17. Juni 2017 1 Likes

Rein ins Abenteuer

Eine Leseprobe zu J. Patrick Blacks Science-Fiction-Epos „Die Neunte Stadt”

Lesezeit: 10 min.

Der Sommer ist endlich da, und egal ob der Ausflug ins Schwimmbad, an den Strand oder an den See geht, ein richtig dicker Schmöker darf natürlich in keiner Badetasche fehlen. J. Patrick Blacks Debüt „Die Neunte Stadt“ (im Shop), das wir Ihnen in einer ersten Review bereits vorgestellt haben, hält da sicherlich für viele Sonnenstunden vor. Alle, die sich selbst noch einen Eindruck von dem Roman verschaffen möchten, finden hier eine ausführliche Leseprobe.

Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre!

 

1

Jax

Die Klausur läuft erst seit einigen Minuten, als die Sirene losgeht, und das Erste, was ich fühle, ist Erleichterung, obwohl ich weiß, dass das total falsch ist, dass ich so nicht empfinden sollte. Ich kann mich noch an die Panik erinnern, den Schrecken, der mich früher immer überkam, wenn ich die Atmosphäreneinfall-Sirenen gehört habe – das Signal, dass unsere Stadt angegriffen wird. Und ich weiß, dass sich die anderen aus meiner Klasse auch jetzt wieder so fühlen. Aber für mich ist es nun anders. Nachdem der erste Schock der heulenden Sirene verebbt ist, habe ich zwar Angst, aber es ist nicht dasselbe wie früher. Mich quält eher die Sorge, dass ich die anderen im Stich lassen werde, und selbst diese Angst hält sich noch in Grenzen, auch wenn sie sicher noch schlimmer werden wird. Aber für einen Moment, nur für einen kleinen Augenblick, bin ich erleichtert, denn auf diese Klausur bin ich echt nicht vorbereitet. Ich weiß, dass es verrückt ist, denn wer denkt schon: Hey, großartig, ich muss die Klausur nicht schreiben, weil alle anderen sterben werden!

Ich bin kein schlechter Schüler, wirklich nicht. Noch nicht einmal in Biologie, worum es in der Prüfung geht. Vor allem über Fotosynthese, die dafür sorgt, dass Pflanzen Sonnenlicht in Energie umwandeln. Das Problem ist, wann immer ich mich zum Lernen hinsetze, endet es damit, dass ich zum Handbuch der Akademie greife. Es ist kein langer Text, aber jedes Mal, wenn ich damit durch bin, fange ich wieder von vorne an, als würde ich die Antwort, nach der ich suche, finden, wenn ich es noch einmal lese. Als hätte ich sie bei den anderen hunderttausend Malen übersehen. Aber obwohl alle Regeln über das Leben an der Akademie in dem Handbuch stehen, erfahre ich daraus nicht, was ich wirklich wissen muss. Und es steht auch nichts über Fotosynthese darin.

»Stifte hinlegen, Kadetten.« Das ist Danyee, unsere Rhetorin. Alle in der sechsten Klasse, Sektion E, haben bei ihr Biologie, Physik und irrationale Mechanik. Gerade ist sie noch durch Reihen geschritten und hat jedem Einzelnen von uns über die Schulter geblickt, aber beim ersten Aufheulen der Sirene ist sie nach vorne gegangen. »Bitte in einer Reihe an der Tür aufstellen«, sagt sie mit ruhiger Stimme, fast fröhlich, als wäre dies einfach eine weitere Lektion.

Überall um mich herum knarzen Stühle unter den Pulten. Hinten im Raum kreischt ein Mädchen auf: Ihr Stift schreibt einfach weiter. Sie schlägt danach wie nach einer lästigen Fliege und blickt dann schuldbewusst um sich, ob jemand es bemerkt hat. Das haben wir alle, inklusive Rhetorin Danyee, die das Mädchen an der Hand nimmt und zur Reihe der Kadetten führt, die sich an der Tür bildet. Einen artifizierten Stift zu benutzen, verstößt gegen jede Regel, und jeder, der einen Blick in das Handbuch der Akademie geworfen hat, weiß das auch. An einem normalen Tag würde sie jetzt großen Ärger bekommen, aber nicht heute. Rhetorin Danyee, die normalerweise sehr streng ist, drückt beruhigend die Hand des Mädchens, bevor sie es in die Reihe führt. Sollte es morgen noch leben, können sie sich dann immer noch über eine Bestrafung unterhalten.

Ich bin Kadett 6-E-12, was bedeutet: sechste Klasse, Sektion E, Platz zwölf – also nehme ich den zwölften Platz von der Tür aus ein. Als ich die Reihe entlanggehe, spüre ich die Blicke der anderen Schüler – kein offenes Anstarren, denn wenn man sich in Reih und Glied befindet, muss der Kopf geradeaus gerichtet sein; aber sie beobachten mich aus den Augenwinkeln. Meine Uniform ist vom selben Grau wie die Uniformen der anderen Kadetten, und es befinden sich dieselben sechs schwarzen Streifen darauf wie bei allen anderen in der sechsten Klasse, aber es gibt niemanden in der Stadt, der mich mit einem normalen Jugendlichen verwechseln würde. Das Symbol in meinem Nacken, ein goldener Kreis mit einem zweiten Kreis in seinem Inneren, dient nur zur Erinnerung. Während der Schulstunden wird von meinen Kameraden erwartet, so zu tun, als wäre ich nur ein weiterer Schüler an der Akademie, aber das ist auch alles, was sie machen können: so tun, als ob.

In den letzten paar Monaten habe ich mich daran gewöhnt, dass mich alle komisch ansehen, habe mich an das Flüstern gewöhnt, das mich begleitet, wo immer ich auch hingehe. Nicht, dass die Leute gemein zu mir wären. Wenn überhaupt, sind sie überfreundlich. Manche Offiziere halten sogar an und salutieren oder gratulieren mir oder bitten mich, mir die Hand schütteln zu dürfen. Seit ich auf der Schule der Rhetorik angefangen habe, habe ich eine Menge Freunde gefunden, und meine alten Freunde sind mir auch geblieben. Die Kids in Sektion E scheinen in der Regel stolz auf mich zu sein. Aber nicht heute. Heute liegen die Dinge anders. Heute sind alle nervös, weil sie wissen, dass schon bald ihr Leben von mir abhängen könnte.

Von allen Elf- und Zwölfjährigen, die aus Sequester zurückkehrten, bin ich der Einzige, der sich als Fontanus entpuppt hat, und als jüngster Fontanus der Stadt ist es meine Aufgabe, den Menschen während eines Angriffs beizustehen. Die letzte Verteidigungslinie. In zehn Minuten könnte die Neunte Stadt komplett verschwunden sein, und ich müsste kämpfen, um diejenigen zu beschützen, die noch übrig sind. Und das erklärt die Blicke, die mir die anderen Kadetten jetzt zuwerfen: Sie fragen sich, ob sie mir ihr Leben anvertrauen können, diesem Jungen mit der langen Nase und dem gelockten braunen Haar, der irgendwie dürr und pummelig zugleich ist. Der zu den Schlechtesten der Klasse gehört, wenn es um Klimmzüge und Liegestütze geht, von Fünf-Kilometer-Läufen ganz zu schweigen. Der nie wirklich in irgendwas gut gewesen ist. Sie sehen den gleichen Jax, den sie seit zwölf Jahren kennen, nur, dass ich sie jetzt vor der Vernichtung bewahren soll. Sogar Rhetorin Danyee wirkt angespannt. Ich mache ihnen da keinen Vorwurf: Ich wünschte ja selbst, sie wären nicht von mir abhängig.

Als sich alle Kadetten der Sektion E in einer Reihe aufgestellt haben, öffnet Danyee die Tür, und wir verlassen das Klassenzimmer und bilden zwei Schlangen aus je zehn Leuten. Jeder bewegt sich reibungslos im Takt. Seit wir laufen können, haben wir Atmosphäreneinfall-Übungen absolviert. Die Bestzeit unserer Sektion für den Weg vom Klassenzimmer bis zum Bunker beträgt drei Minuten und zweiundvierzig Sekunden. Das ist alles so vertraut, ich vergesse beinahe, dass es echt ist. Aber nur beinahe.

Der Flur des Ostflügels ist voll mit anderen Sektionen – Kinder, die ganz ruhig in Zweierreihen gehen, jeweils von einem Rhetor geführt. Die Rhetoren stechen aufgrund ihrer schwarzen Legionärsuniformen hervor und weil sie meist um die zwanzig sind, so alt wie Danyee. Einige der Rhetoren für die höheren Klassen sind sogar noch älter, aber nicht die der Dodos, wie die Sechstklässler an der Akademie genannt werden. Es heißt, dass die Rhetoren keine jüngeren Kinder mehr unterrichten dürfen, wenn sie ihre erste Tour hinter sich haben.

Niemand spricht und alle blicken stur geradeaus; die einzigen Geräusche sind das rhythmische Stapfen unserer Akademieschuhe und das Heulen der Angriffssirene. Die Sirene ist ein Artifizium, so entworfen, dass es praktisch unmöglich ist, sie zu ignorieren, ein Geräusch, das aus der Luft selbst zu kommen scheint, wie Wasser, das sich an der Seite eines Glases sammelt. Ich frage mich, ob es ein echtes Heulen sein könnte – wie wenn jemand wirklich schreit. So sind Artifizien: Ganz gleich, wie präzise sie entworfen sind, man kann sich nie sicher sein, was sie wirklich machen.

Wir folgen dem Strom der Kadetten die breite Steintreppe des Ostflügels hinab bis ins Erdgeschoss, aber alle anderen gehen weiter in die tieferen Etagen, während Danyee uns ins Hauptfoyer führt. Vor einem hohen Steinbogen lässt sie uns anhalten; er wirkt wie der Rahmen einer großen Tür, wird aber von einer massiven Platte aus weißem Stein blockiert, dessen durchscheinende Oberfläche im schräg hereinfallenden Licht schimmert. »Adjutant Sektion E«, sagt sie und wendet uns das Gesicht zu. »Bericht.«

Elessa verlässt ihren Platz in der Reihe und tritt vor. »Kadett Adjutant Elessa erstattet Bericht, Ma’am«, sagt sie. »Klasse sechs, Sektion E: alle anwesend und in guter Verfassung.« An unserem ersten Tag an der Schule der Rhetorik, als Danyee uns anwies, einen Sektionsadjutanten zu wählen, waren sich alle sicher, dass es Bomar sein würde. Bei der Eingangsprüfung hatte er bei den Führungsqualitäten höhere Ergebnisse erzielt als alle anderen in unserer Sektion. »Siebenundneunzig Prozent«, sagte er mindestens zehnmal am Tag, damit es auch niemand vergaß. Für Bomar war seine hohe Punktzahl Grund genug, alle nach seiner Pfeife tanzen zu lassen; beim Essen befahl er den Leuten, ihm ihre Nachtischrationen zu geben – »zum Wohle der Sektion«. Elessa war die Erste, die aussprach, was alle dachten: Mit Bomar als Adjutant würde die Schulzeit furchtbar werden. Danach war das Wahlergebnis klar. Als es zur Abstimmung kam, gewann sie mit neunzehn zu eins Stimmen. Elessa ist clever und gut organisiert, und sie kann wahnsinnig viele Klimmzüge hintereinander machen. Sie scheint immer zu wissen, was zu tun ist – ich wette, sie wäre eine gute Fontana geworden. Stattdessen hat die Neunte Stadt mich bekommen.

»Sie übernehmen Sektion E«, teilt Danyee Elessa mit. »Bringen Sie Ihre Kadetten zum Bunker des Ostflügels, und melden Sie sich bei Ihrem Zenturioaspiranten.«

»Jawohl, Ma’am« Elessa dreht sich auf dem Absatz zu uns um. »Kadetten, folgt mir«, sagt sie und geht los. Die anderen marschieren hinter ihr her, bis nur noch ich übrig bin.

Danyee nickt mir knapp zu und lächelt sogar leicht, dann geht sie auf den Bogen mit seiner riesigen Steinmauer zu. Während sie das tut, erscheint eine Gestalt auf der Oberfläche: die Umrisse eines Mannes, wie der Schatten von jemandem, der auf der anderen Seite steht. Er hält einen Arm hoch, bedeutet uns so, anzuhalten, und aus der Wand kommt eine Stimme. »Es wurde ein Atmosphäreneinfall-Alarm ausgelöst«, tönt es tief und donnernd, mit einem ähnlichen Widerhall wie die Sirene, die noch immer durch die Luft heult. »Die Akademie der Neunten Stadt ist bis auf Weiteres geschlossen. Sämtliches Personal hat sich zu seinen zugewiesenen Bunkern zu begeben. Dies ist keine Übung.«

Die Stimme schweigt für einen Moment, dann fängt die Nachricht wieder von vorne an, hält aber an, als Danyee ihre Handfläche auf den weißen Stein legt. »Rhetorin Danyee von der Akademie«, sagt sie, »eskortiert Fontanus Jaxten zum Forum.«

Nach einem kurzen Augenblick sagt die Stimme: »Eintreten.«

Die weiße Wand verschwindet umgehend wie Nebel, der sich auflöst, und wir blicken auf einen Platz mit weiten Grünflächen und steinernen Wegen, leer und strahlend hell unter dem bewölkten Himmel. Sobald wir draußen sind, erscheint die Wand wieder hinter uns; ich höre nicht, wie es passiert, aber als ich zurücksehe, ist sie da.

Danyee hat eine kleine Metallscheibe aus ihrer Tasche hervorgeholt. Es ist ein Behälter, um Artifizien darin aufzubewahren, der ihr nur für einen Zweck gegeben wurde: mich während eines Angriffes zum Forum zu bringen. Ich hätte alleine genauso schnell dorthin gelangen können, aber die Akademie ist sehr streng und manchmal etwas uneinsichtig, wenn es darum geht, was Kadetten alleine tun dürfen. Tatsächlich gefällt es mir sogar besser so.

»Bereit, Kadett?«, fragt Danyee.

Sie scheint tatsächlich nervös zu sein, ich bin mir aber nicht ganz sicher. »Bereit, Ma’am.«

Danyee fährt mit zwei Fingern über die Oberfläche der Scheibe, und plötzlich ist alles verschwommen, der Boden unter uns erhebt sich wie der Wind, Fußwege und Treppen wirbeln mit orkanartiger Geschwindigkeit um uns herum.

Als sich die Welt wieder beruhigt, stehen Danyee und ich vor einem weiteren Steinbogen, locker doppelt so groß wie der letzte; er führt auf einen weiten Platz. Ich spüre, wie Danyee die Hand auf meine Schulter legt. Wir gehen unter dem Bogen hindurch, sie tritt zurück und salutiert. »Für mich ist hier Schluss, Sir«, sagt sie. Die ganze Prozedur steht in meinem Handbuch als Teil eines speziellen Anhangs nur für mich. Es fühlt sich seltsam an, wenn Erwachsene mir salutieren und mich »Sir« nennen, aber jetzt, wo wir uns nicht mehr auf dem Grundstück der Akademie befinden, stehe ich einige Ränge über Danyee.

»Jawohl, Ma’am«, sage ich und erwidere den Salut. »Von hier an übernehme ich.«

Doch statt zu gehen, kniet sich Danyee hin und umarmt mich fest. »Viel Glück, Sir«, flüstert sie. »Wir alle drücken Ihnen die Daumen.«

Die Umarmung überrascht mich völlig. Nirgendwo im Handbuch – nicht einmal im speziellen Anhang – steht etwas von Umarmungen, ganz zu schweigen davon, einen vorgesetzten Offizier zu umarmen. Soweit ich weiß, sind Umarmungen völlig regelwidrig. Ich murmle ein Dankeschön, und Danyee lässt mich los, auf ihrem Gesicht ein trauriges Lächeln. Sie salutiert noch einmal, dann ist sie mit einem Windstoß fort.

 

J. Patrick Black: „Die Neunte Stadt“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Markus Mäurer ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2017 ∙ 800 Seiten ∙ Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)

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