31. Juli 2017 2 Likes

Zeit und Ziel

Eine kurze sommerliche Meditation über das Unterwegssein

Lesezeit: 4 min.

Waren Sie schon im Urlaub? Im südlichen Teil Deutschlands, wo ich beheimatet bin, beginnen die Ferien ja gerade erst, und auch wenn es in den vergangenen Tagen geregnet hat wie im Herbst, stehen die Wanderschuhe und das leichte Gepäck aufbruchsbereit neben der Tür. In diesem August wird viel gegangen.

Wohin?, fragen Sie jetzt vielleicht, und ich fürchte, ich kann die Frage nicht beantworten. Aber man muss doch ein Ziel haben, wundern Sie sich berechtigterweise, und ich überlege kurz und erwidere: In diesem August wird ohne Ziel gegangen.

Das bitte ich nicht falsch zu verstehen. Keineswegs will ich zum millionsten Mal das Klischee bemühen, dass doch eigentlich der Weg das Ziel ist (wer jemals Halbmarathon gelaufen ist, weiß, dass der Weg nicht das Ziel ist), oder den diesjährigen Sommerurlaub unter das Nietzsche-Motto stellen, dass einem noch kein guter Gedanke im Sitzen gekommen ist (in Sachen Lebenskunst ist Nietzsche ohnehin nicht der allerbeste Ratgeber). Nein, das Gehen ohne Ziel hat seinen Grund schlicht und einfach in der Tatsache, dass mit dem Ziel auch der Grund dafür entfällt.

Hm.

Vielleicht denken wir es uns ja so: Ein Ziel ist immer auch ein Grund, und wir tun praktisch nie etwas ohne Ziel. Ja, man lehnt sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man konstatiert, dass unsere gesamte Zivilisation eine einzigartige Zielfestlegungsmaschinerie ist. Machen sich Katzen über kommende „Milestones“ Gedanken? Räsonieren Pinguine über den „Pinguin von morgen“? Jedenfalls, im Laufe der langen Menschheitsgeschichte waren diese Ziele intellektuell meist ziemlich unterkomplex. Man wollte etwas haben, was der andere hatte, man wollte etwas gelten, man wollte einem behaupteten Gott huldigen, solche Sachen. Die Folgen waren entsprechend betrüblich. Später dann (aus unserer Sicht ein ziemlich spätes Später) wurde die Zukunft erfunden, und damit wurden die Ziele sichtlich aufwendiger. Jetzt galt es nämlich, sich zu entwickeln, voranzuschreiten, etwas in Bewegung zu setzen. Ja, die Zukunft selbst wurde zum Ziel aller Ziele erklärt, die Zukunft, die erobert, bewältigt, errungen werden musste, und je heller dieses Ziel vor unseren Augen erstrahlte, desto schneller liefen wir darauf zu. (Was wir heute „Science-Fiction“ nennen, ist das künstlerische Erbe dieser schwindelerregenden Dynamik.)

Nun, wir laufen immer noch. Schneller und schneller. Aber offenbar kommen wir nie an. Oder hatten Sie jemals das Gefühl, endgültig in einer Zukunft angekommen zu sein, die einmal zum Ziel erklärt worden war?

Das ist keine Spielerei mit leeren Worthülsen, ganz im Gegenteil: Vermutlich ist „Zukunft“ der politischste aller Begriffe. Ja, „Zukunft“ wurde in den letzten zweihundert Jahren auf eine Weise instrumentalisiert, dass wir uns gar kein Leben mehr vorstellen können, in dem wir nicht auf irgendetwas zulaufen, nicht irgendetwas zu erreichen versuchen.

Was nicht unbedingt schlecht sein muss: In der Welt, die wir uns geschaffen haben und die nicht mehr allzu viel mit der Welt, wie sie einmal war, gemeinsam hat, gilt es noch einiges zu erreichen (zum Beispiel die Welt wieder ein wenig zu der zu machen, die sie einmal war). Aber immer öfter habe ich das Gefühl, dass wir vor lauter Erreichen-wollen aus den Augen verloren haben, was wir eigentlich erreichen wollen. Hinter tausend Zielen keine Welt, würde der Dichter sagen.

Ach ja, all die Dichter und Gelehrten, die unser unaufhörliches Laufen bereits beschrieben haben, lange bevor es uns in die Zukunft riss, die Senecas, Sōjuns, Montaignes, Thoreaus – ihre traurige Existenz auf Kalenderblättern und Tagesprogrammen in Wellnesshotels sollte uns daran erinnern, dass manche Dinge nie aufhören, immer wieder neu zu sein. Dass jeder von uns die Welt immer wieder neu entdeckt. Dass ihr jeder von uns immer wieder neu begegnet.

Vielleicht nutzen wir also einmal einen August (vielleicht diesen, vielleicht den nächsten) und sind einfach nur: unterwegs. Das fällt nicht jedem leicht, ja, es kann sein, dass man sich innerlich geradezu dagegen wehrt, aber wie bei allem, was im Leben wichtig ist, ist es eine Frage der Übung. Nach zwei, drei Tagen Unterwegssein beginnt sich – man spürt es körperlich –, langsam etwas zu verändern. Plötzlich sieht man etwas (einen Berg, einen Fluss, einen Igel, einen Menschen), ohne dahinter etwas sehen zu müssen. Plötzlich hört man etwas (den fernen Donner, das Knarzen alten Holzes, das Brechen einer Welle), ohne über die Ursache nachdenken zu müssen. Plötzlich ist man in einem Augenblick (der Rauch in der kühlen Morgenluft, das Licht auf uralten Steinen, die triefende Nässe nach einem Regen), ohne im nächsten sein zu müssen.

Und dann geben Sie noch einige Tage hinzu, und nach und nach verschwinden die allermeisten dieser nächsten Augenblicke, von denen wir sonst geradezu umzingelt sind. Jene Augenblicke, die man sich so wunderbar vorstellt und die nie so wunderbar sind, wie man sie sich vorgestellt hat. Jene Augenblicke, die man meint, einmal unbedingt erleben zu müssen, ohne dass man dafür einen richtigen Grund nennen kann. Sie verschwinden bis auf die, die wirklich etwas bedeuten. Das sind die nächsten Augenblicke, die ganz still sind, die eine große Ruhe ausstrahlen. Aber wenn man die Ohren spitzt, kann man ihren Atem hören, und man begreift: Das sind die Augenblicke, die es sich zu erreichen lohnt.

Nennen wir sie einfach: Zukunft.
 

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