29. Dezember 2021

Die Leseprobe – Eve Smith: „Der letzte Weg“

Eine Vorableseprobe aus der großen Gesundheitsdystopie von Eve Smith, ab 10.01.2022 im Handel

Lesezeit: 14 min.

Wer es nicht besser wüsste, könnte meinen, Eve Smith hätte mit „Der letzte Weg“ (im Shop) den großen Corona-Pandemieroman geschrieben. Aber der Text ist davor entstanden – und trifft dennoch schmerzhaft auf den Nerv unserer Zeit.

Eve Smith: Der letzte WegBevölkerungsschwund, Bioterrorismus und Medikamentenknappheit gehören im England der nahen Zukunft zum Alltag. Die Regierung hat deshalb ein ebenso radikales wie fatales Gesetz erlassen: Personen über siebzig bekommen keine Antibiotika mehr. Werden sie krank, bleibt ihnen nur noch das Warten auf den Tod oder der Suizid. Kate ist Krankenschwester, doch statt ihre Patienten gesund zu pflegen, hilft sie ihnen nun beim Sterben. Nach einem dramatischen Ereignis beschließt Kate, sich auf die Suche nach ihrer Mutter zu machen, und stößt auf ein lange gehütetes Geheimnis …

Hier ist eine erste Leseprobe aus Eve Smiths Debütroman. „Der letzte Weg“ erscheint am 10. Januar 2022 als Paperback und E-Book.
 

Triggerwarnung: In dieser Leseprobe und im gesamten Roman geht es um Themen wie Tod, Sterbehilfe, Suizid und traumatische Erlebnisse, die auch geschildert werden. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen; bitte seien Sie achtsam, wenn das auf Sie zutrifft.

 
1

Zwanzig Jahre nach der Großen Krise
Kate

»Kate? Wir haben ein Problem. Bett vierzehn. Die Tochter ist gerade mit ihrem Göttergatten aufgetaucht und macht einen Mordsaufstand.«

Ich blicke auf. Angie steht am Bettende, die Stirn tief in Falten. »Das Übliche?«, frage ich.

»Ganz genau. Die Benachrichtigung ist heute Morgen rausgegangen.«

Mein Blick gleitet zurück zum Monitor. Warum müssen sie immer ausgerechnet am Ende einer Schicht kommen? Ausnahmsweise einmal wollte ich pünktlich Schluss machen und alles für morgen vorbereiten.

Angie trommelt mit den Fingernägeln gegen das Seitenteil des Betts. Die Handschuhe machen daraus ein gedämpftes Klopfen. »Es tut mir leid, Katie«, sagt sie. »Es ist nur … also, sie ist ganz schön aufgebracht.«

Wieder einmal stecke ich in dieser Zwickmühle. Ich könnte eine der anderen bitten, aber diese Erlösungstreffen sind nicht leicht. Früher haben sie mich auch sehr mitgenommen, aber heute gehören sie zur täglichen Routine.

»Wann?«

»Um zwei.«

Ich werfe einen Blick auf meine Uhr und seufze. »Okay. Ich mache das hier nur noch fertig. Gib mir fünfzehn Minuten.«

Ein Lächeln erhellt ihr Gesicht unter der Maske. Ich kann einfach nicht Nein sagen, und sie weiß das.

»Danke. Du hast was gut bei mir.«

Ich messe den Puls meines Patienten, während seine Brust sich röchelnd hebt und senkt. Graue Bartstoppeln überziehen Wangen, die aussehen, als würden sie gleich in sich zusammenfallen. Aspirationspneumonie. Ein Bissen ist in die falsche Röhre gelangt, und schon ist er hier gelandet. Sollte er die Nacht überstehen, werde ich Angie bitten, dass sie ihn morgen rasiert.

Behutsam tupfe ich ihm das Gesicht ab, wechsle die Infusion und setze eine Alarmpause. Als ich den Mann auf die Seite drehe, wimmert er wie ein Kätzchen.

»Es tut mir leid, Mr Harrison«, sage ich. »Ich beeile mich auch.« Unter seinem Krankenhaushemd suche ich nach wund gelegenen Stellen. »Na also, schon fertig.« Ich breite die Decke wieder über ihm aus und stecke sie fest. Mit zusammengepresstem Mund starrt er zu Boden, aber ich höre immer noch dieses rasselnde Keuchen. Seit seiner Einlieferung hat er kein einziges Wort gesagt. Er hat keinerlei kognitive Einschränkungen. Es ist ein stiller Protest. Da er keine Verfügung unter- schrieben hat, bleibt ihm nichts anderes übrig, als auf diese würdelose Art zu sterben.

Ich beuge mich vor und berühre seine Hand, die von einem Netz hervorstehender blauer Venen überzogen ist. »Ruhen Sie sich aus«, flüstere ich. »Ruhe wird Ihnen guttun.«

Seine Finger entwinden sich meinen, doch er schließt die Augen. Ich warte, bis seine Atmung etwas gleichmäßiger wird, bis ich weiß, dass die nächste Dosis wirkt. Ich frage mich, wo- von er wohl träumt. Welche Erinnerungen er heraufbeschwört. Es war kein Verwandter aufzuspüren. Sieht so aus, als würde niemand zu seinem Abschied kommen.

Ich reiße mir den OP-Kittel und die Handschuhe vom Leib und wasche mir die Hände, wobei ich jeden Finger einzeln einseife. Der Aufzug setzt sich knarzend in Bewegung. Ich tippe den Code für die Hygiene-Etage ein, und die Metalltüren schließen sich scheppernd. Gedanken an den morgigen Tag kriechen in meinen Kopf, pressen mir den Atem aus den Lungen. Ich konzentriere mich auf die Ziffern, zähle jedes Stockwerk mit, bis der Fahrstuhl hüpft und schließlich zum Stehen kommt.

Ich gehe nach links in den Bereich für Frauen und stelle mich auf den Kreis. Ein roter Lichtstrahl gleitet über meine Augen. Es folgt ein Klicken, als das Schloss sich entriegelt. Komisch. Normalerweise klappt es nicht beim ersten Mal. Ich schnappe mir meinen Kulturbeutel aus dem Spind, werfe meinen OP-Kittel in den Wäschesack und drehe die Dusche voll auf. Ein Strahl lauwarmes Wasser ergießt sich über meinen Kopf. Ich erinnere mich, wie ich das heiße Wasser früher immer bis ganz zum Anschlag aufgedreht habe: Heutzutage ist alles voreingestellt. Eine weitere Lektion, die wir auf die harte Tour gelernt haben. Wenn man auf einer dieser Stationen Schicht hatte, möchte man nicht, dass sich die Poren allzu weit öffnen.

Seife zischt auf meiner Haut: Der Zitronenduft schafft es nicht, den Geruch des antiseptischen Mittels zu überdecken. Ich presse die Hände gegen die Fliesen und stütze den Kopf auf den Armen ab. Lasse das Wasser auf meinen Nacken herabprasseln, bis er taub wird. Man will nicht nur die Keime abwaschen, sondern auch den Rest. Damit man diese andere Person werden kann: Ehefrau, Mutter, Freundin. Doch heute ist meine Arbeit noch nicht ganz getan.

Ich trete in den Bodyscanner und strecke die Arme aus. Ein violetter Lichtstrahl gleitet über meine Haut, während Wasser meinen Rücken hinabtropft. Der grüne Kreis leuchtet auf, und der Trockner schaltet sich ein: Ich bin sauber. Ich ziehe mir die vorschriftsmäßige Kleidung – grüne Hose und weißes Hemd – an, drehe mich mit dem Rücken zum Spiegel und kämme mir die Haare. Den Blick in selbigen sollte man tunlichst vermeiden. Nach einer Zehn-Stunden-Schicht erkenne ich mich selbst kaum wieder.

Auf meinem Weg zum öffentlichen Trakt wiederhole ich im Geiste, was ich sagen werde. Sie werden mich um das Unmögliche anflehen, das tun sie immer. Die nächste Schicht stempelt ein, und einige der Krankenschwestern nicken mir zu, während sie eine nach der anderen an mir vorbeigehen. Ich eile ins Foyer und drücke auf den Knopf für den Lift. Genau in dem Moment, als die Türen sich fast geschlossen haben, zwängt sich ein Mann mittleren Alters herein. Für eine Sekunde begegnet sein Blick meinem und gleitet dann zu Boden. Mit zitternden Händen setzt er seine Brille ab und fängt an, sie zu putzen. Er reibt dasselbe Brillenglas, immer und immer wieder. Obwohl es schon längst sauber ist.

Als ich mein Stockwerk erreiche, trete ich auf weichen hellbeigen Teppich: schierer Luxus nach all den Stunden auf kalten Fliesen. Der Mann folgt mir und biegt rechts in einen anderen Korridor ab. Ein Hauch von Lila lässt die klinisch weißen Wände weicher wirken, an denen in regelmäßigen Abständen holzgerahmte Drucke hängen. Bäume, Seen und Wasserfälle. Moos, Steine und Blumen. Alles ist bis ins kleinste Detail durchdacht. Immerhin ist das hier der Familienbereich. Der Ort, an dem sie ihr Urteil über uns fällen.

Zimmer 15.

Meine Finger schweben über dem Türgriff. Aus dem Innern dringt kein Geräusch, nur das sanfte Summen der Luftfilter. Ich streiche mir die Haare hinter die Ohren und richte meinen Kragen. Dann hole ich tief Atem. Und gehe hinein.

Außer den beiden befindet sich niemand im Zimmer. Er steht neben dem Sofa, sie am Fenster. Es riecht nach Parfüm und Schweiß. Sie schätze ich auf Ende vierzig, vielleicht ein bisschen älter. Von Kopf bis Fuß in Designerklamotten, Rock und Jacke und Stöckelschuhe, die Haare zu einem festen Dutt frisiert.

»Mr und Mrs Atkinson? Ich bin Kate Connelly, die Stationsschwester.« Ich hebe die Hand, heutzutage die übliche Begrüßungsgeste. »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Niemand berührt noch die Hände anderer. Außer im engsten Freundes- und Familienkreis.

Mit einem weißen Baumwolltaschentuch, das sie in ihrer geballten Faust hält, tupft sie sich die verquollenen grauen Augen ab. Sie erwidert die Begrüßung nicht.

Der Ehemann tritt vor und steckt sein Handy in die Tasche. Seine dichten braunen Haaren werden an den Seiten bereits grau. »Roy. Roy Atkinson.« Er nickt mir zu, als befände er sich bei einem Geschäftstreffen.

»Tut mir leid, dass Sie warten mussten«, sage ich. »Aber Sie haben sicher Verständnis dafür, dass die Patienten bei uns an erster Stelle stehen.«

Sie stößt ein ersticktes Schnauben aus. Er wirft ihr einen Blick zu. Mark sieht mich auch manchmal so an.

»Bevor wir anfangen, möchten Sie noch etwas zu trinken?«, frage ich. »Noch einen Kaffee? Oder vielleicht lieber ein Kaltgetränk …«

Sie wirbelt herum. »Ich bin hier, weil mein Vater aktive Sterbehilfe bekommen soll, nicht zum verdammten Nachmittagstee!«

Ich gehe nicht darauf ein. Soll sie ihrer Wut ruhig Luft machen, wenn es ihr Spaß macht. Vielleicht bereut sie es auch gleich wieder. Jedenfalls kann ich dann weitermachen.

»Tut mir leid«, flüstert er, und sein Blick huscht an meinem Gesicht vorbei. »Sie ist nur, wie Sie sich sicher vorstellen können … völlig außer Fassung.«

»Natürlich, das verstehe ich.« Ich zeige auf das Sofa. »Sollen wir uns setzen?« Innerlich bete ich, dass er Ja sagt.

Er zögert und nimmt schließlich Platz. Sie bleibt stehen. Ihr lackierter Daumennagel bohrt sich in das Stück Haut zwischen ihrem linken Daumen und Zeigefinger. Die Stelle ist bereits wund. Bald wird sie anfangen zu bluten.

»Ich bin hier, um Ihre Fragen zu beantworten.« Ich richte mich erst an sie, dann an ihn. »Um Sie so gut es geht zu unterstützen – ohne dabei die Wünsche Ihres Vaters aus dem Blick zu verlieren. Wenn ich es richtig verstehe, haben Sie die Benachrichtigung heute Morgen erhalten?«

Er sieht seine Frau an, aber sie schweigt. Er fährt sich mit der Zunge über die Lippen. »Ja. Das stimmt.«

Er hat hübsche Augen, denke ich, ein tiefes Türkis, wie das Alborán-Meer. Unser letzter Urlaub, bevor die Grenzen geschlossen wurden.

Er starrt auf seine Füße und runzelt die Stirn, als wäre er gerade in etwas hineingetreten. »Meine Frau und ich, wir wollen nicht … ich meine, wir glauben nicht, dass es notwendig ist. Zu diesem Zeitpunkt eine solche Entscheidung zu treffen.« Sie beobachtet mich. Wartet darauf, dass ich etwas erwidere. Diesen Gefallen tue ich ihr nicht.

»Was ich damit sagen will … Nun, wir haben das Gefühl, dass alles sehr plötzlich kommt. Es muss doch noch Alternativen geben.« Er seufzt, sein Wortvorrat ist längst aufgebraucht. »Ich meine, er muss immer noch unter Schock stehen, unmöglich, dass er da klar denkt.«

Jetzt bin ich am Zug. »Mr und Mrs Atkinson …« Meine Stimme ist sanft und bedächtig. »Ich verstehe, wie schwer das für Sie sein muss. Aber Ihr Vater hat das alles gründlich durchdacht. Es ist keine übereilte Reaktion auf seine letzten Befunde. Er leidet Schmerzen. Große Schmerzen. Und er hat sich seit langer Zeit auf diesen Moment vorbereitet.«

»Es ist seine Prostata, Himmel noch mal!«, platzt es aus ihr heraus. »Er ist erst dreiundsiebzig. Gewiss gibt es noch etwas, das Sie tun können.«

Sie hat sich die Haut durchbohrt. Blut sammelt sich als dunkle Linie in den Falten.

Ich wende mich ihr zu. »Der Krebs Ihres Vaters ist in einem fortgeschrittenen Stadium. Er hat einen sogenannten T4-Tumor. Das heißt, er hat gestreut und bereits andere Organe befallen. Sein Gleason-Score beträgt neun, was bedeutet, dass es ein aggressiver, sich schnell ausbreitender Krebs ist.« Sie starrt mich an, ihre Zähne sind aufeinandergepresst, als kämpfe sie darum, keinen Ton von sich zu geben. »Er reagiert nicht mehr auf die Hormontherapie. Je länger wir abwarten, desto weiter wird der Tumor streuen.«

»Das verstehe ich nicht«, sagt der Ehemann. »Was ist mit Bestrahlung? Oder zumindest einer Chemotherapie? Ich dachte, gewisse Behandlungen wären immer noch möglich.«

»Selbst eine milde Chemotherapie hätte schwerwiegende Folgen.«

Der Ehemann sieht mich wie ein verwirrtes Kind an, Mund weit geöffnet. Die Menschen verstehen es einfach nicht, egal wie oft man es ihnen erklärt. Es ist fast so, als glaubten sie, wir würden es uns ausdenken.

»Jede Krebstherapie erhöht das Risiko einer Infektion«, sage ich und versuche, freundlich zu klingen. »Eine Chemotherapie unterdrückt das Immunsystem. Die Bestrahlung tötet gesunde Zellen genauso wie kranke. Eine Operation wäre ein Einfallstor für alle Arten von Bakterien. Ihr Vater würde erhebliche Schmerzen erleiden, einschließlich mehrerer äußerst unschöner Nebenwirkungen, ohne dass es irgendeinen Vorteil brächte. Ohne wirksame Antibiotika funktionieren diese Behandlungen einfach nicht.«

Tränen tropfen auf ihre Wangen und bahnen sich einen Weg zu ihrem Kinn. Ich denke an Pen, und meine Brust zieht sich krampfhaft zusammen. Es ist zu früh, viel zu früh. Ich hätte nicht hierherkommen dürfen.

»Ich verstehe, wie hart das ist«, sage ich. »Aber Ihr Vater will die Sache nicht unnötig in die Länge ziehen. Sie müssen zulassen, dass er seine eigene Entscheidung trifft.«

Sie vergräbt das Gesicht in den Händen. Der Ehemann legt zögerlich die Arme um sie, als könnte sie zerbrechen. Ich habe Mitleid mit ihr, natürlich habe ich das, aber diese Leute halten leidenschaftliche Appelle für einen Ausdruck von Liebe. Was sie nicht sind. Es ist ihre eigene tiefe Trauer, die im Weg steht.

»Sie wussten von seiner Absicht?«, frage ich sie. »Sie haben beide seine Verfügung bezeugt?«

»Ja, ja, haben wir.« Er wirft mir einen verzweifelten Blick zu. »Aber das ist schon lange her. Und, nun ja, wir haben nie geglaubt, dass … Wir konnten uns nie vorstellen, dass er jemals …« Seine Stimme verhallt. Es ist wie ein Schimpfwort, dieses Wörtchen Sterben. Manche Menschen bringen es nicht über die Lippen.

Die Frau macht einen Schritt von ihrem Ehemann weg. Eine Haarsträhne hat sich aus ihrem Dutt gelöst. Sie steckt sie sich hastig wieder hinters Ohr. »Wie praktisch.« Erst denke ich, sie hätte mit ihrem Ehemann gesprochen. »Patienten, die freiwillig abtreten. Die Betten freigeben.« Ihre Worte klingen übertrieben dramatisch. »Sie haben Zielvorgaben, nehme ich an?«

»Helen. Bitte.« Er tut einen langen, zitternden Atemzug. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und bereite mich innerlich auf die nächste Phase dieses Treffens vor.

Mrs Atkinsons Blick huscht durchs Zimmer. Dann sieht sie mich mit einer Intensität an, die mir nur allzu vertraut ist.

»Wir sind wohlhabend«, flüstert sie. »Wir haben Geld …«

Er schüttelt den Kopf. »Helen, nicht!«

Sie steckt die Hand in ihre Tasche und beginnt, darin herumzuwühlen. »Wir können bezahlen!« Dann wedelt sie mit einer burgunderroten Ledergeldbörse, die mit Goldschnallen verziert ist. »Was auch immer es kostet!«

»Hör auf!« Ihr Ehemann entreißt ihr das Portemonnaie.

»Du machst die Sache nur schlimmer.«

»Mrs Atkinson«, sage ich und weiche einen Schritt zurück. »Es tut mir leid. Das ist nicht nur illegal, es ist auch völlig unmöglich …«

»Ich weiß, dass es geschieht! Sie rücken nur nichts raus, weil Sie es für sich selbst horten, nicht wahr?« Ihr Tonfall ist nun schneidend. »Ich habe darüber gelesen. Ich wette, Sie könnten sehr wohl etwas tun, wenn es Ihr eigener Vater wäre …«

»Ich weiß nicht, was Sie gelesen haben, aber die Wahrheit lautet schlicht und ergreifend, dass die Medikamente nicht erhältlich sind.« Ich zögere die Sache etwas hinaus, wie wir es gelernt haben. »Kein Krankenhaus wie unseres hat Zugang dazu. Grundsätzlich nicht.«

»Sie lügen!«, schreit sie. »Warum wollen Sie uns nicht helfen? Woran liegt es? Erfüllen wir nicht Ihre Kriterien? Sind wir nicht die richtigen Menschen?«

Ich will schon antworten, als sie mir über den Mund fährt.

»Sind Sie dafür zuständig? Tun Sie es?« Sie atmet schnell und flach. Nun hat sie ein Ziel für ihre Wut gefunden.

»Wie bitte?«

»Töten Sie die Leute? Oder macht das ein anderer?«

Ich halte ihrem Blick stand. Mein Puls hört sich an, als käme er durch einen Lautsprecher, wie Sashas Herzschlag vor all den Jahren bei meinen Ultraschalluntersuchungen während der Schwangerschaft.

Ich blicke kurz zur Überwachungskamera. »Wenn Ihre Frage lautet, ob ich Patienten begleite, die ihr Leben beenden wollen, dann lautet die Antwort Ja.«

Sie weicht mit einem lauten Japsen zurück, als hätte ich sie gerade gebissen. Die Menschen sind bereit, ihre Haustiere einschläfern zu lassen, nicht jedoch ihre Eltern. Ich wünschte, ich könnte ihnen die grauenvolle Alternative vor Augen führen, aber das dürfen wir nicht.

»Wie viele? Wie viele waren es schon?«

Ich zögere, wäge Ehrlichkeit gegen Diplomatie ab. Es ist fast zwanzig Jahre her, seit das Gesetz verabschiedet wurde. Es müssen Tausende sein.

»Ich weiß es nicht«, sage ich schließlich. »Ich zähle nicht mit.«

Ihre Augen weiten sich, als ihr Ehemann sich zwischen uns schiebt. Sie schubst ihn beiseite. »Sie gehören eingesperrt! Mord, nichts anderes ist das. Sie können sich das noch so schönreden, aber es ändert nichts daran, was Sie da tun.«

»Helen, es reicht!« Er packt sie am Arm. Ich kann bereits die Schritte auf dem Korridor hören. »Sie hat das nicht so gemeint«, sagt er, und rote Flecken breiten sich auf seinem Gesicht aus. »Es tut mir so leid, es ist die Trauer, die aus ihr spricht.«

Ich schlucke schwer. »Mrs Atkinson. Ich weiß, wie schwierig das hier ist. Aber wenn Sie dabei anwesend sein wollen, müssen Sie sich beherrschen.«

Sie entwindet sich dem Griff ihres Ehemanns und fuchtelt mit dem Finger vor meinem Gesicht herum. »Wissen Sie, wo Sie mal landen werden? In der Hölle!«

Wie nennt man das hier wohl?, denke ich. Ich sehe in ihr rotes, verzerrtes Gesicht, auf dem die Wimperntusche an den Wangen hinabläuft. Früher habe ich wie sie getobt und um mich geschlagen. Doch es hilft niemandem. Es ändert nichts. Die Tür wird aufgerissen, und zwei Sicherheitsleute stürmen herein. Sie schieben den Ehemann beiseite und packen die Frau. Sie windet sich wie eine Wildkatze. Einer von ihnen zieht Handschellen heraus.

»Alles ist in Ordnung«, sage ich und hebe beide Hände. »Das wird nicht nötig sein. Mrs Atkinson braucht nur einen Moment Ruhe.«

Die Zunge des Sicherheitsmanns fährt durch seinen Mund, als wollte er gleich ausspucken. Sein Griff lockert sich nicht. Es gibt einen guten Grund, warum wir hier oben Kameras und den Sicherheitsdienst haben.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr, und Schweiß läuft kribbelnd an meinem Hals hinunter. »Bitte. Geben Sie ihr noch fünf Minuten. Dann können Sie die beiden ins Friedenszimmer bringen.«

Er starrt mich an. »Okay. Ihre Entscheidung. Nicht meine.«

Ich eile über den Teppich zu den großen Doppeltüren an der gegenüberliegenden Wand. Ich tippe den Code ein, und die Türen öffnen sich mit einem leisen Seufzen. Das Friedenszimmer ist ein wunderschöner Raum, ein bisschen wie ein Wohnzimmer in einem Musterhaus: ansprechend fürs Auge, aber nicht wirklich gemütlich. Was daran liegt, dass hier noch nie jemand gewohnt hat.

*
 

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Eve Smith: Der letzte Weg · Roman · Aus dem Englischen von Beate Brammertz · Wilhelm Heyne Verlag · 448 Seiten · Paperback: € 15,– (im Shop) · auch als E-Book erhältlich · erscheint am 10.01.2022

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