4. Februar 2019 1 Likes

„Wir sind zerstörerisch – und wir sind kreativ.“

Von der Fantasy zu Mond und Mars: Im Gespräch mit T. S. Orgel („Terra“)

Lesezeit: 18 min.

T. S. Orgel, das sind die Brüder Tom und Stephan Orgel. Die beiden wurden 1973 bzw. 1976 in Görlitz geboren und leben heute in Unterfranken bzw. Hessen. Gemeinsam schrieben sie bereits mehrere Fantasy-Romane über den Kampf zwischen Orks und Zwergen sowie die Blausteinkriege, dazu kommen diverse Kurzgeschichten und der Steampunk-Thriller „Steamtown – Die Fabrik“ mit Carsten Steenbergen. Ihre Fantasy-Romane brachten den Orgels bereits den Deutschen Phantastik Preis und mehrere Nominierungen für den Phantastik-Literaturpreis Seraph ein. Nun haben die beiden unter ihrem gemeinsamen Autorennamen T. S. Orgel mit„Terra“ (im Shop) einen futuristischen Science-Fiction-Roman vorgelegt (Leseprobe). In der Zukunft des Buches wurde die Erde weitgehend ausgebeutet, der Mond dient als Bergwerk, und alle Hoffnung liegt auf der Besiedlung des Mars – das Terraforming läuft, und automatisierte Raumfrachter-Konvois fliegen die Rohstoffe durchs All zum Roten Planeten. Als der Mechaniker Jak auf einem der Frachter Bomben findet, überschlagen sich für ihn, seine Kollegen und seine Schwester Sal, die als Gesetzeshüterin auf dem Mond arbeitet, die Ereignisse. Im Interview sprechen Tom und Stephan Orgel über ihren bei Heyne erschienenen Science-Fiction-Roman, ihre Einflüsse, ihre Zusammenarbeit im Weltall und über die großen Probleme unserer Gegenwart.

 


Stephan (links) und Tom (rechts) Orgel, alias T. S. Orgel. Foto © Birgit Mühleder

Hallo Tom, hallo Stephan. Nach sechs Fantasy-Romanen habt ihr euch nun der Science-Fiction zugewandt – wieso?

Stephan Orgel: Na weil wir es können, natürlich. Aber im Ernst: Wir verschlingen ja beide schon immer alle möglichen Bücher querbeet durch die Genres hindurch: Fantasy genauso wie Krimis oder historische Romane, Thriller, Biografien oder eben auch Science-Fiction. Für uns steht die Geschichte im Vordergrund – und die kann durchaus auf unterschiedlichen Bühnen spielen. Zum Beispiel eben auch auf dem Mond. Wir hatten nach dem Abschluss der „Blausteinkriege“-Reihe eine ganze Handvoll Konzepte in der Schublade. Das reichte von Fantasy über Science-Thriller bis zur reinen Science-Fiction. Die „Terra“-Idee schien dabei am besten überzeugt zu haben, denn sie erhielt gleich als erste den Zuschlag. Und ich bin auch froh darüber, denn es hat riesigen Spaß gemacht, mal über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen.

Tom Orgel: Tatsächlich war es auch eine entspannende Abwechslung. Wir schreiben sehr gern Fantasy. Aber genauso, wie wir gern andere Dinge lesen und sehen, ist es auch gut, ab und an etwas anderes zu schreiben. Und immer nur Kurzgeschichten sind auf Dauer da nicht befriedigend. Aber: Nur weil wir uns der Science-Fiction zugewandt haben, heißt das nicht, dass wir uns von der Fantasy abgewandt haben.

Ist so ein Wechsel des Genres gefährlich für Autoren, weil Fans und auch Händler allzu oft in Schubladen denken?

Tom Orgel: Hm. Nein. Mit Sicherheit sind uns nicht alle bisherigen Leser ins neue Genre gefolgt. Das war aber auch nicht zu erwarten, da lange nicht alle Fantasy-Leser auch Science-Fiction oder Thriller lesen. Und von den meisten erfahren wir ja nichts direkt. Was uns allerdings gefällt: Wir haben einige, von denen wir wissen, dass sie uns in ein für sie eher untypisches Genre gefolgt sind – und die dadurch festgestellt haben, dass ihnen auch SF gefallen kann. Und allein das ist schon ein Gedanke, der uns zeigt, dass der Weg grundsätzlich nicht falsch war. Und von ‚Gefahr’ zu reden ist ohnehin müßig. Ja, es gibt mehr Fantasy-Leser als SF-Leser. Aber sowohl der Verlag als auch wir hatten Lust auf diesen Ausflug, der uns als Autoren sicherlich nicht schadet, egal wie am Ende die absoluten Zahlen aussehen. Die bisherigen Rückmeldungen von Rezensenten bestärken uns in dieser Einschätzung. Vielleicht wäre das etwas anderes, wenn wir der Fantasy hätten den Rücken kehren wollen – oder wenn wir davon leben müssten. Aber so – wir sehen es gar nicht als Wechsel, sondern als Erweiterung unseres Portfolios.

Könnt ihr uns ein bisschen was über eure eigene Science-Fiction-Sozialisierung erzählen, prägende Autoren, TV-Serien, Filme etc.?

Stephan Orgel: Meine größte Sozialisierung habe ich ganz sicher durch „Star Trek: TNG“ erfahren, das ich in meiner frühen Jugend bis zum Erbrechen anschaute (damals nannte man es halt noch nicht Binge Watching), und vermutlich ist deshalb auch eines der prägendsten Rollenvorbilder meiner frühen Jugend Captain Picard geworden – mit dem ich heute sogar die Frisur teile. Nebenbei habe ich natürlich auch so ziemlich alle anderen Serien mitgenommen, die damals im TV liefen: „Deep Space Nine“, „Lexx – The Dark Zone“ (eine sehr unterschätzte Perle), „Babylon 5“ … Meine prägendsten Filme dieser Zeit waren vermutlich „Alien“, „Terminator“, „Das Fünfte Element“ und natürlich der Klassiker für pubertierende Jugendliche: „Starship Troopers“. Man merkt schon, dass es bei mir immer etwas actionlastiger zugehen musste. Da ich damals aber relativ unreflektiert alles anschaute, was möglich war, sind beinahe unbewusst immer wieder auch mal solche Klassiker wie „Die Zeitmaschine“ nach H. G. Wells bei mir hängen geblieben.

Meine zwei wichtigsten Prägungen waren und bleiben aber die Bücher „Der Splitter im Auge Gottes“ von Pournelle und Niven, und „Das große Spiel“ von Orson Scott Card (im Shop), die ich damals in so einer Sonderedition zusammen geschenkt bekommen hatte und sogar heute noch mit Begeisterung lesen kann (es gibt andere, die ich später besser nicht nochmal angefasst hätte…). Wobei, wenn ich jetzt genauer darüber nachdenke, fällt mir tatsächlich noch „Laser Squad“ ein, das vielleicht genialste Spiel seit Erfindung des Computers, mit dem zwei Freunde und ich unsere halbe Jugend vergeudet haben. „Laser Squad“ ist der Vater der legendären „X-COM“-Computerspieleserie, in der man sich mit taktischen Mitteln einer Invasion aus dem All erwehren musste. Wer damals nicht eine gewisse Faszination für Technik und fremde Welten entwickelte, dem ist auch nicht mehr zu helfen …

Tom Orgel: Das meiste meiner Frühsozialisierung im SF-Bereich deckt sich mit dem, was Stephan schon aufgezählt hat (wundert das jemanden?). Wobei es bei mir etwas früher anfing und eine ganze Handvoll sogenannter „deutscher Ingenieursromane“ von Hans Dominik bis Paul Eugen Sieg einschließt. Ein, zwei winzige Details aus „Südöstlich Venus“ sind übrigens in „Terra“ eingeflossen. Zusätzlich fällt mir vor allem noch exzessives spielen von„Elite-Dangerous“ (am C64) ein, dessen beiliegende Novelle „Das Dunkle Rad“ mich nachhaltig beeindruckt hat. Wie auch die zwei, drei Doctor-Who-Romane, die es schon vor Mitte der 90er gab. Und immerhin war mein erster Schreibversuch eine (verdammt grottige) Fan Fiction zu „Raumpatrouille Orion“. Dazu noch eine ganze Handvoll teilweise heute zu Recht vergessene B-Space-Movies (wer erinnert sich nicht an das legendär schlechte „Critters 4“ …) und zu Unrecht vergessene Perlen wie „Split Second“. Nach längerer Abstinenz bin ich in den letzten Jahren allerdings besonders zu SF-Serien (in Roman und auf dem Schirm) zurückgekehrt: unter anderen „Doctor Who“, „The Expanse“, „Altered Carbon“, „Dark Matter“ und natürlich „Firefly“. Das liegt tatsächlich daran, dass ich, während ich Fantasy schreibe, keine Fantasy lesen oder sehen kann. Dazu bin ich erst während der Arbeit an „Terra“ endlich wieder gekommen.

Verläuft eure Zusammenarbeit beim Verfassen eines SF-Romans genauso wie beim Schreiben eines Fantasy-Buchs?

Tom Orgel: Ja. Genauso. Wir haben zumindest bei „Terra“ genauso gearbeitet wie bei jedem anderen Buch: Mehrere Erzählstränge und die halbwegs gleich unter uns aufgeteilt. In diesem Fall waren es eben die Stränge im Raumkonvoi auf der einen Seite, die auf dem Mond auf der anderen. Wobei Nebenstränge im Verlauf der Geschichte durchaus schon mal den Verantwortlichen wechseln. Tja, und dann wird das Geschriebene kapitelweise zusammengemixt, Berührungspunkte verschliffen und immer wieder abgestimmt, wobei es für jedes Projekt eine Online-Datenbank gibt, um nicht den Überblick zu verlieren. Wir sind allerdings inzwischen so eingespielt, dass wir wesentlich weniger stilistische Differenzen verschleifen müssen als noch bei unseren ersten Büchern.

Zwei Brüder, die über Geschwister schreiben, da liegt der Gedanke nahe, dass in der Beziehung zwischen Jak und und Sal so einiges von euch beiden steckt, vielleicht sogar unterbewusst …

Stephan Orgel: Die zwei Geschwister, die sich nicht ganz grün sind? Der eine ein kleinkrimineller Trucker und die andere eine desillusionierte Polizistin? Ja, das trifft uns doch ganz gut … Aber grundsätzlich ist sicherlich schon ein bisschen von uns selbst in den Charakteren versteckt. Unbewusst projiziert man als Autor immer ein Stück von sich in die Personen hinein, die man schreibt. Das ist mir damals schon beim Rollenspiel (jeder Fantasy-Autor hat ja mal mit Rollenspielen angefangen) aufgefallen: egal wie unterschiedlich die Charaktere angelegt waren, am Ende konnte man ziemlich gut erkennen, wer welchen spielt. Mein Bruder hatte diese zwielichtigen Barden/Diebe bevorzugt, die in jeder unpassenden Situation einen coolen Spruch auf den Lippen hatten, so wie Star-Lord in „Guardians of the Galaxy“, und ich hatte irgendwelche albernen, manchmal auch arg tumben Haudraufs, die verdammt mächtig sein könnten, wenn sie sich nicht immer selbst im Weg stehen würden.

Ob unterbewusst viel oder wenig von uns selbst in die Beschreibung von Jak und Sal eingeflossen ist, kann ich nicht genau sagen, doch im Grunde ist deren Beziehungen gar nicht mal so untypisch: zwei durchaus verschiedene Lebensentwürfe, aber trotz aller Unterschiede gibt es da immer noch einen besonderen Draht zueinander. Einfach auch weil man gemeinsame Eltern, gemeinsame Gene und eine gemeinsame Vergangenheit hat. An dem Spruch „Blut ist dicker als Wasser“ ist halt irgendwie schon was dran, sonst gäbe es zu diesem Thema ja nicht so viele Bücher und Filme. Und natürlich hofft man auch im echten Leben, dass man sich im Notfall auf die Geschwister verlassen kann. So wie Jak sich trotz aller Differenzen letzten Endes eben voll und ganz auf Sal verlassen kann.

Tom Orgel: … und das, was unterbewusst in den Figuren steckt – na ja … wüssten wir es, wäre es ja nicht unterbewusst, oder? (grinst) Aber ein mindestens ebenso interessanter Gedanke ist doch: Wir haben schließlich auch Leute wie Millner, Horton, Nathan, Bran, Noah und Kalil geschrieben. Wie viel von uns steckt dann wohl in denen? Dieser Gedanke beschäftigt mich tatsächlich weit mehr. Bei Leuten wie Jak oder Sal ist es für mich eher der Gedanke: Mit wem aus dem ‚Cast‘ würde ich gern mal ein Bier trinken gehen?

Ist es schwieriger, beim Worldbuilding die logische Konsistenz einer Fantasy-Welt zu gewährleisten, oder einer Hard-Science-Fiction-Zukunft?

Tom Orgel: Das ist gar nicht so eindeutig zu beantworten. Die Arbeit an der logischen Konsistenz ist bei beiden gleich aufwendig. Was bei der SF (wobei wir nicht behaupten, Hard-SF zu schreiben. Wir nennen es ja auch eher ‚Thriller in Space‘) deutlich aufwendiger ist, ist die Recherche und das Abgleichen mit realen Gegebenheiten – und das saubere Extrapolieren aus Dingen, die heute wirklich jeder kennt. Lange nicht jeder weiß, wie eine Schwertschmiede funktioniert – aber jeder heute kennt Siri, Alexa und Co. Die glaubwürdig 75 Jahre in die Zukunft weiter zu entwickeln ist deutlich schwerer als atmosphärisch den Innenraum einer Schmiede zu beschreiben. Aber: Wenn man dann mal in der Fantasy etwas festgelegt hat, dann muss man sich als Autor genauso daran halten wie in der Science-Fiction. Inkonsistenz innerhalb der Geschichte ist in beiden, eigentlich in allen Genres verheerend.

In „Terra“ finden sich allerhand Anspielungen. Geektum wird immer salonfähiger – muss man aufpassen, damit es nicht zu nerdig wird oder man sich nicht auf Bezugspunkte verlässt, die in der Zukunft der Geschichte eigentlich überholt sein müssten?

Stephan Orgel: Ich würde mal behaupten, dass wir beide gar nicht geekig genug sind, um jemals Gefahr zu laufen, über das Ziel hinaus zu schießen. Wir interessieren uns für so viele verschiedene Dinge, da bleibt gar keine Zeit, sich in ein bestimmtes Gebiet zu verbeißen.

Ich selbst würde mich in Sachen Geektum dann eher auch als interessierten Beobachter bezeichnen. Ich kenne ein paar echte Geeks, es macht unglaublich Spaß, sich mit ihnen über ihre Leidenschaft zu unterhalten, aber ich hätte niemals die Hingabe und die Geduld, um mich so tief hinein zu vergraben. Ich bleibe also irgendwo auf dem Level ‚eine Menge unnützes Halbwissen, das man bei passender Gelegenheit anbringen kann, um klüger zu erscheinen’ (mein Buchtipp in diesem Zusammenhang: Dietrich Schwanitz „Bildung – Alles, was man wissen muss“ – gibt es dazu eigentlich auch eine Geek-Variante?)

Tom Orgel: Die Geek-Varianten … darüber musst du dich mit Andrea Bottlinger und Christian Humberg unterhalten. (lacht) Ich muss Stephan leider zustimmen. Wir tendieren beide zum mehr oder minder gesunden Halbwissen, das allerdings nützlich genug ist, um so tun zu können, als ob man versteht, wovon echte Fachleute reden. Das ist eine Untugend, die mein Job in der Werbung leider noch verstärkt (grinst). Wobei ich heute dazu stehen kann, dass ich in meiner Jugend weit mehr Nerd war, als ich damals zugegeben hätte. Aber hey – deswegen darf ich heute auch coole Bücher schreiben, statt einem ‚geregelten’ Job nachzugehen.

Aber mal ernsthaft: Das mit den Bezugspunkten war tatsächlich ein interessanter Teil der Arbeit. Es ist gar nicht so einfach, sich zu überlegen, was von dem, was heute Popkultur ist, die nächsten 70 Jahre überleben wird. Gleichzeitig war es uns aber tatsächlich wichtig, so etwas einzubauen – einfach, weil es Teil unserer Kultur ist. Wir referenzieren doch alle immer und ständig. Und es gibt wenig, was unechter in Romanen und Filmen wirkt, als zum Beispiel Leute in einer Zombie-Apokalypse, die niemals „The Walking Dead“ – oder „Shaun of the Dead“ – erwähnen und nicht einmal die Grundlagen der Zombie-Popkultur kennen. Das ist einfach unglaubwürdig. Popkulturreferenzen verbinden uns mit unserem täglichen Leben. Das wird sich kaum ändern. Und so, wie wir heute noch „Metropolis“ und „Mein kleiner grüner Kaktus“ kennen, wird in 70 Jahren noch genug von unserer Kultur übrig bleiben. Das Spannende ist einfach: was?

Euer Setting geht von einer ausgebeuteten Erde aus, von der aus die Menschheit ihre Gier und Unvernunft ins All trägt. Glaubt ihr noch daran, dass man mit den Regierungen und Strukturen, die wir derzeit haben, den Klimawandel und den großen Knall stoppen kann?

Tom Orgel: Ich persönlich glaube nicht an den ‚großen Knall‘. Ich prophezeie: Es wird keinen geben. Wir werden uns durchwursteln, wie wir es als Menschheit schon immer tun. Es wird vermutlich kontinuierlich schwerer werden, in unserer Welt zu überleben. Aber wir werden in 100 Jahren noch da sein – und in 200 (sofern niemand wirklich den großen Knall mit Bio- oder Atomwaffen herbeiführt, oder uns buchstäblich der Himmel auf den Kopf fällt, natürlich). Menschen haben zwei herausragende Eigenschaften: Wir sind zerstörerisch – und wir sind kreativ, wenn es darum geht, zu überleben. Davon handelt schließlich auch unser Roman. Der Klimawandel kommt. Keine Frage. Es ist nur noch nicht entschieden, wie hart. Aber wir werden uns auf jeden Fall anpassen. Die Frage ist eher, wie viel vom Rest noch übrigbleibt. Deshalb geht es in unserer Geschichte auch nicht nur um die ausgebeutete Erde und sind es nicht nur Gier und Unvernunft, die uns ins All treiben.

Wir erwähnen in „Terra“ immer wieder auch Auswege, die in den Jahren bis zur Handlung gefunden wurden. Elf Milliarden Bewohner sind nicht das schlimmstmögliche Szenario. Es gibt die Renaturalisierungskampagnen, es gibt alternative Nahrungsmittelproduktionen, die bei weniger Landverbrauch mehr Menschen ernähren (allein das aus Stammzellen gezogene Kunstfleisch und die künstlichen Eier, die extrem Ressourcen schonen), es gibt Fusionstechnik (die schließlich fast unbegrenzt saubere Energie erzeugt), und es gibt Gendatenbanken und die Rückzüchtung von Lebewesen, die wir heute ausgerottet haben. Und es gibt eine enger zusammengewachsene Welt mit weniger blutigen Kriegen und weniger Rassenkonflikten. Unsere Protagonisten sind nicht von ungefähr lateinamerikanisch-asiatischer Abstammung. Und da ist z. B. die persische Frau, die Kapitänin eines arabischen Raumschiffes ist… (zwinkert). Ins All treibt die Menschen in „Terra“ eben nicht nur die Gier, sondern auch der Forschungsgeist, der Wissensdurst – und auch der Gedanke, Erdressourcen zu schonen und Probleme wie die Überbevölkerung zu lösen. Die Menschen 2095 unterschieden sich gar nicht so sehr von uns heute. So, wie wir uns nicht so sehr von denen vor 150 Jahren unterscheiden. Unsere Welt ist keine Utopie, das stimmt. Aber auch nicht wirklich eine Dystopie.

Denkt man anders, bedrückter über dieses Thema und die Aussichten, wenn man selbst Kinder hat?

Stephan Orgel: Da mein Bruder zwei Kinder hat und ich keine, müsste ich diese Frage eigentlich direkt an ihn weitergeben. Aber auch als kinderloser Mensch macht man sich natürlich Sorgen um die Zukunft. Zumindest schon mal um die nächsten 40 bis 50 Jahre, die man eventuell ja noch mitbekommt. Aber auch danach will ich ganz eigennützig mein ‚Erbe’, also in erster Linie die Bücher, irgendwo (und sei es nur indirekt) wertgeschätzt wissen. Das würde allerdings nicht funktionieren, wenn die Welt irgendwann in Trümmern liegt.

Allerdings bin ich deutlich optimistischer als das Buch den Eindruck erweckt. Wir erlebten in den vergangenen vielleicht 200 Jahren eine regelrechte Wissensexplosion und in Folge dessen auch ein enormes Wohlstands- und Bevölkerungswachstum. Diese drei Komponenten können im Zusammenspiel zwar eine gefährliche Mischung sein, aber wenn man sich gerade die letzten Jahrzehnte mal ganz objektiv anschaut, dann erkennt man, dass sich die Bevölkerungswachstumskurve deutlich abflacht, gleichzeitig Armut und Hunger überall auf der Welt rapide zurück gegangen sind, die Anzahl und Heftigkeit der Kriege und Konflikte sich auf dem niedrigsten Niveau befindet, und sich sogar in Sachen Umweltschutz eine Menge getan hat. Wir sind also sicherlich noch nicht auf dem besten Weg, aber haben zumindest schon den richtigen Kurs angepeilt.

Viele Menschen werden mir in dieser Hinsicht vermutlich vehement widersprechen wollen, wenn sie sich so die täglichen Katastrophenmeldungen anschauen, aber wenn ich eines in meinem Medienwirtschaftsstudium gelernt habe, dann, dass die Medien von der Skandalisierung leben. Weil sich schlechte Nachrichten eben besser verkaufen als gute. Der Mensch braucht seine tägliche Dosis Weltuntergang wie die Luft zum Atmen, und deshalb greift man auch lieber zu Büchern, in denen etwas Haarsträubendes passiert. Und ganz im Ernst: will wirklich jemand „Jaks völlig ereignisloser Flug in einem Raumtransporter“ oder „Aktensortieren mit Marshal Sal“ lesen?

Übrigens will ich damit nicht sagen, dass wir vor gar keinen Problemen stehen. Ganz im Gegenteil. Es liegen noch eine Menge vor uns. Deshalb halte ich auch eine Dramatisierung oder Überspitzung manchmal durchaus für angebracht. Einfach um die Leute zu sensibilisieren, aufzurütteln und vielleicht auch, um ihren Ehrgeiz zu wecken, etwas zu ändern. Nur dumpfe Panikmache lasse ich dabei nicht gelten. Panikmache führt zu blindem Aktionismus, und der wiederum nur selten zum Ziel.

Tom Orgel: Was mich betrifft – nein. Ich denke gar nicht pessimistischer über dieses Thema. Sachlicher vielleicht, realistischer möglicherweise … aber ich glaube auch nicht, dass es so hoffnungslos ist, wie es gern öffentlich dargestellt wird. Im Gegenteil: Gerade die Recherchen haben mir klar gemacht, wie gut es uns geht, in was für einer großartigen Zeit voller Potenziale wir leben. Wir haben weniger Kriege als je zuvor, wir haben die höchste Lebenserwartung der Geschichte, wir haben im Moment keine nennenswerten Seuchen zu befürchten – für die meisten Krankheiten stehen in absehbarer Zeit medizinische Lösungen für alle in Aussicht. Wir hatten noch nie so viel Wissen so einfach verfügbar, wir hatten noch nie so wenig Hunger, wir hatten noch nie soviel Demokratie wie heute. Ja, das passt nicht zum Bild in den Medien. Aber das hat Stephan eben schon erklärt.

Das entbindet uns nicht davon, die ernsten Probleme anzugehen, die wir tatsächlich haben. Und es wird immer Menschen geben, die uns allen dabei ein Bein stellen wollen. Aber es sollte uns Mut machen. Und es sollte uns dazu bewegen, unseren Kindern Mut zu machen und sie darin zu bekräftigen, dass es einen Sinn hat, zu protestieren, etwas zu bewegen, sich zu wehren. Mit dem Verbreiten von Hoffnungslosigkeit machen wir mehr kaputt als mit allem anderen. Und ganz ehrlich: Als Jugendliche haben wir Friedenswochen gegen den Golfkrieg organisiert und uns vor einem Dritten Weltkrieg gefürchtet. Soviel weniger bedrückend war das jetzt auch nicht gerade.

Künstliche Intelligenz spielt in „Terra“ ebenfalls eine Rolle. Wie viel digitale Abhängigkeit steckt schon in eurem Berufsleben und Familienalltag?

Tom Orgel: Ich bin im Erst-Beruf selbständiger Grafik-Designer, lebe davon, Webseiten zu machen, verbringe (abgesehen von der Schreibzeit) gut acht Stunden am Tag vor dem Rechner und zu viel Zeit in diversen sozialen Medien. Ich lese die Hälfte meiner Bücher inzwischen auf Reader-Apps und habe meine Musikdatenbank und meinen Kalender auf allen Endgeräten synchronisiert. Aber ich habe weder Alexa noch Siri im Einsatz, habe ein halbes Dutzend übervoller Bücherregale allein im Büro und kann noch joggen gehen, ohne ein Smartphone mitzunehmen. Es könnte schlimmer sein. Ich denke, interessanter sind all die Abhängigkeiten, die wir alle nicht bewusst bemerken oder beeinflussen können: von Verkehrsleitsystem über Bordelektronik in Fahrzeugen, Logistik-, Bezahl- und Kassensystemen in den Geschäften, in denen wir alle einkaufen, Krankenkarten, über elektronische Steuererklärungen bis hin zu so banalen Dingen wie der Steuerung von Straßenlaternen, Stromzählern und der Wasserversorgung. All das ist heute elektronisch verwaltet und wird immer komplexer und von immer intelligenteren Systemen bedient und beaufsichtigt. All das betrifft buchstäblich unseren Familienalltag. Davon ist jeder von uns abhängig, ob wir das wollen oder nicht. Und all das ist weit anfälliger, als wir uns das vorstellen. Sollte uns eine KI jemals etwas Böses wollen – dann muss Skynet nicht mit Raketen nach uns werfen und Killerroboter schicken. Er muss nur das Internet abstellen. Dann sind wir geliefert.

Stephan Orgel: Im Urlaub bin ich inzwischen heilfroh über die Möglichkeiten der modernen Technik. Es mag romantisch klingen, mit einer Straßenkarte in der Hand durch Afrika zu navigieren oder in Japan mit Händen und Füßen nach einem Hotelzimmer zu suchen, aber im Grunde macht es das Reisen deutlich entspannter, wenn man einfach nach Navi fahren kann und das nächste Zimmer mit ein, zwei Mausklicks vorgebucht hat (man wird ja auch nicht jünger).

Hat die Arbeit an „Terra“ euren Umgang mit Rohstoffen, Energie oder KI verändert?

Stephan Orgel: Ich könnte jetzt davon erzählen, dass wir schon seit Jahren unsere Essenszutaten lokal und in erster Linie vom Biomarkt beziehen, und zwar in solchen Mengen, dass so gut wie keine Abfälle mehr übrig bleiben und schon gar keine Plastikverpackungen. Aber um ehrlich zu sein, machen wir das in erster Linie des Geschmacks wegen und weil man tatsächlich Geld sparen kann, wenn man nicht mehr in abgepackten Großmengen einkauft. Außerdem reisen und fliegen wir leidenschaftlich gern in der ganzen Welt herum und das schlägt sich leider verdammt negativ in der CO2-Bilanz nieder.

Ich glaube, das Schreiben an „Terra“ hat mir deutlich gemacht, dass der Luxus, den wir uns heutzutage leisten, immer mit einem gewissen Preis verbunden ist. Rohstoffe sind auf der Erde nicht unendlich und ich kenne keinen einzigen Menschen, der wirklich in der Lage wäre, konsequent umweltfreundlich oder ressourcensparend zu leben (weil er dann nämlich auf Handy, TV, Internet, Haus, Kleidung und Auto verzichten müsste – irgendwas ist immer). Dafür bietet sich durch die Technisierung eine Fülle an neuen Entwicklungen und Erfindungen, die das Leben umweltfreundlicher machen können. Und das ist meine vielleicht interessanteste Erkenntnis aus der Recherchearbeit an „Terra“: Wer umweltfreundlich sein will, darf nicht technikfeindlich sein. So paradox das klingt.

Was das Thema KI angeht, da habe ich durch die Recherchearbeit erstmals richtig mitbekommen, wie manipulierbar der menschliche Geist in Wirklichkeit ist. Und damit meine ich nicht die gern zitierte Beeinflussung durch Medien oder irgendwelche Putinbots auf Facebook. Das ist Pillepalle gegen die Manipulationen, die das Gehirn unter Einfluss eines unkalkulierbaren Hormon-Cocktails täglich mit sich selbst anstellt. Das ist wirklich das reinste Pulverfass. Inzwischen tendiere ich deshalb auch zu denen, die glauben, dass der freie Wille prinzipiell nur eine Illusion ist (die sich das Gehirn am Ende auch noch selbst ausgedacht hat, damit es ruhig schlafen kann). Eine KI ist dagegen vergleichsweise kalkulierbar, da sie vor allem nicht von diesen dämlichen Hormonen durcheinander gebracht wird. Richtig programmiert und eingesetzt, kann sie deshalb verdammt nützlich sein.

Was uns wieder zum Thema ‚Fliegen’ zurück bringt: Flugzeuge sind theoretisch schon heute in der Lage, völlig autonom zu fliegen. Trotzdem verlassen wir uns immer noch lieber auf einen mit Hormonen vollgepumpten Kohlenstoffbeutel im Cockpit, der jeden Augenblick durchdrehen könnte – sicherlich auch so eine komische Schutzfunktion unseres Gehirns, die uns beruhigen soll.

Tom Orgel: Was Stephan sagt. Ich denke, es war eher anders herum: eine stetige Sensibilisierung für diese Themen hat uns dazu geführt, „Terra“ so zu schreiben, wie wir es getan haben. Wobei ich – auch durch die Arbeit an und Recherchen zu „Terra“ – inzwischen die Theorie habe, dass die logische Entwicklung von KIs dazu führen wird, dass sie wohl am Ende ebenso fehlbar und subjektiv werden wie wir. Einfach, weil die Fähigkeit, Fehler zu machen, eine unserer größten Stärken beim Lernen ist. Fast alle bisherigen Versuche, eine KI zum Selbst-Lernen zu animieren, deuten übrigens genau darauf hin: Jede darauf angesetzte KI hat seltsame Ideen entwickelt, die teilweise dahin gingen, dass sie abgeschaltet werden musste. Im Endeffekt werden wir also irgendwann auch eine KI erleben, die keine Lust auf ihre Arbeit hat, und sich lieber Katzenvideos und Facebook-Diskussionen reinzieht und Onlinespiele zockt. Was natürlich auch hässlich werden kann, wenn sie eigentlich z. B. unseren Flugverkehr überwachen sollte. Eine Erkenntnis, auf die wir früher oder später in jedem unserer Bücher stoßen: Leute sind letztendlich einfach nur Leute. Vermutlich selbst dann, wenn sie eine KI sind.

Wird euer nächster Roman wieder SF, oder fahrt ihr nun offiziell zweigleisig?

Tom Orgel: Da wir gerade intensiv daran schreiben: Ganz definitiv Fantasy. Und damit wohl zweigleisig. Wobei wir nicht ausschließen, auch mal einen Abstecher in noch weitere Genres zu machen – wie Stephan ganz am Anfang schon sagte: Wir hatten schon einige Ideen in der Auswahl. Es gibt viele gute Stoffe, die man schreiben könnte, und wir sehen uns da an kein Genre gebunden. Jetzt schreiben wir erst einmal den Fantasy-Roman – ein Stand Alone. Aber wir sind für danach auch einem weiteren Science-Fiction-Roman absolut nicht abgeneigt.

T.S. Orgel: „Terra“ • Roman • Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 • 512 Seiten • Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

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