29. Januar 2018 6 Likes

Schritte in der Luft

Eine kleine Geschichte für Ursula K. Le Guin

Lesezeit: 5 min.

Ich schwöre, diese Geschichte ist wahr. Ich war einmal, es ist schon lange her, für einige Tage lang allein in einem Haus von Freunden. Es war im Sommer – ein Sommer, den man später einen der heißesten seit Menschengedenken nennen sollte. Die Freunde waren in den Urlaub gefahren und hatten mich gebeten, in dieser Zeit ihre Katze zu füttern, und da ich damals gerade nichts Besonderes zu tun hatte, blieb ich gleich ganz in ihrem Haus.

Es war ein ziemlich großes Haus mit einem dicht bewachsenen Garten und einem Speicher, auf dem, wenn es Gespenster gäbe, bestimmt ein Gespenst gewohnt hätte. Die Katze, eine getigerte mit hellen grünen Augen und langen Beinen, huschte munter rein und raus. Worauf mich meine Freunde, bevor sie in den Urlaub gefahren waren, auch hingewiesen hatten: „Mach dir keine Sorgen, wenn sie sich mal für längere Zeit nicht blicken lässt. Sie ist gerne unterwegs.“

Am ersten Tag jedoch war sie immer in meiner Nähe, begleitete mich auf meinem Erkundungsgang durch das Haus und den Garten und saß neben mir, als ich am Abend draußen ein Glas Wein trank und zusah, wie die Sonne langsam hinter den Bäumen verschwand. In diesem Sommer war der Mond so groß, dass man nach ihm greifen konnte.

Ich gab der Katze etwas zu fressen, danach schnurrte sie noch für eine Weile um mich herum, und schließlich lief sie in den Garten.

Und kam nicht wieder.

Aber ich sollte mir ja keine Sorgen machen. Also schloss ich die Tür ab, vergewisserte mich, dass die Katzenklappe ordnungsgemäß funktionierte, und legte mich schlafen.

Als ich am nächsten Morgen aufstand, war der Himmel so blau, wie es ein Himmel nur sein kann. Die Katze jedoch war nirgends zu sehen. Ich rief nach ihr, suchte sie überall im Garten und auf dem Speicher, ohne Erfolg. So verging dieser tiefblaue Tag, und am Abend war die Katze immer noch nicht da. In der Nacht blieb ich lange auf. Ich starrte in die Dunkelheit und hoffte, dass sich zwischen den Büschen etwas Getigertes bewegen würde. Alles war still. Sollte ich mir jetzt doch Sorgen machen? Vielleicht war die Katze in einem fremden Keller eingesperrt. Vielleicht war sie von einem Auto überfahren worden. Was sollte ich nur meinen Freunden sagen, wenn sie zurückkamen und ihre Katze war verschwunden?

Ein neuer Morgen – keine Katze. Ich ging durch die Nachbarschaft und hielt in der brütenden Hitze nach ihr Ausschau. Ich fragte jeden, der mir entgegen kam, ob man sie vielleicht gesehen hatte. Niemand hatte sie gesehen. Einer der Nachbarn versuchte mich zu beruhigen: „Ach, die macht bestimmt nur einen Ausflug. Es sind doch gerade die schönsten Tage des Jahres.“

Ich beruhigte mich aber nicht. Tatsächlich war ich am Abend so unruhig, dass ich mich mit irgendetwas ablenken musste. Dafür griff ich zu einer bewährten Methode: Ich stellte mich im Wohnzimmer vor das Bücherregal, strich mit dem Finger über die Buchrücken und zog spontan ein Buch heraus, ohne darauf zu achten, was es war. Auf diese Weise hatte ich schon die unglaublichsten Sachen entdeckt. Das kleine Buch, das ich nun aus dem Bücherregal meiner Freunde zog, stammte von Liu Yuanqing, einem konfuzianischen Gelehrten der späten Ming-Periode, und versammelte Erzählungen aus dem alten China. Ich blätterte durch das Buch und blieb bei einer der Erzählungen hängen.

Sie ging so:

Ein hoher chinesischer Würdenträger besaß eine herrliche Katze. Er war ausgesprochen stolz auf sie und nannte sie Tiger. Eines Tages lud er Freunde zu sich ein. Sie tranken Wein und bewunderten die Katze. Einer der Gäste sagte begeistert: „Ein Tiger ist ein starkes Tier, das kann niemand bestreiten, aber ein Drache ist viel stärker. Warum hast du deiner Katze nicht den Namen Drache gegeben?“

Darauf sagte ein zweiter Gast: „Ich gebe ja zu, dass ein Drache stärker ist als ein Tiger, aber er muss sich hoch in die Luft erheben, um den Wolken auch nur ein bisschen näherzukommen. Warum nennst du die Katze also nicht Wolke?“

Ein dritter meldete sich zu Wort: „Die Wolken können den ganzen Himmel bedecken, doch es genügt, dass der Wind bläst, um sie in alle vier Himmelsrichtungen auseinander zu treiben. Wenn ich du wäre, würde ich zu dieser Katze Wind sagen.“

Und ein vierter Gast sagte: „Was vermag der Wind, selbst wenn er ein Orkan ist, schon gegen eine Mauer? Diese Katze sollte Mauer heißen.“

Der fünfte legte heftigen Protest ein: „Ist die Mauer auch fähig, den Wind aufzuhalten, so bringen Mäuse es fertig, in die Mauer Löcher zu nagen, und die Mauer stürzt ein. Maus – das ist der richtige Name für diese Katze.“

Es war Herbst, und auf der Straße, unter dem offenen Fenster, kehrte ein alter Mann die herabgefallenen Blätter zusammen. Er hatte ihrem Gespräch gelauscht, steckte jetzt den Kopf zum Fenster herein und sagte:

„Nun gut, aber wer fängt die Mäuse?“

Sehr schön, dachte ich. In diesem Moment hörte ich ein Tapsen. Ich sah von dem Buch auf – und da neben der Wohnzimmertür stand die getigerte Katze meiner Freunde und blickte mich mit ihren hellen grünen Augen an. Sie wirkte zufrieden. Und ich fragte mich: Wäre sie je zurückgekommen, wenn ich die Erzählung aus dem alten China nicht gelesen hätte?

Eine kleine Geschichte für Ursula K. Le Guin. Legen Sie sie aus, wie Sie möchten, aber bleiben Sie skeptisch. Ursula liebte Katzen, doch was wissen Katzen schon von den Namen, die wir Menschen den Dingen geben, und den Kämpfen, die wir um diese Namen austragen? Was wissen Katzen schon von der Zukunft? Eines wissen Katzen allerdings: Dass es Wahrheiten in der Welt gibt. Federleichte Wahrheiten. Wahrheiten, für die niemand kämpfen muss. Wahrheiten wie Schritte in der Luft.

Und manchmal, wenn der Mond so groß ist, dass man nach ihm greifen kann, wollen sie, dass wir das auch wissen.
 

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