • Memoranda • 523 Seiten • € 26,90 • E-Book € 9,99

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