11. November 2019 5 Likes

Abenteuerlustige vortreten!

Musiktipps: Klänge von morgen, die Du bereits heute hören kannst!

Lesezeit: 8 min.

Was einem jahrzehntelangen Musikjunkie wie mich heutzutage ganz besonders ärgert ist der Umstand, dass das Angebot an Musik dank dem Internet so groß ist, wie nie zuvor, aber das Publikum aus einem immer kleineren Pool fischt. Statt auf die Jagd zu gehen, wird gern genommen, was Werbung oder Algorithmen in die Lauscher spülen. Und auch entsprechende Zeitschriften bemühen sich oftmals nicht wirklich tatsächlich Interessierten ein breites Themen-Spektrum anzubieten, sondern grasen lieber die Presseverteiler der Majors ab. Dabei gibt’s da draußen am Wegesrand soviel mehr zu entdecken …

Im Folgenden deswegen ein kleiner, streng subjektiver Streifzug durch die aktuelle elektronische Musik – im Mittelpunkt stehen dabei Acts, die mir nicht nur ganz besonders am Herzen liegen, sondern die ihr eigenes, innovatives Süppchen kochen (weswegen man mir gnädigerweise eventuell unscharfe Genrebezeichnungen verzeihen möge).

(Ganz unten sind Hörproben zu allen Tipps verlinkt – falls sich die Veröffentlichung irgendwo komplett konsumieren lässt, ist das unter „Mehr“ notiert)

 


Lussuria (links) und Vatican Shadow (rechts)

1. Lussuria: Three Knocks (Hospital Productions)

Wer? Leider nicht allzu viel bekannt – ein gewisser Jim Mroz, der sich einstmals in Black-Metal-Bands musikalisch verausgabte und ab 2011 die Synthesizer anwarf …

Warum geil? … um sich zu einem der innovativsten und eigenwilligsten Ambient-Musiker der letzten Jahre zu mausern. Lussuria besticht durch eine oftmals neblige, irgendwie außerweltlich klingende Lo-Fi-Mischung aus Drone-Sounds, Field Recordings, zahlreichen, aber nie so wirklich greifbaren Referenzen an alten Horror- und Exploitationfilme und einer oftmals unheilschwangeren, unglaublich gruseligen Atmosphäre, die wohl von Mroz’ Black-Metal-Zeiten rübergeschwappt ist. Tipp: Licht aus, Anlage aufdrehen, zurücklehnen, zuhören: Der Mann weiß, was das Wort Kopfkino wirklich bedeutet!

Mehr: Facebook, Bandcamp-Seite des Labels „Hospital Productions“, auf der man sich „Three Knocks“ komplett anhören kann.

 

2. Vatican Shadow: Church Of All Hallow’s Eve (Hospital Productions)

Wer? Einer meiner ganz, ganz, gaaaanz großen Favoriten: Dominick Fernow. Der extrem umtriebige Experimentalmusiker, Multimedia-Künstler und Poet macht seit 1998 unter einer Vielzahl von Pseudonymen mit einer nicht abreißenden Flut von Veröffentlichungen (hier gibt’s einen Überblick) und seinem Kult-Label Hospital Productions von sich reden.

Warum geil? Unter seinem bekanntesten Pseudonym Vatican Shadow bietet Fernow eine verhältnismäßig zugängliche Mischung aus Industrial-Techno und Dark Ambient an, die ein wenig an die britische Elektronik-Legende Muslimgauze erinnert. Man sollte bei Fernow aber niemals von einem auf das andere schließen. Der ursprünglich aus dem Noise-Bereich stammende Musiker kann zum Beispiel (meist als Prurient) ebenso dafür sorgen, dass einem die Ohren abfliegen – der Mann ist ein Überraschungsei auf zwei Beinen, das das Wunderwerk geschafft hat, trotz hunderter Veröffentlichungen nie gleich zu klingen.

Mehr: Bandcamp-Seite mit verschiedenen Alben zum Anhören. (Fernow verzichtet trotz einer gewissen Prominenz übrigens bis heute auf Facebook, Twitter & Co. – Wow!)

 


Rainforest Spiritual Enslavement (links) und Prurient (rechts)

3. Prurient: Noise for Halloween Night (Hospital Productions)

Wer? … und gleich noch mal Dominick Fernow, dieses Mal unter dem soeben erwähnten, berühmt-berüchtigten Noise-Pseudonym Prurient …

Warum geil? … allerdings ist man auch bei den verschiedenen Etiketten des Mr. Fernow nie vor Überraschungen sicher, so wurde die eigentlich für fiesesten Elektronik-Lärm bekannte Abteilung in den letzten Jahren hier und da durch überraschend zugängliche, eher Techno-, oder Ambient-lastige Veröffentlichungen aufgebrochen. „Noise for Halloween Night“ ist eine weitere Abweichung vom Konzept – hier überrascht Fernow mit einem sehr stimmungsvollen, stark von alten John-Carpenter-Soundtracks beeinflussten, aber stets auf eigenen Füßen stehenden Album, das weit entfernt vom im Titel angekündigten „Noise“ liegt.

Mehr: Bandcamp-Seite des mehrfachen Prurient-Labels Profound Lore mit weiteren, allerdings deutlich härteren Alben, die man anhören kann – besonders empfehlenswert „Frozen Niagara Falls“ von 2015.

 

4. Rainforst Spiritual Enslavement – Panama Canal Left-Hand Path (Hospital Productions)

Wer? … und weil alle guten Dinge drei sind gleich noch mal Dominick Fernow – dieses Mal mit seinem Ambient-Projekt „Rainforest Spiritual Enslavement“ (in dem sich gelegentlich aber auch leichte Ausbrüche Richtung Techno finden).

Warum geil? Wird dem ein oder anderen beim ersten Hören vielleicht etwas zu ruhig sein, ist aber sehr feinsinnig, atmosphärisch gewebter Stoff für ruhige Stunden, dem man ruhig eine Chance geben sollte.

Mehr: Bandcamp-Seite, auf der man sich „Panama Canal Left-Hand Path“ und weitere Alben anhören kann.

 


Varg (links) und Alberich (rechts)

5. Varg - Sky City: Even In The Heart Of Heaven Angels Can Still Feel Fear & A Weak Heart To Break (Spit) (Northern Electronics)

Wer? Ein weiterer Fleißarbeiter: Hinter Varg verbirgt sich der Schwede Jonas Rönnberg, der – wie Jim Mroz – eigentlich vom Black Metal kommt, aber seit 2013 eine konstante Flut von Elektronik-Veröffentlichungen zusammenkocht …

Warum geil? … die oft Richtung Techno tendieren, sich aber durch eine dunkle, frostige, im Fall von „Sky City“ durchaus futuristische Atmosphäre auszeichnen.

Rönnberg ist der Provokateur unter den Elektronikern, postet auf Instagram Bildern oder gibt gerne auch unverhohlen zu, Tracks auf seinem Tablet oder seinem Smartphone zusammengebastelt zu haben, was in der Hardware-besessenen Szenen natürlich einem Sakrileg gleichkommt. Wurscht, die Leichtigkeit mit der der junge Künstler fernab jeglicher Trends eine hörenswerte Veröffentlichung nach der anderen raushaut, ist beachtlich.

Mehr: Facebook, Instagram, Soundcloud, Bandcamp-Seite von Vargs Label „Northern Electronics“, auf der man sich beide Teile von „Sky City“ und weitere Veröffentlichungen von ihm und meist befreundeten Künstlern aus seinem Umfeld anhören kann.

 

6. Alberich – Quantized Angel (Hospital Productions)

Wer? Hinter Alberich verbirgt sich Kris Lapke, der sich in den letzten 20 Jahren als Tontechniker nicht nur um zahlreiche Veröffentlichungen von Kumpel Dominick Fernow gekümmert, sondern als Alberich auch neue Maßstäbe in Sachen Industrial oder – vielleicht die treffendere Zuschreibung – heavy electronics gesetzt hat …

Warum geil? … dabei handelt es sich um eine donnernde, meist verzerrte Mischung aus vorwärts preschenden Rhythmen, Spoken-Word-Einlagen, Soundkollagen und kurzen Ambient-Einsprengseln. Für Leute, die’s wild mögen, aber die werden es mögen.

(Und für Leute, die’s nicht mögen, aber an Lussuria Gefallen gefunden haben: Beide hatten sich 2016 für das fantastische – deutlich ruhigere – Album „Borgia“ zusammengetan!)

Mehr: Komplettes Album zum anhören.

 


SØS Gunver Ryberg (links), JH1. FS3 (Mitte) und Talkre (rechts)

7. JH1. FS3 – Trials and Tribulations (Dais Records)

Wer? Hierbei handelt es sich um ein Projekt des mir unbekannten Jesse Sanes (der unter anderem als „Liebestod“ tätig ist) und der mir dafür umso bekannteren und hochverehrten Schwedin Frederikke Hoffmeier, die seit 2011 als Puce Mary mit einer scheppernden Mischung aus Industrial, Noise und Ambient für komplett zerstörte Trommelfelle sorgt.

Warum geil? Irgendwo zwischen verträumt und nervös-beunruhigend pendelnde, stets vorwärts treibende, hypnotische Mischung aus verschiedenen Sounds und Einflüssen, die einen sofort in Beschlag nimmt. Außerdem mag ich Hoffmeiers frostiges Organ.

Mehr: Komplettes Album zum Anhören.

 

8. SØS Gunver Ryberg – Entangled (Avian)

Wer? Dänische Künstlerin, die nicht nur eine ganze eigene Form von Techno kreiert, sondern auch Soundtracks für Spiele und Filme, Sound-Installationen und Musik für Theatervorführungen im Programm hat.

Warum geil? Bringt ebenso wie die anderen vorgestellten Künstler eine stark persönliche Note in ihrer Musik: Irgendwie Techno, aber in der Verwendung der Sounds und der – für sie charakteristischen – starken Betonung von diversen rhythmischen Elementen, doch ganz eigen. Eine fesselnde, pulsierende, treibende Veröffentlichung und wie jedes gute Album eine Welt für sich.

Mehr: Komplettes Album zum Anhören. Bandcamp-Seite der Künstlerin mit weiteren Alben zum Anhören, Offizielle Webseite

 

9. Talkre – Tannhauser Gate EP (Dispatch Recordings)

Wer? Leider keine näheren Angaben, jedenfalls ein Newcomer, der August letztes Jahr auf der Bildfläche erschienen ist …

Warum geil? … und mit seinem cinematischen Drum’n Bass-Sound sofort für helles Entzücken gesorgt hat. Auf der „Tannhauser Gate EP“ heißt die Inspirationsquelle – man ahnt es bereits – „Blade Runner“ und zur Komposition wurde ein Yamaha CS-50 benutzt, der kleinere Bruder des CS-80 mit dem Vangelis einst seinen Kult-Soundtrack zu Ridley Scotts Übermeisterwerk zusammenrührte. Sci-Fi-Clubsound im wahrsten Sinne des Wortes; man sieht sich regelrecht selbst durch finstere, verregnete, neonlichtdurchflutete Großstädte tanzen.

Mehr: Komplette EP zum Anhören, Soundcloud, Facebook, Instagram

 


Dibia$e (links) und Ras G (rechts)

10. Dibia$e – Bonus Levels (10 Thirty Records)

Wer? Dahinter verbirgt sich Donell McGary, der aus der gleichen kalifornischen Beat-Schmiede wie der auf dieser Seite schon mehrfach umschwärmte Flying Lotus kommt und etwa zur gleichen Zeit anfing, Musik zu veröffentlichen, es anders als sein mittlerweile überaus prominenter Kollege aber nie so richtig ins Rampenlicht schaffte …

Warum geil? … was aber natürlich nichts dran ändert, dass Dibia$e seit über 10 Jahren zuverlässig kleine Perlen abliefert und auch „Bonus Levels“ enttäuscht nicht: Melodien alter Nintendo- und Sega-Spiele wurde gesampled und in ein zeitgenössisches Beat-Gewand gepackt, dass nicht nur schön neben dem Takt rumpelt, sondern zudem mit herrlich dreckigen Basslines begeistert.

Mehr: Bandcamp-Seite, auf der man sich „Bonus Levels“ und weitere Alben anhören kann, Twitter

 

11. Ras G – Dance of the Cosmos (Akashik Records) / Down 2 Earth, Vol. 3 & 4 (Ghetto Sci-Fi Music)

Wer? … und da wir es gerade mit kalifornischen Beatbastlern haben: Beim am 29. Juli dieses Jahres leider frühzeitig verstorbenen Gregory Shorter Jr. a.k.a. Ras G dürfte es sich wohl um einen der einflussreichsten und faszinierendsten Künstler dieser Sparte gehandelt haben.

Warum geil? Der stark von Jazz-Legende Sun Ra beeinflusste Porter entwickelte eine vom Afrofuturismus durchströhmte, abstrakte Mischung aus elektronischen Beatfrickeleien, Jazz-Elementen und Boom Bap, die schnell süchtig macht (zum Glück war der Mann ganz schön fleißig).

Mehr: Bandcamp-Seite, auf der man sich „Dance of the Cosmos“ anhören kann, Ras Gs offizielle Bandcamp-Seite, auf der man sich „Down 2 Earth“ Vol. 3 & 4 und viele weitere Alben anhören kann.

 


Teebs (links) und yuk (rechts)

12. yuk. – Paraiso EP (Leaving Records)

Wer? Heißt mit echtem Namen Chad Velencia und ist im wahren Leben eigentlich Co-Besitzer und Chef des philippinischen Restaurants LASA in Los Angeles, was wohl der Grund ist, wieso sich der gute Mann nur selten musikalisch zu Wort meldet.

Warum geil? Wenn, dann handelt es sich aber jedes Mal um Produktionen aus einer anderen Welt. Eine kaum fassbare, stets wie kurz vor dem Zusammenbruch klingende Mixtur aus Field Recordings, schleppenden, teilweise sehr exotischen Rhythmen, überraschend eingängigen Melodien, Sound-Loops, knarzenden Bässen und vieles mehr – alles verpackt in einer knusprigen Lofi-Soundästhetik. Gehört zu meinen ganz großen Favoriten, hoffentlich dauert’s nicht wieder fünf Jahre bis zur nächsten Veröffentlichung …

Mehr: Komplette EP zum Anhören.

 

13. Teebs – Anicca (Brainfeeder)

Wer? … und gleich noch ein Kalifornier: Teebs heißt in Wirklichkeit Mtendere Mandowa, veröffentlicht in erster Linie auf Flying Lotus’ Label Brainfeeder und ist außerdem noch Maler, was sich in der sehr geschmäcklerischen Gestaltung seiner Cover zeigt.

Warum geil? Flying Lotus meinte einmal, dass Teebs klingt, wie „Avatar“ aussieht. Das würde ich jetzt nicht unbedingt unterschreiben, denn im Unterschied zu James Camerons Plastikmärchen hat die Musik einen warmen, organischen Vibe und zeigt auch Jahre später keinerlei Abnutzungserscheinungen. Teebs ist aber tatsächlich ein wenig das Kuschelbärchen unter den kalifornischen Beatbastlern und erzeugt mit einer vielfältigen, sehr träumerischen Soundpalette kleine imaginäre Planeten, auf denen man den ganzen Tag unter strahlender Sonne am blauen Meer liegt und einen Cocktail nach dem anderen schlürft. „Annica“ ist übrigens um einiges vocallastiger als die Vorgänger und kratzt schon ein wenig am Pop. Wer hiermit nicht so ganz warm wird, sollte den Vorgängern eine Chance geben.

Mehr: Bandcamp-Seite, auf der man sich „Annica“ und weitere Alben anhören kann, Twitter, Facebook, Offizielle Webseite

Alle Abb.: Discogs

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