24. Juni 2022

Leseprobe 2 – „Der Klon“

Deutschland im Jahr 2033 – die ausführliche Leseprobe zu Jens Lubbadehs neuem Roman

Lesezeit: 9 min.

Niemand anders als Andreas Eschbach schreibt über Jens Lubbadehs neuesten Zukunftsthriller „Der Klon“ (im Shop): „‚Der Klon‘ von Jens Lubbadeh ist nicht nur spannend zu lesen, sondern auch eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit dem Thema Klonen von Menschen.“

Jens Lubbadeh: Der KlonLubbadeh hat sich jedoch darüber hinaus auch mit anderen hoch aktuellen Themen beschäftigt, etwa mit dem Wiedererstarken rechtsradikaler und neofaschistischer Tendenzen hierzulande, wie Sonja Stöhr in ihrer Review erläutert. All das hat er in einer Deutschland-Dystopie ohnegleichen verarbeitet, die nun überall erhältlich ist. Hier ist eine ausführliche zweite Leseprobe aus dem Roman (und hier geht’s zur ersten):

*

2
Berlin, 2033

Mara trank ihren Kaffee, der Campingkocher neben ihr war noch warm. Es war schon nach ein Uhr Mittag. Seit zwei Stunden wartete sie bereits vor dem Campus der Universität der Künste. Nur vereinzelt waren Studenten zu sehen. Noch. Gleich gingen die Morgenvorlesungen zu Ende. Würde sie die Brüder finden in den Menschenmassen?

Das altehrwürdige Universitätsgebäude lag im Stadtteil Charlottenburg, nicht weit vom Tiergarten, wo sie mit Kurt, ihrem Rauhaardackel, vorhin ausgiebig Gassi gegangen war und wo sie die Nacht verbracht hatte – im Bauch ihres VW-Busses, in dem sie jetzt saß und durch dessen Scheibe sie den Campus beobachtete. Sie hing an dem Wagen, die Frage war nur, wie lange sie damit noch fahren durfte. Schon jetzt drückten die hohen Steuerabgaben für Verbrenner empfindlich auf ihre Geldbörse.

Sie warf einen Blick nach hinten in den Laderaum: Kurt lag eingerollt in seinem Korb und schlief. Gut. Sie fühlte sich etwas schuldig, dass sie dem Hund auf seine alten Tage noch diese Strapazen zumutete. Er mochte keine langen Autobahnfahrten. Normalerweise ließ sie ihn zu Hause in München und bat Freunde, sich um ihn zu kümmern – so kurzfristig hatte sie jedoch niemanden gefunden.

Sie und Kurt waren müde, weil die Nacht unruhig gewesen war. Die feiernden Teenager mit ihrem Deutsch-Rap und ihrem Geschrei. Später waren auch noch Rechte dazugekommen, vermutlich Mitglieder des »Jungen Wegs«, und es hatte Ärger zwischen den beiden Gruppen gegeben.

In wenigen Wochen waren Bundestagswahlen, doch die Jugendorganisation des Deutschen Wegs war jetzt schon aktiv dabei, die Städte mit Plakaten zuzukleistern. »Islamunterricht? Nicht an unseren Schulen!« – »Burkas? Wir stehen auf Bikinis« – »Der Deutsche Weg, der einzige Weg«. Und dann unzählige »Bernd-statt-Börek«-Plakate, auf denen Parteichef Bernd Sörensen die Arme in Siegerpose hochreckte. Auf nicht wenigen von ihnen war er umgehend mit Hitler-Bärtchen verziert worden.

Die Junger-Weg-Leute hatten offenbar die Gangsta-Rap-Halbstarken dabei überrascht, wie sie ihre Wahlplakate beschmierten. Nach schier endlosem Geschrei kam die Polizei und löste das Ganze auf. Aber immerhin: Niemand hatte sie von ihrem Schlafplatz verscheucht.

Sie hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu Berlin. Einerseits fand sie die Stadt interessant und aufregend. Andererseits war sie nach so vielen Jahren im beschaulichen München diese Rauheit, den Müll und das Chaos nicht mehr gewohnt. Offenbar war selbst das früher so aufgeräumte Charlottenburg im Abstieg begriffen.

Jetzt strömten größere Massen aus den Eingangstoren. Mara stellte ihren Kaffee ab und stieg vorsichtig aus dem Bus, um Kurt nicht zu wecken. Langsam lief sie auf den Campus zu.

Alles, was sie hatte, waren einige Fotos der Zwillinge. Sie zeigten die beiden als Teenager. Heute waren sie zweiundzwanzig, ihr Geburtstag lag noch nicht lange zurück. Junge Männer. Würde sie sie erkennen? Die Uni war ihre einzige Anlaufstelle. Im Adressbuch standen beide nicht, die Adresse der Eltern half ihr nicht weiter. Von ihrem Informanten wusste sie nur, dass die beiden hier studierten. Von ihm hatte sie auch die Fotos bekommen.

Mara lief langsam umher, die Gesichter der Studenten musternd. Viele trugen Mappen oder Zeichenrollen, andere Instrumentenkoffer. Einer der Brüder studierte Musik, der andere Kunst.

Es wurden immer mehr Studenten. Vielleicht waren die beiden heute auch gar nicht an der Uni? Jetzt erst merkte Mara, dass sie sich vielleicht besser hätte vorbereiten sollen. Aber die Information mit dem Hinweis auf die Brüder war erst vor zwei Tagen in ihrem anonymen Krypto-Postfach gelandet.

Endlich hatte sie eine Spur nach Deutschland. Endlich konnte sie den Fall Moon Dong-soo damit auch für deutsche Leser relevant machen. Sie brauchte diese Geschichte. Dringend. Und vor allem das Geld. Sie konnte von ihren Honoraren kaum die Miete bezahlen.

Mara versuchte, möglichst unauffällig die Gesichter der Studenten zu scannen – was ihr nicht ganz gelang. Sie spürte die neugierigen Blicke. Klar, sie fiel auf mit ihren vierundvierzig Jahren. Womöglich hielten sie sie für eine übergriffige Helikopter-Mutter, die ihrer Tochter auflauerte. Wobei, sie könnte doch auch einfach eine Dozentin sein? Nein, sie sah nicht wirklich wie eine Dozentin aus, ungeduscht, die Haare sicher noch zerzauster als sonst.

Während sie weiter über den Campus strich und sich vorkam wie ein Alien, überlegte sie, wie sie die Brüder ansprechen sollte.

Wie würde sie reagieren, wenn ihr ein Fremder private Fotos aus Kindertagen unter die Nase hielte? Es würde nicht leicht werden, überhaupt mit den beiden ins Gespräch zu kommen. Und dann ging es ja auch nicht um irgendein Thema.

Aber Mara würde nicht so leicht aufgeben. Sie sah sich schon eine weitere Nacht im VW-Bus verbringen und vielleicht noch eine weitere.

Die beiden Brüder sahen sich ähnlich, jedenfalls auf den Teenie-Bildern, über die sie noch einige Lebensjahre, mögliche andere Frisuren, Bärte, Piercings und Sonnenbrillen legen musste.

Seit mehr als zehn Minuten lief sie nun über den Campus. Sollte sie jemanden nach den Wohlpflugs fragen? Damit aber würde sie noch mehr Aufmerksamkeit erregen.

Plötzlich schlug etwas in ihr Alarm. Sie war gerade an einer Gruppe Studenten vorbeigegangen. Ein paar Meter weiter blieb Mara stehen. Es waren vier Männer und drei Frauen. Einen der Männer erkannte sie. Er war hagerer als auf den Fotos und trug einen dünnen Schnurrbart, aber er war es, ohne Frage: Robin Wohlpflug. Robin hatte glatte dunkelbraune Haare, die er zu einem Zopf gebunden trug. Ein Hoodie schlabberte um seinen dünnen Oberkörper, eine schwarze Hose umhüllte die Beine.

Schnell checkte sie noch einmal die anderen Gesichter und fand auch Friedrich Wohlpflug.

Beide Brüder hatten helle blaue Augen, waren mittelgroß, etwa ein Meter siebzig. Doch Friedrichs Haare waren heller und kürzer, und vor allem wirkte er positiver als Robin, der schwermütig schien, mit seinen dunklen Klamotten, seinem ernsten Gesicht und den nach vorne gezogenen Schultern. Friedrich hingegen lächelte viel, trug blaue Jeans und ein grünes Hemd. Um seine Schulter hatte er eine Bilderrolle geschnallt, wie einige der anderen Studenten, mit denen er und sein Bruder zusammenstanden. Einen Arm hatte Friedrich um eine junge Frau gelegt. Sie hatte lange nussbraune Haare und sehr helle Haut. Die breiten Augenbrauen über ihrer Brille setzten einen starken Akzent in ihrem fein geschnittenen Gesicht. Das Mädchen sprach nicht viel, hörte aufmerksam zu, während die Brüder lebhaft diskutierten.

Während Mara überlegte, wie sie nun vorgehen sollte, verabschiedete sich ein Teil der Gruppe, und Friedrich, Robin und die junge Frau blieben alleine zurück.

War das ihre Chance? Sie zögerte immer noch. Mara hätte gerne beim ersten Kontakt die Brüder alleine erwischt. Außerdem schien die Stimmung zwischen den beiden mit einem Mal angespannt. Ob die anderen deswegen so plötzlich gegangen waren? Mara konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde, aber Robin ging seinen Bruder wegen irgendetwas an. Sein Kopf war vorgereckt, der Blick starr auf Friedrich gerichtet, mit dem Finger zeigte er immer wieder auf seinen Bruder.

Jetzt sagte auch die Frau etwas. Sie redete auf Robin ein, schien ihn beruhigen zu wollen. Auch Friedrichs Gesicht verdüsterte sich nun, und mit einer schnellen Bewegung schwang er seine Bilderrolle vom Rücken und öffnete sie. Er entnahm ihr ein Bild und rollte es auf dem Boden aus – Mara konnte nicht erkennen, was darauf zu sehen war.

Robin betrachtete es eine Weile, dann drehte er sich um und ging. Friedrich machte keinerlei Anstalten, ihm hinterherzulaufen. Schließlich folgte die junge Frau Robin und versuchte, ihn zurückzuholen.

Kein guter Moment für ihr Vorhaben. Was sollte sie tun? Warten, bis sich die Wogen glätteten? Zumal: Auch ihre Nachrichten würde die Laune der beiden kaum heben. Es wäre besser, wenn sie die in entspanntem Zustand hörten. Aber wer wusste, ob sie eine bessere Gelegenheit bekommen würde?

Widerwillig hatte Robin sich von der jungen Frau zum Umkehren bewegen lassen und stand nun wieder bei seinem Bruder.

Mara griff in ihre Tasche und fühlte nach der Mappe und ihrem Tablet. Dann holte sie tief Luft und ging langsam auf die Dreiergruppe zu.

Die drei bemerkten sie zunächst gar nicht, so sehr waren sie in ihr Streitgespräch vertieft.

»Wir hatten eine Abmachung!«, zischte Robin. »Du hättest jede andere Szene malen können. Jede andere. Aber nein, ausgerechnet das musstest du dir für deine Abschlussarbeit aussuchen!«

»Es ist einfach aus mir rausgekommen, okay?«, verteidigte sich Friedrich. »Kannst du bitte aufhören, immer den Moralapostel zu spielen? Niemand weiß, was das Bild bedeutet!«

»Robin«, sagte die Frau. »Friedrich war nicht illoyal. Ich war dabei. So ist das doch in der Kunst, so was hat man nicht unter Kontrolle.«

»Was weißt du denn schon von Kunst!«, fuhr Robin sie an. Die Frau wich erschrocken zurück.

Mara stand nun vor ihnen. Die junge Frau bemerkte sie zuerst.

»Hallo«, begann Mara verlegen. »Sorry, wenn ich Sie störe. Sie sind Robin und Friedrich Wohlpflug?«

Die Brüder, die sie bis jetzt gar nicht wahrgenommen hatten, sahen sie abwartend an.

»Wer sind Sie?«, fragte Friedrich.

»Oh. Stimmt, ich sollte mich zuerst vorstellen. Mara Erhardt. Journalistin. Ich arbeite für die Süddeutsche Zeitung

Ratlos zuckten die drei die Schultern und schwiegen.

»Woher wissen Sie, wie wir heißen?«, sagte Robin schließlich. Seine Stimme war tiefer, als sein Äußeres vermuten ließ. Er sprach ruhig, aber seine Resolutheit und seine Autorität waren unüberhörbar und überraschend für einen so jungen Mann.

»Wenn Sie ein paar Minuten Zeit hätten – ich würde Ihnen gerne etwas zeigen.«

Unsicherheit machte sich in Mara breit, und das gefiel ihr gar nicht. Gerade beim Erstkontakt mit wichtigen Informanten war Selbstsicherheit ein entscheidender Faktor. Die ersten Sekunden entschieden darüber, ob ein Gesprächspartner ihr vertrauen würde oder nicht.

Sie straffte die Schultern, verlagerte ihr Gewicht gleichmäßig auf Fersen und Zehenballen und zwang sich, Augenkontakt zu halten. Dann fischte sie ihr Tablet aus der Tasche. Als sie es auffalten wollte, rutschte es ihr aus der Hand und fiel zu Boden.

Friedrich kam ihr zuvor und hob es auf. Das bruchfeste Display zeigte mehrere Fotografien. Innerlich fluchte Mara, dass sie sie offen gelassen hatte. Die beiden mussten sie für eine Art Stalkerin halten. Tatsächlich blickte Friedrich sie verstört an.

Robins Blick fiel auf eine Fotografie am unteren Rand. Sie zeigte ein Segelboot. An seiner Miene sah Mara, dass er es sofort erkannte.

An der Reling stand ein Paar, das zwei kleine Jungen im Alter von höchstens zwei Jahren in den Armen hielt. Sie trugen kurze Sachen und Sonnenbrillen, die langen kupferfarbenen Haare der Frau wehten im Wind. In den kindlichen Zügen der beiden Jungen konnte man schon die Gesichter von Robin und Friedrich erahnen. Beide trugen T-Shirts mit Spongebob darauf. Sie lachten in die Kamera, und Friedrich zeigte in Richtung des Fotografen.

»Woher haben Sie das?«, fragte Robin mit harter Stimme. Mara zögerte. Jetzt kam es auf die richtigen Worte an.

»Sie kennen dieses Foto, nicht wahr?«

Friedrich nickte langsam. Etwas in seinem Gesicht verdüsterte sich. Nervös blickte er zur Seite, auf sein Bild, das immer noch ausgerollt auf dem Boden lag und das der Anlass für den Streit mit Robin gewesen war.

Jetzt erst erkannte Mara, was darauf zu sehen war: ein Segelschiff, aus einer ungewöhnlichen Perspektive dargestellt. Steil von unten, mit dem Blick von jemandem, der ein paar Meter neben dem Schiff schwamm.

Sie fühlte ein Prickeln im Nacken.

»Das Foto wurde auf Korfu aufgenommen«, sagte Robin und spießte sie förmlich mit seinem Blick auf. »Wir waren damals zwei Jahre alt.«

Sie versuchte, den Blick zu halten, was ihr sehr schwerfiel. Es fühlte sich an, als sehe Robin hinter ihr Gesicht, als könne er alle ihre Geheimnisse lesen, jede Halbwahrheit, jede Lüge erspüren.

»Das seid nicht ihr auf dem Foto«, sagte sie.

Die Brüder sahen erst sie und dann sich gegenseitig an. Sie tippte auf das Foto und rief die Exif-Metadaten des Bildes auf. Eine lange Tabelle mit vielen Einträgen erschien auf dem Display.

Marke: Panasonic
Modell: DMC­FZ28
Exif/Version: 2.21

Maras Finger suchte in der Tabelle die Zeile mit der Kennung »DateTimeOriginal«, dem Aufnahmedatum des Bildes.

»Hier«, sagte sie und gab Robin ihr Tablet.

Als er den Eintrag sah, weiteten sich seine Augen. Dort stand:

2010:07:17 11:01:17

»Das Foto wurde am 17. Juli 2010 aufgenommen«, sagte sie. »Eine Minute und siebzehn Sekunden nach elf. Ihr wart im Jahr 2010 noch gar nicht geboren.«

*

Jens Lubbadeh: Der Klon · Roman · Wilhelm Heyne Verlag · 480 Seiten · Paperback: € 15,– (im Shop)

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