4. Januar 2022 3 Likes 1

„Stalker“ – Klassiker der Science-Fiction-Literatur

Perfekte Ausgabe eines großen Romans

Lesezeit: 4 min.

Es mutet vielleicht etwas merkwürdig an, die Vorstellung eines Literaturklassikers mit ein paar Worten zur Verfilmung beginnen. Die Tatsache, dass die Leinwandadaption „Stalker“ – zumindest im deutsch- und englischsprachigen Raum – ein gutes Stück bekannter als der Roman ist, rechtfertigt das aber allemal. Die Neuausgabe des Buchs (im Shop) trägt nicht ohne Grund den Titel des Films (der ursprüngliche lautet „Picknick am Wegesrand“), denn Andrei Tarkovski 1979 veröffentlichtes Sci-Fi-Drama, dessen Drehbuch ebenfalls von Arkadi und Boris Strugatzki geschrieben wurde, gilt allgemeinhin als einer der großartigsten Science-Fiction-Filme aller Zeiten und taucht regelmäßig weltweit auf Bestenlisten auf.

Erzählt wird von einer Expedition, die von einem Stalker (hier ein Begriff für einen Pfadfinder oder einen Ortskundigen) angeführt wird. Der Stalker begleitet einen Schriftsteller und einen Professor, in einen mysteriösen, verbotenen Bereich, der als die „Zone“ bekannt ist. In dieser, sich ständig verändernden, „Zone“ geht es nicht mit rechten Dingen zu. Es passieren merkwürdige Dinge und rätselhafte Erscheinungen sorgen für allerhand Spekulationen in Hinblick auf die Ursache: War ein Meteoriteneinschlag verantwortlich? Oder gar der Besuch von Außerirdischen? Jedenfalls soll in der „Zone“ ein Raum existieren, der die innigsten Wünsche der Menschen erfüllt und das Trio ist auf der Suche nach diesem Raum …

Tarkovskis philosophisches Epos ist zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen handelt es sich um einen extrem sperrigen, bewusst bedeutungsoffenen Film, der Themen, wie das Verhältnis zwischen Mensch und Natur zwar ankratzt, aber Eindeutigkeiten vermeidet und zudem noch in einem Tempo voran kriecht, das vermutlich schon für viele der damaligen Zuschauer nur mit Mühe zu schlucken war, heutzutage für manch einen aber mit Sicherheit wie chinesische Wasserfolter wirkt. Trotzdem hinterließ „Stalker“ einen dicken Fußabdruck in der Popkultur und übte nicht nur auf nachfolgende Schriftsteller-Generationen maßgeblichen Einfluss aus (ein Beispiel wäre die „Metro“-Serie von Dmitry Glukhovsky), sondern inspirierte ebenso die 2007 gestartete Videospiel-Reihe „S.T.A.L.K.E.R.“ (der neuste Ableger soll 2022 folgen). Die nicht nachlassende Faszination ist darauf zurückzuführen, dass die Reise in die verbotene „Zone“ dank faszinierender Bildgewalt (gedreht wurde unter anderem an einem kleinen, von einem nahe liegenden Chemiewerk verseuchten Fluss, was Tarkovski und ein paar seiner Mitarbeiter mit dem Leben bezahlten), die mit einem genial-minimalistischen Synthesizer-Soundtrack untermalt wurde, allein aufgrund der formalen Ebene bereits in den Bann zieht: Eine dermaßen dichte, apokalyptische Atmosphäre findet man selten. Und wer es noch schafft sich auf den Inhalt einzulassen, kommt am Ende eventuell etwas verwirrt, aber auf jeden Fall zutiefst erfüllt wieder aus dieser sonderbaren Welt raus. Unterhalb des Beitrags bekommt man gleich Gelegenheit einzutauchen, denn die Produktionsfirma Mosfilm hat Tarkovskis Meisterwerk 2017 auf Youtube offiziell zugänglich gemacht (gratis, allerdings nur mit deutschen Untertiteln).


Bild aus Tarkovskis „Stalker“

Nun aber zum Roman: Warum soll man noch zum Buch greifen, wenn man doch schon so ein toller Film existiert? Der Grund ist einfach: Buch und Film teilen diverse Elemente, gehen aber unterschiedliche Wege, was absolut faszinierend ist und sich prima ergänzt, denn der – in Punkto Figurenpersonal und Handlung umfangreichere – Roman, der teilweise übrigens ebenso zur Inspirationsquelle für die oben genannten Beispiele wurde, wie der Film – bildet das griffigere und weitaus zugänglichere Gegenstück zur Kinoversion, die trotz Mammutlänge nur eine Art nebulöses Destillat des Gedruckten darstellt (beispielsweise gibt es in Vorlage mehrere Exkursionen zur „Zone“, bei Tarkovski nur eine) und auch die Hauptfigur anders porträtiert: Tarkovskis Stalker ist weicher, verletzlicher als der Stalker auf dem Papier, der nicht nur einen echten Namen – Redrick Shewhart – hat, sondern in seiner ruppig-lakonischen Art ein wenig an die Antihelden aus den Noir-Romanen der 1940er-Jahre erinnert.

Trotz unterschiedlicher Mittel kreisen aber beide Varianten um das gleiche Thema: Das Wesen des Menschen. Die Expedition in die Zone führt die Protagonisten auch in ihre Innenwelt, sie erfahren sich selbst dadurch – und wir uns, vielleicht, auch (ein wenig) …

Absolut lobenswert – neben der exzellenten Neuübersetzung von M. David Drevsund vorbildlich ist die überaus interessante Ausstattung – eine noch ergiebigere Edition des Romans ist nicht mehr vorstellbar: Neben dem 14-seitigen Vorwort von Wladimir Kaminer, findet sich ein über 100-seitiger Anhang, mit einem Kommentar von Boris Strugatzki, einem Auszug aus dem Arbeitstagebuch der Strugatzkis, eine als frühe Erzählung angelegte frühe Drehbuchfassung und das schöne Essay „Stalker: Ein multimediales Phänomen“ von diezukunft-Autorin Elisabeth Bösl und David Drevs.

Arkadi & Boris Strugatzki: Stalker • Roman • Aus dem Russischen von M. David Drevs • Heyne Verlag, München 2021 • 400 Seiten • Erhältnlich als Paperback und Ebook • Preis des Paperbacks: 12,99 € (im Shop)

[bookpreview] 978-3-453-32101-4

Kommentare

Bild des Benutzers _9000_

Diesen großartigen Roman gibt es seit März 2024 auch kongenial düster von Jörg Hülsmann illustriert - in der Büchergilde Gutenberg. (Darf man hier eigentlich Werbung machen? Es ist aber zumindest die Übersetzung der Heyne-Ausgabe mit dem Kaminer-Vorwort.)

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