Die zweite Invasion der Marsianer
Warum ich das Erbe von H. G. Wells angetreten habe
In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts hätte sicherlich niemand gedacht, dass ich noch einmal eine Fortsetzung zu einem H.-G.-Wells-Roman schreiben würde …
„Das Ende der Menschheit“ ist nicht mein erstes Wells-Sequel. 1995, vor über zwanzig Jahren, wurde „Zeitschiffe“ veröffentlicht, die Fortsetzung zu „Die Zeitmaschine“ von 1895. Damals inspirierte mich die Frustration, die ich als junger Leser angesichts des Endes von Wells‘ Roman empfunden hatte: Was geschieht mit dem Zeitreisenden, nachdem er ein zweites Mal in die Zukunft aufgebrochen ist? Tatsächlich habe ich eine Weile lang nach einer offiziellen Fortsetzung gesucht - die Wells nie geschrieben hat. Als sich dann das Jahr 1995 und damit das hundertjährige Jubiläum von „Die Zeitmaschine“ näherte, kam mir der Gedanke, dass es vielleicht an der Zeit sei, mich selbst an einer Fortsetzung zu versuchen. Ich dachte mir schon, dass ich nicht der einzige frustrierte Fan sein könne, und ich behielt recht damit. Um „Zeitschiffe“ schreiben zu können, recherchierte ich intensiv zu den Hintergründen von „Die Zeitmaschine“ und versuchte, H. G. Wells‘ Schreibstil nachzuahmen. Ich schickte seinen Zeitreisenden in eine Zukunft, in der der Zweite Weltkrieg anders ausgegangen war – ein Krieg, von dem Wells nichts wissen konnte, als er „Die Zeitmaschine“ schrieb, den er jedoch später selbst miterlebte.
Bei „Das Ende der Menschheit“ lief es etwas anders. Seit „Zeitschiffe“ war ich mit den „Wellsianern“ in Kontakt geblieben, der internationalen H. G. Wells Society; sie hatten den Roman, den ich 1995 zusammen mit einer Abhandlung über „Die Zeitmaschine“ auf einer Konferenz zum hundertjährigen Jubiläum vorgestellt hatte, sehr wohlwollend aufgenommen. Ich wusste diesmal also sehr viel mehr über H. G. Wells als vor zwanzig Jahren - tatsächlich bin ich derzeit der Vizepräsident der H. G. Wells Society. 2016 veranstalteten wir zum 150. Geburtstag des Autors zwei Events in Woking, jener Kleinstadt, in der „Krieg der Welten“ spielt. Der erste Event war eine internationale Konferenz, auf der ich einer der beiden Keynote-Speaker war; der zweite war eine Feier anlässlich der Enthüllung einer neuen Wells-Statue, an der etliche seiner Nachfahren teilnahmen, die ich dort kennenlernen durfte. Durch Änderungen im britischen Urheberrecht war es eigentlich nicht nötig, dass der H. G. Wells Estate „Das Ende der Menschheit“ autorisierte (anders als bei „Zeitschiffe“), aber sie taten es trotzdem und mit Wohlwollen.
Wieder versuchte ich, die literarischen Techniken zu nutzen, die Wells im Original verwendet hat. Auch meine Erzählerin hat die (jetzt: zweite) Invasion der Marsianer miterlebt und schreibt mehrere Jahre später darüber. Außerdem greife ich einige der grundlegenden Themen aus „Krieg der Welten“ auf, insbesondere den Platz des Menschen in einem komplexen Kosmos, in dem es mehr als eine Spezies gibt. Mein Buch ist auch vom Ersten Weltkrieg inspiriert, der vor hundert Jahren stattgefunden hat; „Krieg der Welten“ enthält berühmt gewordene Vorhersagen – beziehungsweise Warnungen – in Bezug auf die großen, mechanisierten Kriege des 20. Jahrhunderts, und es finden sich auch Hinweise auf die Spannungen zwischen Großbritannien und Deutschland. Meine Fortsetzung beschreibt zwar einen anderen, post-marsianischen Großen Krieg, aber als ich „Krieg der Welten“ noch einmal las, fiel mir eine dieser Vorhersagen besonders auf: Wie einfühlsam der noch sehr junge H. G. Wells einen der Schrecken unserer Zeit, die posttraumatische Belastungsstörung, beschrieben hat. Das Krankheitsbild wurde erst um 1916 als „Schützengrabenneurose“ definiert, zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von „Krieg der Welten“. Wells arbeitete die Entwürfe zu seinem Roman immer wieder um, sodass die Symptome in seinem Erzähler deutlicher hervortraten. Auch das greife ich in meiner Fortsetzung auf.
„Das Ende der Menschheit“ zu schreiben machte mir viel Spaß. Meine Recherchen zu den unterschiedlichsten Themen kulminierten in einer wahren Art-déco-Orgie, in der die Marsianer unseren Planeten zerstören. Vor allem war es mir ein Anliegen, die Invasoren an Orten landen zu lassen, die ich selbst besucht habe, wie Melbourne und Berlin. Und daher mussten die Mars-Zylinder in bester Hollywood-Manier dieses Mal auch auf Manhattan fallen …
Stephen Baxter, 1957 in Liverpool geboren, ist der erfolgreichste britische Science-Fiction-Autor der Gegenwart. Für seine H.-G.-Wells-Fortsetzung „Zeitschiffe“ (im Shop) wurde er mehrfach preisgekrönt. Zuletzt sind bei Heyne seine Romane „Proxima“ (im Shop), „Ultima“ (im Shop) sowie „Das Ende der Menschheit“ (im Shop) erschienen.
Bild © SciFiNow.co.uk
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