24. September 2018 5 Likes

Begegnungen

Wovon wir reden, wenn wir von „Wir“ reden

Lesezeit: 5 min.

„Reihe um Reihe düsterer Bögen aus Lehmziegeln. Fledermausdreck. Wespennester in den Balken. Sonnenlicht fällt auf die Riedgrasmatten, wie die Strahlenbündel eines Brennglases. Der Marabut unterbrach seine Gebete, um mir einige Fragen zu stellen. ‚Gibt es ein Volk, das Merikaner heißt?’, fragte er. – ‚Das gibt es.’ – ‚Man sagt, sie haben den Mond besucht.’ – ‚Das haben sie.’ – ‚Sie sind Gotteslästerer.’“

Über diese Begegnung, die sich in der Djinguereber-Moschee in Timbuktu zutrug, berichtet Bruce Chatwin in seinem wunderbaren Buch „Traumpfade“ – und an diese Begegnung musste ich denken, als ich vor einigen Tagen den neuesten Trailer zum bald anlaufenden Neil-Armstrong-Film First Man sah. Der Trailer endet mit dem berühmten Satz von dem „kleinen Schritt“ für einen Menschen und dem „riesigen Sprung“ für die Menschheit. Wieso fiel mir dabei jene Stelle in „Traumpfade“ ein? Bestimmt nicht, weil ich der Meinung bin, Armstrongs Schritte auf dem Mond hätten irgendetwas mit Gotteslästerung zu tun. Nein, es ist die so selbstverständliche Verwendung des Wortes „Menschheit“ in diesem Satz, die mich darauf gebracht hat, dass „Menschheit“ gar nichts Selbstverständliches ist.

Neil Armstrong sah sich als Repräsentant der Menschheit. Und warum auch nicht? Immerhin spazierte er als erster Vertreter jener speziellen Variante von Trockennasenprimaten, der eine Reihe evolutionärer Zufälle den aufrechten Gang, die Sprache und die Fähigkeit, die Welt symbolisch wahrzunehmen, beschert hat, auf dem Erdtrabanten herum. Armstrong war ein Homo sapiens, kein Zweifel, aber das heißt noch lange nicht, dass er für „die Menschheit“, für „den Menschen“, für „uns“ stand – das macht die Lektüre von „Traumpfade“ eindringlich klar.

Wenn man in einer mit Science-Fiction getränkten Gesellschaft aufgewachsen ist, tut man sich mit einem solchen Gedanken allerdings eher schwer. Schließlich hat kein anderes Genre, keine andere Kunst das Kollektivsubjekt „Menschheit“, das im Wesentlichen ein Produkt der westlichen Philosophie des 18. Jahrhunderts ist, so konsequent verarbeitet: Erst in der Science-Fiction ist die „Menschheit“ zu einem wirkmächtigen Protagonisten ihrer eigenen Geschichte geworden. Das hatte und hat häufig einen ziemlich defensiven Charakter, wenn es gilt, ebendiese Menschheit beziehungsweise die „menschliche Zivilisation“ vor allerlei Unbill (Aliens, Roboter, schwarze Löcher, Verschwörerbanden) zu bewahren; nicht selten wurden und werden aber auch ganz offensiv „menschliche Werte“ zelebriert, die „uns“ früher oder später zu einer einzigen großen, den Weltraum bereisenden Familie machen (tatsächlich hatte es etwas fast schon Revolutionäres, dass Gene Roddenberry Star Trek von Beginn an auf dieser Prämisse aufbaute).

Vermutlich hatte Neil Armstrong ebenfalls so einen einigenden Appell im Sinn, als er seine berühmten Worte formulierte, und ja: Man könnte es sich durchaus wünschen, dass sich die Menschheit mehr und mehr nicht nur als biologische, sondern auch als politische, soziale und ethische Gemeinschaft versteht. Politisch, sozial und ethisch aber gibt es keine „Menschheit“, gibt es kein „Wir“; es gibt Nationen, Gesellschaften, Religionen und unzählige andere kulturelle Formationen, die sich als Gesinnungsgemeinschaften begreifen und sich vor allem darüber definieren, in welcher Weise sie sich von den Gesinnungen anderer Gemeinschaften unterscheiden. Das war in der Geschichte des Trockennasenprimaten namens Mensch nie anders, und doch hat sich das kollektive „Wir“, hat sich „die Menschheit“ als feste rhetorische Figur in dieser Geschichte etabliert.

Ja, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat dieses „Wir“ wieder einmal Hochkonjunktur: Bestsellerautoren wie David Christian oder Yuval Noah Harari propagieren es als historisches Subjekt, um ihre „Big History“ nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Zukunft zu erzählen. Und es wird darüber debattiert, ob sich dieses „Wir“ sogar dafür qualifiziert, einem ganzen Erdzeitalter einen Namen zu geben, dem „Anthropozän“, also „unserem“ Zeitalter, in dem „wir“ respektive „der Mensch“ respektive „die Menschheit“ gleichsam zu einer geologischen Kraft geworden sind.

Dieses anthropozäne „Wir“ ist natürlich Unsinn, weil es die erwähnte politische, soziale und ethische Fragmentierung der Menschheitsfamilie mit sich bringt, dass die entsprechenden Wirkungen der unterschiedlichen Gesinnungsgemeinschaften auf den Planeten ganz unterschiedlich groß sind (so wie die unterschiedlichen Gemeinschaften von diesen Wirkungen insgesamt auch ganz unterschiedlich betroffen sind). Man sollte bei dieser Diskussion also eher darauf achten, wann genau von „der Menschheit“, von „dem Menschen“, von „uns“ die Rede ist. In den allerseltensten Fällen geht es nämlich darum, über wohlbekannte soziale oder kulturelle Gräben hinweg das Loblied der „einen Menschheit“ zu singen (wer die politische Debatte der letzten zehn Jahre verfolgt hat, dürfte gemerkt haben, dass der diskursive Zug hier eher in die Gegenrichtung unterwegs ist). Sondern dieses „Wir“ wird insbesondere dann zur Anwendung gebracht, wenn es darum geht, sich zu exkulpieren. Wenn es um Themen wie Gentechnik, Artensterben, Klimawandel oder künstliche Intelligenz geht, die politischer eigentlich nicht sein könnten, ist plötzlich „der Mensch“ an sich am Werke und verantwortlich, was nichts anderes heißt als: Niemand ist verantwortlich. Denn dieser „Mensch“, dieses „Wir“ meint immer alle und gleichzeitig alle anderen. Dieses „Wir“ ist ein politischer Kampfbegriff, um politische Debatten zu ersticken – auf privater Ebene genauso wie auf gesamtgesellschaftlicher.

Dieses „Wir“ ist aber noch mehr: Es zeigt, wie sehr sich eine bestimmte soziale Formation mit „der Menschheit“ an sich gleichsetzt. Das Anthropozän ist nämlich weniger das „Zeitalter des Menschen“, sondern das Zeitalter eines spezifischen Zivilisationsmodells, das darauf setzt, die Erde in etwas zu verwandeln, das den Bedürfnissen dieses Modells entspricht. Da ich selbst ein Teil dieses Zivilisationsmodells bin, kann ich nur schwer beurteilen, ob eine derartige Gleichsetzung in anderen Modellen ebenso dominant ist, aber ich weiß, dass man im Anthropologie-Studium bereits im ersten Semester lernt, dass Zuschreibungen wie „Kultur“, „Zivilisation“, „Werte“ und nicht zuletzt auch „Bedürfnisse“ immer relativ sind, also immer von einem bestimmten Standpunkt aus definiert werden und ihre Wirksamkeit entfalten. Es gab und gibt Zivilisationen, die ein völlig anderes Selbstverständnis haben als „unsere“; es gab und gibt Zivilisationen, die etwa den Weltraumflug und alles, was damit zusammenhängt, nicht zwangsweise als den nächsten logischen Schritt in der Entwicklung „der Menschheit“ betrachten.

In „Traumpfade“ begegnet Bruce Chatwin einer Vielzahl von Menschen, die aus solchen anderen Zivilisationen stammen (das Gespräch in der Djinguereber-Moschee ist da nur ein kurzer Absatz), und zuweilen entwickelt sich aus diesen Begegnungen eine Art gemeinsames Verständnis von einem Objekt, einem Ereignis oder sogar einer Geschichte. Dieses Verständnis ist äußerst fragil und läuft immer wieder Gefahr, verloren zu gehen, aber ich glaube, dass nur über derartige Begegnungen eines Tages wirklich ein „Wir“ entstehen kann. Denn ein „Wir“ ist nichts, was man einfach so behaupten kann.

Ein „Wir“ muss man sich erarbeiten.

 

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