7. Februar 2020 3 Likes 1

Der Schlüssel zum Horror

Joe Hills „Locke & Key“: Vom Comic-Meisterwerk zur zeitgemäßen Netflix-Serie

Lesezeit: 5 min.

Die Comic-Serie „Locke & Key“ von Autor Joe Hill und Zeichner Gabriel Rodríguez zählt zum Besten, was die neunte Kunst des grafischen Erzählens im neuen Jahrtausend hervorgebracht hat – und ist medienübergreifend ein Highlight des Horror-Genres. Jetzt wurde der preisgekrönte Comic, dessen Adaption lange in der Schwebe war, als Netflix-Serie ins Heimkino gebracht. Grund genug, sich Original und Interpretation genauer anzusehen.

Joe Hill heißt eigentlich Joseph Hillstrom King und ist der Sohn von Bestsellerlistenkönig Stephen King (im Shop), dem Meister der Spannungsliteratur und des Horrors. Das weiß man seit Langem und stellt erst recht keinen Grund für hochgezogene Augenbrauen dar. Schließlich hat sich Hill ein eigenes Königreich der düsteren Fantastik und des Horrors aufgebaut und avancierte dank vieler guter Werke selbst zum Erfolgsautor, der früh aus dem Schatten seines Vaters trat. Unter seinem Pseudonym machte er zunächst mit Prosa-Kurzgeschichten auf sich aufmerksam, die später im grandiosen Band „Black Box“ gesammelt wurden. Danach schrieb er die Genre-Romane „Blind, Christmasland (unter dem Nummernschild-Originaltitel „NOS4A2“ bereits eine TV-Serie), das postapokalyptische „Fireman“ (im Shop) sowie das verfilmte „Teufelszeug“. Neben „Locke & Key“ steht Hills Name noch auf Comics wie „The Cape“, „Wraith – Todesfahrt ins Christmasland“, „Thumbprint“, „Tales from The Dark Side“ und sogar einem Spider-Man-Heft. Mit seinem Vater arbeitete der 1972 geborene Horror-Kronprinz am Comic „Road Rage“ und der ebenfalls von Netflix adaptierten Prosa-Erzählung „Im hohen Gras“ zusammen. Ende 2019 startete bei DC das Pop-Up-Imprint Hill House Comics, dessen Horror-Titel Joe Hill als Kurator betreut, während er selbst die King’sche Erzähltradition in der Serie „Basketful of Heads“ mit Zeichner Leomacs fortsetzt und die „The Thing“-Hommage „Plunge“ gemeinsam mit Ausnahmekünstler Stuart Immonen inszeniert.

 

Die Comic-Vorlage

Aber zurück zu „Locke & Key“, das auf Englisch bei IDW herauskam und auf Deutsch bei Panini in Paperbacks und Hardcover-Sammelbänden vorliegt. In den Comics fahren Hill und Rodríguez seit 2008 alles auf, was eine gute Geschichte aus den Gefilden des Horrors und der Fantasy ausmacht: Eine spannende Story, überzeugende Figuren, originelle Ideen, ein faszinierendes Setting und eine grandiose Atmosphäre. Darum geht’s: Nach der brutalen Ermordung ihres Vaters ziehen die Geschwister Tyler, Kinsey und Bode Locke mit ihrer Mutter in das alte Anwesen Keyhouse auf der Insel Lovecraft in Massachusetts, wo ihr Dad und sein Bruder aufwuchsen. Doch das Grauen verfolgt die Locke-Kids bis in ihr neues Zuhause, wo gefährliche Geheimnisse, rachsüchtige Geister und das ultimative Böse auf die Familie warten. Denn mit dem richtigen magischen Schlüssel und der passenden Tür kann man nicht nur die Seele vom Körper trennen und als Geist herumspuken, sondern vieles mehr öffnen: die finstere Vergangenheit genauso wie die Schädeldecke eines Menschen, um Dinge oder Wissen hineinzutun und herauszunehmen …

Wirklich coole Ideen, die Hill seinem Publikum serviert. Dazu kommt, dass er in Zeichner Gabriel Rodríguez einen kongenialen Partner gefunden hat, wie man so schön sagt. Rodríguez ist ein begnadeter Comic-Storyteller aus Chile, der 2003 erste Comics auf dem US-Markt veröffentlichte, als er mit Ashley Wood Panel-Fälle zur TV-Serie „CSI“ bebilderte. „Locke & Key“, das nach Abschluss der Haupthandlung bis heute sporadisch fortgesetzt wird, machte Rodríguez zum Top-Zeichner und Comic-Schwergewicht. Zu Rodríguez’ weiterem Schaffen zählen „Land of the Dead“, „Clive Barker’s The Great And Secret Show“, „Beowulf“ und „Onyx“. Außerdem illustrierte der 1976 geborene Chilene Eric Shanowers „Little Nemo: Rückkehr ins Schlummerland“ und zuletzt eine Comic-Aufbereitung von H. G. Wells’ zeitlosem Klassiker „Die Insel des Dr. Moreau“ – mit einer Protagonistin. Ferner zeichnete Rodríguez noch den Horror-Comic „Tales from the Darkside“, der nach Joe Hills Drehbüchern für eine nie realisierte TV-Serie entstand. Als Autor und Zeichner präsentierte Rodríguez zudem seinen eigenen Science-Fantasy-Comic „Sword of Ages“.

In „Locke & Key“ nutzen Rodríguez und Hill die Möglichkeiten des Comic voll aus. Sie brillieren, verblüffen am Laufenden Band – und liefern unterwegs sogar mal eine Hommage an Bill Wattersons Comicstrip-Klassiker „Calvin & Hobbes“. Das mit dem Eisner Award – dem amerikanischen Comic-Oscar – und dem British Fantasy Award ausgezeichnete „Locke & Key“ ist eine traumhafte Symbiose von Hills und Rodríguez Talenten als traditionsbewusste und doch innovative Geschichtenerzähler, die Text und Bild beherrschen. Eine fesselnde, finstere Geschichte und ein Prunkstück des Horrors und des Comics, und dabei hervorragend für den Erstkontakt mit dem Medium der Panels und Sprechblasen geeignet.

 

Die Netflix-Adaption: Locke & Key 2.0

Trotzdem dauerte es über zehn Jahre, bis die anvisierte Adaption in Film oder Fernsehen Realität wurde. Pläne für eine Filmtrilogie sowie eine Pilotfolge bei Hulu entpuppten sich zunächst als Fehlschläge. Doch 2020 war es so weit: Am 7. Februar startete die Serie mit zehn Episoden bei Netflix. Die Adaption von Carlton Cuse („Bates Motel“), Aron Eli Coleit („Star Trek: Discovery“) und Meredith Averill („The Good Wife“) wurde aus der gescheiterten Hulu-Fassung entwickelt. Hill, aber auch IDW-Comic-Verleger Ted Adams agieren als Produzenten, Hill schrieb überdies an einigen Folgen mit. In den Hauptrollen sind Darby Stanchfield („Scandal“) als Nina Locke, Jackson Robert Scott (Es“) als Bode Locke, Connor Jessup („Falling Skies“) als Tyler Locke, Emilia Jones („Utopia“) als Kinsey Locke, Aaron Ashmore („Killjoys“) als Duncan Locke und Laysla De Oliveira („Im hohen Gras“) als Dodge zu sehen – und sie alle machen ihre Sache wirklich gut.

Überhaupt ist die Netflix-Verwirklichung der Comics das, was man sich als Fan von einer guten Adaption wünscht: Eine gekonnte Neuinterpretation, die der Vorlage im Geiste treu bleibt und sie sogar oft motivisch zitiert, sich aber nicht zu ihrem Sklaven macht. Die Macher der Netflix-Serie sind nicht einfach nur in Hills schlüsselfertiges Haus des Horrors eingezogen; sie haben mit einiger Eigenleistung weit mehr daraus gemacht – und so kommt ihre „Locke & Key“-Variante als gelungener und starker Remix der ursprünglichen Bildergeschichten daher. Wer die Comics nicht kennt, ist garantiert am Haken und von Anfang an begeistert, und selbst Leser und Liebhaber des Originals bekommen eine coole, spannende Verquickung des Stoffes geboten, die sie schnell für sich einnehmen und mehr als einmal überraschen wird. Die Stimmung und die Effekte sind super, und die Veränderungen gegenüber dem Comic ergeben Sinn. Man hat sogar das Gefühl, Hill nutzt die Chance, seine Geschichte beim zweiten Mal und nach all den Jahren noch etwas besser und zeitgemäßer zu arrangieren (aus dem Ortsnamen Lovecraft wird in der TV-Serie so etwa Matheson – was explizit Hills Idee war, der in „Locke & Key 2.0“ bewusst Autorenlegende Richard Matheson huldigen wollte, zumal sich seine Sicht auf Horror-Altmeister H. P. Lovecraft geändert hatte, dessen Rassismus in den letzten Jahren oft thematisiert wurde)

Netflix hat die richtigen Schlüssel gefunden, um die Türen zur Welt von „Locke & Key“ und ihrem herrlich düsteren Sense of Wonder zu öffnen. Das Gesamtpaket stimmt, und Joe Hill selbst ist zurecht angetan von der Serie, die definitiv zum Bingen einlädt. Jetzt müssen nur noch alle Fans von Vater King, „Stranger Things“ und Co. mitziehen, damit „Locke & Key“ auf Netflix ein Erfolg wird und für viele Menschen die Welt der Comics aufschließt.

Fotos: © Christos Kalohoridis/Netflix

Comic-Seiten: © IDW/Panini

Kommentare

Bild des Benutzers Alexander Schlicker

Super Beitrag, der mir sofort Lust sowohl auf Vorlage wie Serie gemacht hat. Danke:)

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