24. Mai 2022

Leseprobe „Der Klon“

Jens Lubbadeh beschwört in seinem neuen Roman eine düstere Vision der Zukunft herauf

Lesezeit: 9 min.

Wissenschaftsjournalist und Autor Jens Lubbadeh hat sich in den letzten Jahren mit hochkaratigen und wissenschaftlich fundierten Science-Thrillern einen Namen gemacht. Ob nun Marlene Dietrich oder die Neanderthaler – bei Jens Lubbadeh wird Vergangenes zur hochspannenden Zukunft. In seinem neuen Roman Der Klon“ (im Shop) lässt Jens Lubbadeh den größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte zurückkehren, er wirft so auch einen kritischen Blick auf unsere Gegenwart, die – wie man leider immer wieder feststellen muss – geprägt ist von einem Rechtsruck in der Gesellschaft, Populismus und sozialen Krisen. Unglaublich faszinierend und erschreckend realistisch nimmt uns „Der Klon“ mit auf eine düstere Reise in die nahe Zukunft.

„Der Klon“ erscheint am 7. Juni 2022, und allen, die sich einen ersten Eindruck verschaffen möchten, stellen wir hier eine Leseprobe zur Verfügung.

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BERLIN, 2033

Er war seinem Original ähnlicher geworden in diesen vier Jahren. Hagerer. Männlicher.

So viele Menschen hatte er sterben sehen. Es hatte sein müssen. Es war wichtig gewesen für seine Entwicklung.

Alina Schalk stand in der Eingangshalle des Berliner Flughafens und sah Arthur langsam und mit düsterer Miene auf sich zukommen. Sie war eine schlanke Frau, die dunkelblonden Haare zum Zopf gebunden, wie immer etwas zu straff, was ihren zielgerichteten Blick noch härter wirken ließ.

Er erkannte sie in der Menge, und sie sah, dass er einen Augenblick lang zögerte. Ihre Brille war neu. Sie hatte absichtlich rundliche Gläser gewählt, in der Hoffnung, ihre strengen Züge etwas weicher zu machen.

Alina Schalk lächelte. Sie freute sich tatsächlich, ihn zu sehen. Dennoch gehörte Lächeln nicht zu den Ausdrücken, die man häufig in ihrem Gesicht fand.

»Arthur!«, rief sie und lief ihm entgegen. Sie breitete die Arme aus, bereit, ihn zu umarmen, aber er ging nicht darauf ein.

»Hallo«, sagte er mit unbewegtem Gesicht.

Sie wusste: Er wollte nicht hier sein. Sie hatte ihn genötigt zurückzukommen. Hatte ihn aus seinem Leben gerissen, von seinen Freunden getrennt. Es war notwendig gewesen. Nach dem, was in Baghuz passiert war, hatte sie befürchtet, dass die Dinge entgleisen könnten.

Unsicher blickte er in die Menge der freudigen Menschen, die ihre Liebsten begrüßten. Das musste befremdlich für ihn sein. Er kam direkt aus dem Krieg.

Jetzt war er wieder hier. In Deutschland. In Berlin. In einer komplett anderen Welt als dem zerrissenen Syrien.

»Hattest du einen guten Flug?«, fragte Alina.

Arthur nickte. Wortlos ging er neben ihr her. Sie spürte, dass er nicht reden wollte.

Für ihn war sie immer eine Vertrauensperson gewesen. Eine gute Freundin seiner Mutter Rebecca, mit der er ein sehr enges Verhältnis gehabt hatte – bis zu ihrem Tod. Der Vater war natürlich ebenfalls schon tot, auch dafür hatte sie gesorgt. Sie war als Arthurs Vormund bestimmt worden, hatte ihm Geld gegeben, ihm eine Wohnung besorgt.

Ihn nach Syrien zu bekommen hatte langfristige Planung erfordert. Erst hatte sie ihm eine Reise nach Jordanien geschenkt – vorgeblich, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. In der Wüste des Wadi Rum würde er zu sich selbst finden. Diese Weite, diese Stille. Außerdem hatte sie ihn mit der Kunst gelockt: Die fantastischen Gesteinsformationen würden ihn inspirieren und großartige Motive bieten.

Sie lag richtig: Arthur flog nach Jordanien. Dort hatte er - »zufällig« natürlich – zuerst Andrew kennengelernt, den coolen Aussteiger und Abenteurer, der ihn mitgerissen hatte mit seinem Enthusiasmus und ihn mit nach Syrien nahm. Beide trafen sie dort auf Wadi, ebenfalls ganz zufällig.

Natürlich hatte Alina Schalk Missbilligung und Protest vorgetäuscht angesichts seines Vorhabens, mit Andrew und Wadi an die Front zu gehen – was hätte er auch anderes erwartet von einem Vormund.

Ihr Plan war aufgegangen.

Am Auto angekommen, zückte Arthur sein Zigarettenpäckchen und steckte sich eine an. Er hatte sich das Rauchen angewöhnt, was ihr nicht gefiel – sein Original war strikter Nichtraucher gewesen. Doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, weil sie seinen Groll nicht weiter anfachen wollte.

Ihr entging nicht, dass seine Hand zitterte, als er die Zigarette zum Mund führte.

Er nahm einen schnellen Zug und bemühte sich, das Zittern vor ihr zu verbergen.

Arthurs schmales Gesicht war härter geworden, das Kinn spitzer, die Wangen hohler. Unter seinen Augen lagen tiefe,

dunkle Ringe. Er wirkte noch ernster. Der Schnurrbart, den er sich hatte stehen lassen, machte ihn älter. Außerdem hatte er an Gewicht verloren. Der Krieg hatte ihn zum Mann gemacht. So sollte es sein.

Wie jedes Mal, wenn sie ihn sah, suchte sie in seinem Gesicht nach Ähnlichkeiten mit seinem Original. Die schwarzen Haare hatte Arthur sich in Syrien stoppelkurz rasieren lassen, was es schwerer machte, die Übereinstimmungen zu erkennen. Aber der Rest passte. Das längliche Gesicht, die eindringlichen blauen Augen. Auch Arthur hatte, wie sein Original, schlechte und schiefe Zähne gehabt. Aber sie hatte Rebecca gedrängt, sie ihm schon im Kindesalter zahnärztlich und mit Spangen korrigieren zu lassen.

Ansonsten ähnelte er dem jungen Adolf Hitler sehr. Sofern man das sagen konnte, es existierten ja nicht viele Bilder vom Führer aus diesen jungen Jahren. Nur eine Sache hatte sie immer gewundert: Arthurs Blick war einnehmend. Die Augen hatten auch das auffällige Blau, das an Hitler immer hervorgehoben wurde und das man leider auf den Schwarz-Weiß-Aufnahmen nicht erkennen konnte. Aber Schalk vermisste dennoch das Hypnotische in Arthurs Augen, das, was Hitler immer nachgesagt worden war: dass der Diktator jeden, der mit ihm sprach, nur mit dem Blick in seinen Bann schlagen konnte.

Nun, dafür gab es mehrere mögliche Erklärungen. Zum einen sahen Klone, entgegen allgemeiner Annahme, nicht immer einhundertprozentig so aus wie ihr Original. Kleinere Abweichungen waren möglich, so wie bei eineiigen Zwillingen ja auch. Moon hatte ihr und Bernd das immer wieder gesagt. Zum anderen war das menschliche Gedächtnis ein trügerischer Kamerad. Menschen verklärten ihre Erinnerungen, mystifizierten, dichteten hinzu. Hitler war eine Ausnahmegestalt gewesen, die meisten Zeitzeugenberichte stammten aus einer Epoche, in der er bereits eine Berühmtheit gewesen war. Wer konnte dem Führer gegenüber da noch objektiv sein?

Arthur rauchte weiter, während sie in Richtung Innen[1]stadt fuhren. Sie ließ ihn gewähren, obwohl sie Zigaretten[1]rauch hasste, vor allem in ihrem Auto.

Arthur inspizierte interessiert ihren Wagen.

»Elektro.« Sie zuckte mit den Schultern. »Unsere linke Regierung hat mich mehr oder weniger dazu gezwungen, meinen Verbrenner aufzugeben.«

Als er nichts sagte, redete sie weiter, um die Stille zu füllen. »Ich habe dir eine Wohnung in Prenzlauer Berg besorgt. Im Bötzowkiez. Wird dir gefallen. Altbau, Stuck, drei Zimmer, Balkon. Du hast jede Menge Platz.«

Er schwieg weiter und blickte aus dem Fenster. Sie fuhren durch Neukölln. Die türkischen und arabischen Läden rauschten an ihnen vorbei, getunte Teslas und BMWs mit modifiziertem künstlichen E-Motorensound dröhnten die Straße hinunter, bärtige dunkelhäutige Männer am Steuer, die Haare eigenwillig rasiert und zurückgekämmt. Alina Schalk spürte die Blicke aus den dunklen Augen auf sich, und sie musste gegen ihre Verachtung ankämpfen. Neukölln war der Abschaum Berlins, ein verlorener Stadtteil. Die ganze Stadt war verloren, eine Failed City, der nicht funktionierende Teil Deutschlands, wie es sogar einmal ein Grünen-Politiker formuliert hatte. Aber all das würde sich ändern. Sehr bald schon.

»Warum hast du mich zurückgeholt?«, fragte er. Seine Stimme war teilnahmslos. »Warum jetzt?«

Er sah sie von der Seite an, die Falte zwischen seinen Augenbrauen war bemerkenswert tief für sein Alter. Für einen Moment erkannte sie in seinem Gesicht einen Anflug von unbändiger Wut. Gut. Die Wut war Hitlers Lebensantrieb gewesen.

»Es war notwendig«, sagte sie ruhig. »Meinst du nicht? Nach Baghuz?«

Fast unmerklich zuckte er zusammen, als sie den Namen des Dorfes aussprach. Eigentlich hatte sie ihn noch eine Weile in Syrien lassen wollen. Aber nach dem Massaker hatte sie die Notbremse ziehen müssen. Sie hatte ihm mit Geldentzug drohen müssen, damit er zurückkam.

»Es ist besser so, Arthur. Glaub mir. Komm erst einmal wieder an. Akklimatisier dich. Außerdem würde Bernd dich gerne kennenlernen und dir etwas vorschlagen. Er lässt Grüße ausrichten.«

Arthur kannte Bernd Sörensen nur aus ihren Erzählungen – und natürlich aus den Nachrichten. Er wusste von Alinas politischen Aktivität, er kannte den »Deutschen Weg«, aber sie hatte es auf Geheiß von Sörensen stets vermieden, mit Arthur darüber zu sprechen. Es war zu früh gewesen, Hitler hatte als Jugendlicher auch noch keinerlei politisches Interesse oder Aktivitäten gezeigt. So hatte Sörensen es bisher auch abgelehnt, Arthur persönlich zu treffen. Er war sehr bedacht darauf, die Entwicklung des Jungen nicht in falsche Bahnen zu lenken. Nachdem Arthurs Vater »verunglückt« war, hätte der Junge jeden neuen Mann in seinem Leben als Vaterfigur akzeptiert – so jedenfalls Sörensens Sorge. Schalk fand es etwas übertrieben, aber so war Bernd nun mal: hochneurotisch.

Arthur kramte in seinem Rucksack, er war alles, was er an Gepäck hatte.

»Hast du viel gezeichnet?«, fragte sie.

Die Metallrolle an der Seite des Rucksacks war ihr sofort aufgefallen. Doch sie wusste es ohnehin von Andrew, wie sie alles wusste, was Arthur in diesen vier Jahren in Syrien getan hatte. Andrew, von dem Arthur dachte, dass er sein Freund und Kamerad sei. Der in Wahrheit von ihr und Bernd beauftragt worden war, Arthur zu beschützen – und zu überwachen.

Es war ihm sichtlich unangenehm, als sie ihn auf seine Zeichnungen ansprach, aber Alina Schalk spürte auch, wie etwas in ihm danach gefragt werden wollte. Er hatte die Ablehnung an der Kunsthochschule nie verwunden. Was er nicht wusste: Er hätte es eigentlich geschafft. Aber sie hatte dafür gesorgt, dass man ihm eine Absage erteilte. So sollte es sein, so war es auch dem jungen Adolf Hitler widerfahren.

Es war nicht schwer gewesen, der Direktor der Hochschule war mit seiner billigen kleinen Sekretärinnen-Affäre leicht erpressbar gewesen.

Arthur brauchte diese Erfahrung, um seinen Hass auf die Eliten, die Lehrer, die vermeintlich Gebildeteren und Besseren zu entwickeln.

Arthur war ein Eigenbrötler, versponnen, misstrauisch und absolut. Aber er war auch stolz, arrogant und narzisstisch. Er wollte die Bühne. Er wusste es nur noch nicht.

Doch das würde sich bald ändern.

»Ein wenig«, sagte er und steckte sich eine weitere Zigarette an. Sie wusste, dass Zeichnen ihm alles bedeutete. Die hohe Kunst. Und er ahnte vermutlich, dass die Bilder das Tor zu seiner Seele waren. Er wollte nicht, dass jemand hindurchschaute.

Arthur zögerte kurz, aber dann öffnete er die Rolle und zog die Blätter heraus, seine Miene war voller Selbstkritik. Zögernd hielt er sie Alina Schalk hin, die sie beim Fahren betrachtete.

Das oberste war eine Bleistiftzeichnung. Darauf war ein junger Mann zu sehen: Es war Wadi. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihn erkannte. Auch Wadi war, wie Andrew, gekauft. Auf dem Bild posierte er mit Kalaschnikow und Zigarette. Es sah ein wenig albern aus, machomännliches Kriegsgehabe, Stahlgewitter für Arme.

»Wer ist das?«, fragte sie.

»Wadi. Er war mein Kamerad. Mein Bruder.«

Die Erfahrung der Kameradschaft war wichtig für seine Entwicklung. Immer wieder hatte Hitler auf seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg verwiesen, wie wichtig die Verbundenheit mit den anderen Soldaten in seinem Regiment für ihn gewesen war. Die absolut ergeben und treu mit ihm zusammen für die gemeinsame Sache kämpften. Eine Erfahrung, die prägte, wie er die NSDAP formte und führte.

»Die Zeichnung ist gut«, sagte Alina Schalk anerkennend. Das war nicht gelogen. Arthur hatte ein genaues Auge, einen feinen Strich, der das Wesentliche herausarbeitete.

Er sah sie prüfend an.

Sie spürte seine Unsicherheit und schaute ihm ins Gesicht. »Richtig gut.«

»Danke.« Er packte die Zeichnungen wieder ein. »Ich habe viel gearbeitet in Syrien. Ich bin besser geworden.«

»Hast du auch fotografiert?«

»Ich hasse Fotos. Sie sind immer wieder nur enttäuschend. Ich habe auch versucht, Aquarelle zu machen, aber das war zu aufwendig an der Front. Ich habe mir vorgenommen, hier in Öl zu malen.«

Sie nickte, obwohl sie genau wusste, dass er das nicht tun würde – dafür würden sie sorgen. Es gab jetzt Wichtigeres als Malen.

Sie waren in Prenzlauer Berg angekommen. Langsam steuerte sie den Wagen in die Bötzowstraße.

Arthurs politische Erziehung stand bevor. So wie die von Hitler, nach dem Krieg, in seinen Jahren in München. Bald musste er eine Partei führen.

Dann ein Volk.

Und irgendwann ein Reich.

 

Jens Lubbadeh: Der Klon • Roman • Wilhelm Heyne Verlag, München 2022 • 480 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks € 15,00 (im Shop)

 

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