Ihr Name ist Orry. Sie ist auf der Flucht
Eine exklusive Leseprobe aus Dominic Dulleys Space Opera „Shattermoon“
Ein gewaltiges Sternenreich, rasante Raumschiff-Action und eine Heldin zum Niederknien – das alles bietet Dominic Dulleys packendes Sternenabenteuer „Shattermoon“ (im Shop). Das Debüt des britischen Autors erscheint am 01.04.2019 auf Deutsch, und für alle, die sich vorab schon mal einen ersten Eindruck verschaffen möchten, gibt es hier eine erste Leseprobe.
Die Bonaventure war zwanzig Jahre vor Orrys Geburt in einer kleinen Werft über Endymion auf Stapel gelegt worden, und man sah dem alten Frachter jedes einzelne seiner vierzig Jahre an. Ungeachtet der Schäden am Komposit und der Kratzer im Anstrich waren die Systeme des Schiffs jedoch in ausgezeichneter Verfassung. Orry sorgte dafür.
Ihre Kabine war klein, sie wollte es nicht anders. Das Schiff beförderte schon seit Jahren keine Passagiere mehr, und ihr Vater hatte es aufgegeben, ihr eine der geräumigeren Kabinen auf dem Beobachtungsdeck anzubieten. Hier war ihr Reich, hier schlief sie, seit sie ein Jahr alt war, und sie konnte sich nicht vorstellen, ihr müdes Haupt anderswo niederzulegen.
Sie zog den Reißverschluss ihrer braunen Fliegerkombination über dem sauberen weißen T-Shirt zu und hielt kurz vor dem gerahmten Bild ihrer Mutter inne, das neben der schmalen Koje stand. Katerina Kents feingliedrige Schönheit und Eleganz hatte sie zwar nicht geerbt, aber Dad versicherte ihr immer wieder, sie hätte die Augen ihrer Mutter. Orry konnte sich Katerina nicht in einer Fliegerkombi mit Ölflecken vorstellen – das smaragdgrüne Ballkleid, das jetzt an der Tür eines der Spinde an der Kabinenwand hing, passte viel besser zu ihr.
Orry betrachtete erst das Ballkleid und dann in dem Hochglanzbildschirm neben dem Bett ihr eigenes Spiegelbild. Sie hielt ihr Haar, das so orange war wie eine Sonneneruption, mit einer Hand über dem Nacken in die Höhe. So hatte sie es auf dem Ball getragen. Sie stieß einen melancholischen Seufzer aus, bevor sie ihren albernen Gesichtsausdruck bemerkte und die Stirn runzelte.
Voller Verachtung über sich selbst riss sie das Ballkleid von seinem Bügel und faltete es zusammen, um es in seine Schutzhülle zu stecken. Höchste Zeit, dass es in den Kostümfundus zurückkam, vielleicht musste sie es eines Tages noch einmal anziehen. Sie verschloss die Hülle, drückte auf den Türöffner – und prallte gegen ihren Bruder.
»Pass doch auf!«, fuhr sie ihn an.
»Hoho, hast du schon wieder deine Tage, Schwesterherz?«
»Geh mir aus dem Weg, Ethan.«
Er rührte sich nicht von der Stelle. Mit seinen vierzehn Jahren schoss er in die Höhe wie eine Bohnenstange und war schon fast so groß wie sie. Wenn sein schlaksiger Körper erst kräftiger wurde, gäbe er vielleicht sogar einen würdigen Gegner auf dem Kickballfeld ab, das sie sich im Frachtraum eingerichtet hatten.
Er strich sich eine Haarsträhne aus den Augen und grinste. »Wir sollen zu Dad kommen. Planungssitzung.«
»Schön.« Sie warf das Kleid auf ihr Bett, zog die Tür zu und verriegelte sie mit einem Befehl aus ihrem Integuar. Dann sah sie Ethan misstrauisch an. »Falls du es jemals wagen solltest, mein Schloss zu unterwandern, stoße ich dich aus der Luftschleuse, das ist dir hoffentlich klar?«
Er legte eine Hand aufs Herz. »Du kränkst mich, Schwesterchen. So etwas würde ich doch niemals tun.«
Sie warf ihm noch einen drohenden Blick zu und drängte sich an ihm vorbei.
Die Messe der Bonaventure war darauf eingerichtet, eine vollständige sechsköpfige Besatzung sowie bis zu einem Dutzend Passagiere zu verköstigen. Die Kombüse befand sich in einer Nische an einer Seite des ovalen Abteils. Eoin saß bereits an dem runden Smart-Tisch in der Mitte, eine Trinkblase mit heißem Kaffee vor sich. Daneben lag das antiquarische Buch in seiner Stoffhülle. Er war dabei, mit einer Hand virtuelle Notizen und Bilder auf der Tischplatte neu anzuordnen. Der große Multimedia-Schirm war auf stumm geschaltet und durchsuchte gerade die Newsfeeds im näheren Umkreis.
»Wird allmählich Zeit«, sagte er. »Können wir an die Arbeit gehen?«
Orry ließ sich stöhnend auf einen der Stühle fallen, die auf dem Deck angeschraubt waren. Ethan ging zur Kombüse und schnappte sich zwei Utz-Schokoriegel. Einen warf er Orry zu.
»Warum hast du es so eilig?«, fragte sie und riss die Verpackung auf. »Wenn wir Konstantins Spice verkaufen, haben wir genug Gild für die nächsten Monate.« Sie biss von dem Riegel ab und schwenkte den Rest vor der Nase ihres Vaters herum. »Ich schlage vor, wir machen erst einmal Urlaub.«
»Ausnahmsweise hat sie recht«, sprang ihr Ethan bei. »Nach allem, was man hört, ist es auf Halcyon das ganze Jahr über schön.«
Orrys Vater schlürfte seinen Kaffee und beobachtete dabei seine Kinder. »Ich finde es zwar großartig, dass ihr euch einmal einig seid, aber wir sind auf Tyr noch nicht fertig.«
Sie seufzte. »Delf.«
»Du magst die letzte Aktion als Erfolg betrachten, ich aber nicht. Wir müssen einen neuen Plan entwerfen, um an sein Integuar-Muster zu kommen.«
»Aber was ist mit dem Büchertrick?«, fragte Ethan. »Das Folio-Fieber wird nicht ewig anhalten. Wir sollten so viel wie möglich aus der Sache rausholen, bevor sich die feinen Pinkel ein anderes schwachsinniges Hobby zulegen.«
»Vergiss den Büchertrick«, rief Eoin scharf. »Delfs Integuar-Muster brauchen wir nötiger, glaub mir.«
»Man kann eine Menge mit jemandem machen, wenn man sein Muster hat«, sagte Orry nachdenklich. »Was hast du im Sinn? Und wieso gerade Delf?«
»Ich habe meine Gründe.«
»Darf man die erfahren?«
»Noch nicht. Wir konzentrieren uns zunächst darauf, an das Muster dieses Dreckskerls zu kommen, dann können wir vielleicht an einen Kurzurlaub denken, bevor wir uns Delf vornehmen.«
»Halcyon?«, schlug Ethan hoffnungsvoll vor.
Sein Vater verdrehte die Augen. »Wir werden sehen.«
Der Bildschirm stellte selbsttätig den Ton an. Stimmen erfüllten den Raum.
»… über den Tod seines Enkels und Erben Konstantin Larist Soltz, dem 3. Viscount Huish …«
Orry sah auf. Konstantins Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Sie las die Schlagzeilen, die darunter abliefen, mit wachsendem Entsetzen.
»Was …?«, begann Ethan, doch Eoin zischte ihn nieder.
»Schlichter-Oberst Zaitsew gab folgende Erklärung ab«, fuhr die Bildschirmstimme fort. Konstantins Gesicht verschwand, an seine Stelle trat ein Mann in einer schwarzen Uniform mit Kragenspiegeln in Form einer silbernen Faust. Das Gesicht unter dem stahlgrauen Haar wirkte wie aus Stein gemeißelt.
»Die brutale Ermordung des Erben eines der großen Häuser des Dominiums hat den gesamten Urquell schockiert. Ich komme soeben von einer Audienz beim Imperator mit der Anweisung, alle Kräfte des Schlichter-Corps zu mobilisieren, um die Schuldigen an diesem abscheulichen Verbrechen vor Gericht zu bringen. Aus der Dienerschaft Seiner Gnaden, des Grafen von Delf, ergingen eine Reihe von vielversprechenden Hinweisen. Wir sind zuversichtlich, dass die Verantwortlichen schnell zur Rechenschaft gezogen werden können.«
Eoins Züge waren hart geworden. Er sah Orry an.
»Sie glauben, dass wir das waren«, sagte sie mit dumpfer Stimme.
Er nickte.
»Was machen wir jetzt?«, fragte sie.
Er strich sich über das Kinn. »Lass mir einen Moment …«
»Sie können nicht uns für die Täter halten«, rief Ethan. »Konstantin war noch am Leben, als du Orry verhaftet hast.«
Eoin winkte verächtlich ab. »Was glaubst du, wie lange die Schlichter brauchen, um die Unterlagen über ihre Festnahme einzusehen und dahinterzukommen, dass jemand mit einem gestohlenen Abzeichen unterwegs ist? Du weißt, wie dürftig unsere Tarnung war – sie war nie dafür gedacht, einer Mordermittlung standzuhalten.«
Orry griff mit ihrem Integuar auf den Bildschirmfeed zu und überflog die Metadaten. Als ihr Gehirn Worte wie gefoltert und ausgeweidet auffing, legte sie den halb aufgegessenen Schokoriegel auf den Tisch.
»Wer könnte so etwas tun?«, fragte sie.
»Wen kümmert das?«, fauchte ihr Vater. »Die glauben, dass du es warst, und nur darauf kommt es an.«
»Aber sie können uns nicht finden«, sagte Ethan mit zittriger Stimme. »Oder? Sie wissen doch nicht, wie wir wirklich heißen.«
Eoin sah ihn strafend an. »Hast du die Überwachungsvideos gesäubert?«
»Wie? Nein – warum hätte ich das tun sollen?«
»Dann wissen sie, wie Orry aussieht. Und was ist mit dem Autocar und dem Giga-Roller?«
»Was soll damit sein?«
»Du hast sie unterwandert – hast du in den Systemen Spuren hinterlassen? Etwas, das die Schlichter zu uns zurückverfolgen könnten?«
»Ich – ich weiß es nicht.« Ethan wirkte so betroffen, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.
»Spar dir die Vorwürfe«, fuhr Orry ihren Vater an. »Du hast ihm nicht gesagt, dass er das alles tun soll – es war bisher noch nie erforderlich.«
»Aber so etwas sollte routinemäßig passieren. Jede professionelle Crew wüsste, dass …«
»Er ist erst vierzehn, Dad! Du hast uns ausgebildet – versuch jetzt nicht, die Schuld auf ihn abzuwälzen.«
Eoin sah aus, als würde er gleich explodieren. Er sah seine Tochter wütend an, dann stand er ohne ein weiteres Wort auf und stapfte davon.
»Wo gehst du hin?«, rief sie ihm nach.
»Auf die Brücke«, rief er über die Schulter. »Wir müssen sofort von diesem Felsen verschwinden.«
»Scheiße.« Sie schaute auf den Bildschirm. Der zoomte gerade eine Luftaufnahme des Delf-Anwesens heran. Rings um das Haus und auf den Rasenflächen dahinter wimmelte es von Schlichtern, und am See hatte man eine Tragluftkuppel aufgestellt. Sie sprang auf und eilte hinter ihrem Vater her.
»Was soll ich …?«, begann Ethan.
»Alles bereit machen für die Schwerelosigkeit«, rief sie ihm zu. Sie waren schon seit Wochen auf Tyr – lange genug, um beim Sichern von losen Gegenständen nachlässig zu werden.
Dominic Dulley: „Shattermoon – Der zerbrochene Planet“ ∙ Roman ∙ Aus dem Englischen von Irene Holicki ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 592 Seiten ∙ Preis des E-Books € 9,99 (im Shop)
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