18. Mai 2023

Tortuga: Stoner- oder schon Lovecraft-Rock?

Kosmischer Horror beim Konzert in Kultkneipe

Lesezeit: 7 min.

So kann’s gehen: Letztes Jahr per Zufall nicht nur eine wundervoll Band, sondern eine mindestens ebenso tolle Location entdeckt und gleich an ihr kleben geblieben: Die kleine Gaststätte Zille im beschaulichen Göppingen trotzt seit 1981 ziemlich konsequent den sich immer schneller und schneller drehenden Uhren. Deswegen tritt man nicht nur in eine Gaststätte, sondern immer auch ein wenig in eine andere Zeit ein. Durch das Interieur schweben die Geister längst vergangener Jahrzehnte, hinter den Tresen steht ein super netter Mann mit Rauschebart und verlangt Getränkepreise, die man – wenn überhaupt – nur noch aus fast verblassten Erinnerungen kennt. Es ist alles so urig und gemütlich, dass man sich schnell wohl, oft auch etwas zu wohl fühlt – die Versuchung über die Strenge zu schlagen ist natürlich gigantisch. Besonders toll: Im liebevoll „Ballsaal“ genannten Hinterzimmer werden regelmäßig Konzerte veranstaltet, und auftreten tun da mitnichten nur lokale Musikanten: Kleine und etwas größere Bands aus ganz Europa und aus Übersee geben sich – meist im Doppelpack – die Ehre.

Und da die Konzertabende ebenso human bepreist sind, lädt das neugierige Menschen (wie mich) natürlich ein, auch einfach mal hinzugehen, selbst wenn man bis zur Ankündigung noch gar nichts von den Künstlern gehört hatte. Und das war am 13. Mai der Fall. The Temple aus Griechenland und Tortuga aus Polen standen auf dem Programm und da auf dem Flyer zum Abend der gute, alte Cthulhu aus der allseits geliebten Kult-Prosa von Howard Phillips Lovecraft (im Shop) zu sehen war, entfachte das natürlich besonders große Neugierde und siehe da: Die Grundlage für den aktuellen Longplayer von Tortuga, „Deities“ waren Lovecrafts Gottheiten.


Tortuga

Zuerst aber durften The Temple dran, deren Auftritt was von einer Messe hatte. Nicht nur, dass die „Bühne“ (in der Zille steht man direkt vor der Band, Publikum und Musiker gehen hier praktisch eine Symbiose ein) in einem teuflischen Rot ausgeleuchtet und links und rechts Kerzen platziert wurden, die vier Griechen warteten mit selbst für Doom-Metal Verhältnisse ziemlich finster-melancholisch-traurigen Riffs auf und sangen ihre oft sehr langen Lieder dazu gerne im Chor und leicht jammrig. Nicht schlecht, doch der Funke sprang nicht so ganz über – aber vielleicht ist so eine Frohnatur wie ich auch nicht unbedingt das richtige Publikum.

Sehr cool dann Tortuga, die in einer Mischung aus Giftgrün und sattem Blau, garniert mit ordentlich Trockennebel, ihre recht ausgefallenen Kompositionen zum Besten gaben. Offiziell sitzt die Band in der Stoner-Rock-/Stoner-Doom-Schublade, aber es werden immer wieder kleine oder größere Schlenker in andere Bereiche wie Jazz oder Black Metal gemacht, weswegen viel Abwechslung gegeben ist. Schön auch: Trotz Lovecraft-Thematik (am Ende erhielt dessen cosmic horror via Synthesizer-Drone eine direkte musikalische Vertonung) kam der Humor nicht zu kurz und es gab einen Song über einen eifersüchtigen Schlangengott …

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… aber dazu mehr im nun folgenden Teil, denn der denkwürdige Auftritt war Anlass für ein kurzes Gespräch mit Pablo, einem Mitglied der Band:

Kannst Du etwas zum Background von Tortuga sagen? Was ich ungewöhnlich finde: Eure Musik wird ja offiziell mit Stoner Rock oder Stoner Doom etikettiert, aber euer Album ist alles andere als straight – es finden sich auch viele weitere Einflüsse. Vor allem war ich überrascht, dass das letzte Lied („Galeón de Manila“) auf dem Album nahezu ein Black-Metal-Epos ist …

Tortuga gibt’s jetzt seit sechs Jahren. Ich hatte die Band mit drei anderen Typen gegründet. Wir wollten Stoner Rock/Stoner Doom ohne eine klare Richtung spielen. Die Besetzung hat sich mittlerweile verändert, aber unsere bisherigen beiden Alben („Tortuga“, 2017; „Deities“, 2020) wurden von den gleichen Leuten (Krzysiek, Heszu, Marmus und mir) eingespielt. Wir hören privat viele unterschiedliche Genres, versuchen aber beim Musikmachen schlicht und einfach Spaß zu haben und uns von Schubladen nicht einengen zu lassen. „Galéon de Manila“ ist ein Spezialfall – hier wurde zuerst die Story des Songs geschrieben. Und die Mischung aus Stoner Doom und Black Metal war einfach die beste Möglichkeit, die Geschichte musikalisch umzusetzen.

Kannst Du ein bisschen was zur Produktion von „Deities“ sagen? Seit Ihr alle Lovecraft-Fans oder hat einer von euch die anderen zu einem Album mit Lovecraft-Motto überzeugt? Ich mochte übrigens sehr, dass das Album einen ganz bestimmten Sound hat … nicht wirklich Lofi, aber auch nicht poliert. War das von Anfang an so geplant oder hatte sich das während der Produktion ergeben?

Zuerst zur Produktion: Wir sind zu 100% eine Do-it-yourself-Band. Glücklicherweise ist einer unser Bandmitglieder auch Tontechniker, weswegen wir die Möglichkeit haben, alles selbst aufzunehmen.

Das Schlagzeug wurde auf dem Land in einer alten Scheune aufgenommen, Gitarren und Vocals in dem Gebäude, das wir für Proben nutzen. Aber wir wählen immer sehr sorgfältig die passenden Mikrofone und Abstände aus, um diesen typischen, atmosphärischen Sound zu erreichen, von dem du gesprochen hattest, deswegen freut uns das natürlich sehr, das es dir aufgefallen ist und du es erwähnst.

Das Lovecraft-Thema geht auf mich zurück. Ich war damals ziemlich begeistert von Lovecraft und hab aus diesem Grund angefangen meine eigenen Lovecraft-Geschichten zu schreiben. Auf Basis der Geschichten hab ich dann die Songs auf „Deities“ kreiert. Jeder Song widmet sich einem anderen Lovecraft-Gott, mit all den Besonderheiten, die jeder von ihnen hat. Aber um ehrlich zu sein: Die anderen Bandmitglieder waren sehr schnell überzeugt, mochten die Idee und die Atmosphäre und fanden beides passend für unsere Musik.

Was ich an „Deities“ auch toll find: Das Album schwelgt nicht nur in Düsternis, sondern glänzt ebenso mit Humor. Was hat dich denn zu einem Song („For Elizard“) über einen Lovecraft-Gott inspiriert, der Godzilla beneidet, weil der berühmter ist? Ein weiterer überraschender Zug auf dem Album, denn Lovecraft wird zwar mit vielen in Verbindung gebracht, aber definitiv nicht mit Humor … und sag mir jetzt bitte nicht, dass du Godzilla tatsächlich nicht magst?

Um ehrlich zu sein, wir mögen zwar Doom, aber blödeln auch gerne viel rum. Ich glaub meine Lieblingsband ist Type O Negative. Falls du sie nicht kennst: Das ist eine stark Gothic-angehauchte Metal-Band, die normalerweise über traurige Dinge singt, aber außerdem humorvolle Passagen in ihrer Musik hat. Ich mochte den Ansatz immer, traurige Dinge mit Humor zu nehmen, das Leben ist zu kurz, um die ganze Zeit traurig und angepisst zu sein.

Und ich versichere dir, ich hasse Godzilla nicht! Ich fand’s nur lustig, dass der Schlangengott Yig sich über diese andere verdammte Echse beschwert, die all die Aufmerksamkeit abkriegt. Ich hab mir immer vorgestellt, dass Yig während einer Standup-Performance in einem Club all diese Sachen sagt.

Was fasziniert Dich an Lovecraft? Welche ist deine Lieblingsgeschichte und warum?

Ich würde sagen, dass das Faszinierende an Lovecraft nicht nur die Bücher sind, sondern auch die Welt, die in Form von Büchern von anderen Autoren, Filmen, Brett-, Video- und Rollenspielen (ich hab mit meinen Freunden immer „Call of Cthulhu“ gespielt und bin immer als erstes gestorben – man würde denken, dass es einfach ist, einen simplen Zombie zu erschießen, aber die Würfel sehen das anders) drumherum gebaut wurde. Kurz vor Beginn der Tortuga-Tournee hab ich ein Videospiel angefangen, was gerade rauskam. „The Last Case of Benedict Fox“. Ein „Metroidvania“-artiges Spiel mit einer unglaublichen lovecraftschen Atmosphäre – Pflichtspiel!


Tortuga: „Deities“, Songtitel-Illustrationen und Inspiration: For Elizard - Yig, Shining Sphere - Juk Shabb, Esoteric Order - Dagon

Meine Lieblingssgeschichte ist „Berge des Wahnsinns“ (im Shop). Ich mochte die Idee des Buchs immer. Als der Titel erstmals herauskam, wussten die Menschen ja noch nicht, was man im Inneren der Antarktis finden kann. Lovecraft stellte sich diese zyklopischen, alten Städte vor. Würde man das heutzutage schreiben, wär’s nicht schockierend, aber vor einem verdammten Jahrhundert muss das unglaublich zu lesen gewesen sein. Wenn ich die Geschichte lese, versuche ich sie immer aus dem Mindset eines Menschen von damals zu lesen.

Kannst Du schon was zu euren Zukunftsplänen verraten? Gibt’s schon News zum nächsten Album?

Wir haben das dritte Album gerade aufgenommen, kurz vor unserer Tournee. Wir werden das genaue Veröffentlichungsdatum in den nächsten Tagen bekannt geben, aber es wird mit Sicherheit im letzten Quartal dieses Jahres erscheinen.


Tortuga: „Deities“-Cover

Das Album wird sich sehr von „Deities“ unterscheiden. Es wird sehr Science-Fiction-mäßig, aber nicht von Lovecraft inspiriert. In den letzten Jahren habe ich viel Science-Fiction gelesen (Die „Die drei Sonnen“-Saga von Cixin Liu – im Shop – sogar gleich zweimal, das ist nun meine Lieblingssaga) und sechs Science-Fiction-Geschichten geschrieben, die von verschiedenen Ären unseres Universums handeln – vom Anfang bis zum Ende der Zeit. Und diese Geschichten waren die Grundlagen für die Songs auf dem neuen Album.

Außerdem haben wir einen neuen Schlagzeuger, Marcin, denn der alte (Marmur) musste die Band leider verlassen. Marcin hat davor noch nicht in einer Doom-/Stonerband gespielt, was uns in Hinblick auf eine musikalische Horizonterweiterung half.

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Das aktuelle Album von The Temple lässt sich hier anhören und erwerben (Digital, CD, Vinyl), „Deities“ von Tortuga gibt’s hier – entweder als Pay-what-you-want-Download oder als Hardware (CD, Vinyl) zum Kaufen.

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