5. April 2021 1 Likes

>>Wiederentdeckt: „The Black Holes“ von Borja González

Ein stimmungsvoller, faszinierender Comic zwischen Geek-Punk und Spuk-Gestalten

Lesezeit: 4 min.

Manchmal gibt es Romane, Comics, Filme oder Musik, die in der Zeit ihrer Entstehung durchs Raster fallen. Die veröffentlicht werden und dann einfach – verschwinden. Verschwinden, oder unverdienterweise vergessen werden. Manchmal lohnt sich aber ein zweiter Blick.

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Vor Kurzem schwärmte mir diezukunft.de-Kollege Bernd Kronsbein vom Comic „Gift for a Ghost“ des spanischen Künstlers Borja González vor, der 2020 auf Englisch erschienen ist. Die Leseprobe sah super aus, und wie das in solchen Fällen eben so ist, musste es dann genau dieser eine Comic sein, der als nächstes gelesen werden sollte, obwohl die Stapel ungelesener Werke hier Gebirgszüge bilden. Zum Glück erinnerte mich der besondere Zeichenstil der Preview im Netz daran, dass mit einem anderem Cover und unter dem Titel „The Black Holes“ bereits 2019 eine deutschsprachige Ausgabe bei Carlsen herausgekommen ist. Da man nicht alles interessant finden, geschweige denn lesen kann, hatte es dieser Comic seinerzeit bloß nie bis zu mir geschafft. Doch sobald dieses Problem behoben war, stand der Wiederentdeckung des übersehenen Juwels nichts mehr im Weg …

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„The Black Holes“ widmet sich zwei Frauengruppen in genauso vielen, genauso verschiedenen Epochen. Da sind zum einen die junge Teresa und ihre drei Schwestern im Jahre 1856. Eigentlich soll sich Teresa auf ihr Debüt in der feinen Gesellschaft vorbereiten und für diesen Anlass ein Gedicht schreiben – stattdessen verfasst sie Geistergeschichten, führt ein Alien-Pflanzen-Invasions-Schattentheater auf oder spaziert mit einem romantischen Skelett durch den Wald unter dem Sternenhimmel (tut sie das wirklich? Mehr dazu später). Ihre Mutter findet das gar nicht lustig, und ihre Schwestern, ob älter oder jünger, sabotieren die voller Fantasie und Ambition steckende Teresa, wo es nur geht. Und dann sind da im Jahr 2016 die drei jungen Freundinnen Gloria, Laura und Cristina, die mit mehr Ambition als Talent eine Pseudo-Punk-Band gründen wollen. Der Name The Black Holes steht als Zentrum des künstlerischen Unterfangens schon fest, vornehmlich von Wissenschaftler Stephen Hawking inspiriert. In ihren Liedtexten werden übersinnliche, morbide Fantasien und physikalische, kosmologische Fakten vermengt (ein Zitat aus dem Comic: „Stell dir vor, die Brontë-Schwestern tragen eine Studie über die thermonukleare Fusion der Sterne vor“). Ein Keller mit alten Comics, Postern, Tonträgern und einem Spielautomaten dient als Proberaum, obwohl keines der Mädchen ein Instrument spielen kann und sie lieber mit der Keytar wie mit einem Maschinengewehr posen oder alte Science-Fiction-Horrorfilme schauen.

Zum Schauen und Staunen verleitet auch „The Black Holes“, denn Borja González’ Artwork ist ein Traum. Am ehesten lässt es sich als atmosphärische Mischung aus Mike Mignolas „Hellboy“ und den Comic-Strips von Tom Gauld beschreiben: Reduziert im Strich und in der Form, abgeflacht in den Farben, bei allem Minimalismus jedoch beeindruckend stimmungsvoll und ausdrucksstark (González zeichnet z. B. keine Gesichter, was die emotionale Bandbreite seiner Figur in keiner Weise schmälert – ein Kunststück); obendrein jederzeit vollkommen sicher, was das Seitenlayout, die Kontraste und das gesamte visuelle Storytelling angeht. Man kann von handwerklicher Panel-Perfektion sprechen und weiß gar nicht, welche Szene einen am meisten ins Schwärmen versetzt: Teresa und das Skelett, die auf einem Hügel in einem Wäldchen den Sternenhimmel betrachten; die verhinderte Musikerin, die meistens ein Kostüm trägt und kurz mal die Godzilla-Kluft ablegt, um nackt im See baden zu gehen; oder die Geek-Höhle im Keller, die mit nerdig-nostalgischen Materialien vollgestopft ist. Gestalterisch ist der ganze Band Seite für Seite, was man so gern als große Comic-Kunst bezeichnet.

Die Faszination der Geschichte dahinter und darum zu erklären, stellt schon eine größere Herausforderung dar. „The Black Hole“ ist nichts für Freundinnen und Freunde einfacher, linearer Bildergeschichten. Die Schnitte, die González macht, sind so schwierig wie extravagant, derweil er mit Katzen, Schmetterlingen, Schatten und anderen Motiven von einer Zeit in die andere blendet, manchmal nicht einmal in chronologisch direkter Folge oder synchron zum Text. Das Verständnis der Story selbst muss man sich verdienen, und selbst dann wird man beim ersten Anlauf nicht alle feinen Fäden sehen, die Vergangenheit und Gegenwart episodenhaft durch ein permanentes metaphysisches Wurmloch bzw. Schwarzes Loch (sprich: Black Hole) der Symbolik verbinden. Außerdem will die bruchstückhafte und doch vielschichtige, immer ein bisschen surreale Geschichte der Frauen im Damals und im Heute (Männer spiele keine Rolle in diesem Comic) decodiert und interpretiert werden. Geht es um Identität, Feminismus, Einsamkeit, Selbstfindung, Unabhängigkeit, Fantasie und Kunst, Außenwelt und Innenleben, Träume und Realität, Erwartungen und Erfüllungen, all dies zusammen und noch mehr? Dieser Raum für Fragen und Deutungen ist ebenso gewollt wie groß. Autor und Zeichner González will, dass wir puzzlen, knobeln, überlegen und uns über jeden blitzartigen Aha-Momente der Erkenntnis freuen, wobei es definitiv nie um Richtig oder Falsch geht. Und wem das nicht reicht, kann noch die Outtakes und Zusatzillustrationen aus dem Anhang rückwirkend einsortieren.

Zu all dem passt das dringende Bedürfnis, diesen grafisch wie inhaltlich außergewöhnlichen Comic am besten gleich noch einmal zu lesen, sobald man ihn durch hat, um die Szenen und Elemente abermals von allen Seiten zu betrachten und weitere Verknüpfungen zwischen den Passagen und zwischen den Zeit- und Bedeutungsebenen herzustellen. Also, gleich noch mal von vorn! Wieso auch nicht? Einen Comic wie „The Black Holes“ liest man schließlich nur selten, davor und danach kommen viele inflationäre, oft weit weniger reiz- und kunstvolle Bildergeschichten. Was also könnte sinniger sein, als den wunderschön inszenierten Mysterien und Symbolen dieses Bandes, so tief, unergründlich und anziehend wie schwarze Löcher und so funkelnd und schön wie Sterne, in weiteren Durchgängen nachzuspüren?

Abb.: © 2018, Borja González Penguin Random House Grupo Editorial S. A. U; © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2019

Borja González: The Black Holes Carlsen, Hamburg 2019 • 128 Seiten • Hardcover: 22,00

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