Besoffen im Weltraum
Wie uns Alkoholkonsum dabei helfen kann, die Mysterien des Kosmos zu entschlüsseln
Folgende Geschichte ist wie für diese Kolumne gemacht. Und sie ist auch viel zu gut, um sie für mich zu behalten.
Sollten Sie nicht durch Cixin Lius Bestseller Die drei Sonnen oder einen twitternden Astrophysiker mit dem Dreikörperproblem vertraut sein: Kurz gesagt geht es darum, wie verschiedene sehr große Körper – beispielsweise Planeten - aufeinander reagieren. Befinden sich lediglich zwei solche Körper in unmittelbarer Nachbarschaft, dann lassen sich ihre Bahnen problemlos vorhersagen. Man muss nur Variablen wie ihre Masse oder ihre Position in eine bestimmte mathematische Gleichung einsetzen.
So weit, so einfach. Kompliziert wird es allerdings, wenn ein dritter Körper hinzukommt. Dann herrscht plötzlich Chaos. Wenn man drei Planeten oder Asteroiden hat, die sich (relativ) nahe sind, kann man die ganze schöne Formel vergessen. Es sind einfach zu viele Variablen. Jeder Körper kann zu jedem Zeitpunkt tausend verschiedene Bahnen einschlagen, und es ist unmöglich vorherzusagen, wie die beiden anderen darauf reagieren. Vielleicht umkreisen sie sich in einer einigermaßen stabilen Laufbahn, vielleicht stoßen sie zusammen, vielleicht fliegt einer einfach ins All hinaus … Wir wissen es nicht.
Mir ist bewusst, dass das eine sehr vereinfachende Erklärung ist, aber es geht nicht anders. Ich bin leider nicht der Richtige, um Ihnen die Feinheiten dieses speziellen himmelsmechanischen Rätsels zu erklären; was Begriffe wie „effektives Potenzial“, „resultierende Kraft“ oder „Nullvektor“ angeht, verfüge ich bestenfalls über ein solides Halbwissen. Wie auch immer, die Wissenschaftler schlagen sich schon seit Newtons Zeiten mit diesem Problem herum. Es erschwert die Erforschung anderer Planeten immens, insbesondere derjenigen, die um einen Doppelstern kreisen.
Manchmal werden wissenschaftliche Probleme durch Fleiß und unzählige Arbeitsstunden im Labor oder in der Bibliothek gelöst, durch das Aufstellen von Gleichungen und das Prüfen von Hypothesen. Manchmal reicht es aber auch, sich hemmungslos zu betrinken.
Und genau so wurde das Dreikörperproblem gelöst. So ungefähr jedenfalls: von Wissenschaftlern, die sich Gedanken über betrunkene Menschen gemacht haben.
In der Fachzeitschrift Physical Review X erschien vor Kurzem ein Artikel mit dem schönen Titel „Analytical, Statistical Approximate Solution of Dissipative and Nondissipative Binary-Single Stellar Encounters“. Die Autoren – die Physiker Yonadav Barry Ginat und Hagai B. Perets vom israelischen Technologieinstitut Technion – behaupten, dass man das Dreikörperproblem lösen kann, indem man Betrunkene beim Gehen beobachtet.
Genau genommen gehen Betrunkene nicht, sie torkeln. Stellen Sie sich jemanden vor, der sternhagelvoll auf einer Straße unterwegs ist: Es ist unmöglich vorherzusagen, in welche Richtung ihn sein nächster Schritt bringen wird. Seine Bewegungen sind aufgrund einer alkoholinduzierten Links-Rechts-Schwäche völlig zufällig. Wenn man aber weiß, dass der Betrunkene mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit entweder nach links oder nach rechts taumelt, kann man auch die Wahrscheinlichkeit der Richtung berechnen, die er einschlägt. „Man kann die Wahrscheinlichkeit für jede mögliche Geschwindigkeit des dritten Körpers berechnen“, erklärte Ginat auf Space.com. „Und die Gesamtheit dieser Wahrscheinlichkeiten ist die Wahrscheinlichkeit, mit der sich ein Dreikörpersystem zu einem weit in der Zukunft liegenden Zeitpunkt verhält.“
Ist das nicht großartig? Ist das nicht über den Tellerrand hinausgeblickt? Und das Beste daran ist: Sobald man weiß, wie man die Wahrscheinlichkeit von etwas berechnet, kann man alle möglichen Variablen einsetzen. Der Planet, der den Doppelstern umkreist, hat einen Mond, der Gezeiten hervorruft und die Gravitation minimal verändert? Kein Problem – einfach alles in die Betrunkenengleichung einsetzen und – Prosit! – fertig ist die Laube.
Allerdings ist diese Gleichung nicht vollständig verifiziert, sie muss noch an ein paar Spezialfällen des Dreikörperproblems überprüft werden (die meinen Horizont, ehrlich gesagt, übersteigen). Trotzdem – eine gute Nachricht zu einem Zeitpunkt, an dem die Welt gute Nachrichten dringend gebrauchen kann. Die Bestimmung der Planetenpositionen erleichtert die Weltraumforschung ungemein (beispielsweise bei der Berechnung von Flugbahnen). Wenn Sie mich also jetzt entschuldigen – ich gönne mir zur Feier des Tages ein Bierchen.
Rob Boffard wurde in Johannesburg geboren und pendelt als Autor und Journalist zwischen England, Kanada und Südafrika. Er schreibt unter anderem für „The Guardian“ und „Wired“. Seine Romane „Tracer“ (im Shop), „Enforcer“ (im Shop) und „Verschollen (im Shop) sind im Heyne-Verlag erschienen. Alle seine Kolumnen finden Sie hier.
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