4. November 2019

Rasende Geschichte

Das Buch „Web Design“ beschreibt die visuelle Entwicklung des Internets

Lesezeit: 3 min.

Vor einigen Wochen betrachtete ich Felszeichnungen aus dem Jungpaläolithikum, die außerhalb der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku zu finden sind, und dachte über das langsame Tempo der Entwicklung der damaligen Zeit nach: Auf 40.000 bis 30.000 vor unserer Zeitrechnung werden die Petroglyphen datiert, eine Ära, in der sich über hunderte, ja, tausende Jahre fast gar nichts veränderte. Und heute? Vor 30 Jahren hatten selbst in westlichen Gesellschaften nur manche ein Handy, war der Nokia-Knochen das Maß der Dinge, ein klobiges Gerät, das für moderne Teenager wie ein seltsames Relikt aus der Steinzeit wirken muss.

Wie rasant die technologische Entwicklung in unserer Zeit von Statten geht, führt – natürlich nicht zum ersten Mal, aber sehr eindrucksvoll – der nun im Taschen-Verlag erschienene Band „Web Design – The Evolution of the Digital World 1990 - Today“ vor Augen. Editiert wurde der über 600 Seiten lange, reich bebilderte Nachschlagewerk von Rob Ford, Web-Designer, aber vor allem Gründer der Seite thefwa, die seit Jahren die inhaltlich, vor allem aber graphisch interessantesten Internetseiten vorstellt und auszeichnet.

Was Ford nun in „Web Design“ zusammengetragen hat, ist ein Best Of der letzten 20 Jahre Internetdesigns. Viele Firsts finden sich dabei: Von der ersten Seite mit Zoom-Menü, über die erste Viral Site bis hin zur ersten Seite, die einer Gruppe ein VR-Erlebnis ermöglichte. Werden die Jahre bis 1997 noch in einem kurzen Kapitel abgehandelt, bekommt jedes Jahr danach ein ganzes Kapitel, in dem jeweils zehn markante, einflussreiche Seiten vorgestellt werden. Wenig überraschend ist viel Werbung dabei – für Automarken von VW bis Audi, Filme von Corpse Bride bis The Martian, aber auch Seiten, in denen sich Designer einfach austobten.

Der größte Wermutstropfen beim Durchblättern des Bandes ist dabei, dass viele der vorgestellten Seiten nicht mehr Online sind oder nur als Clips auf Youtube oder Vimeo zumindest ansatzweise zu bewundern sind. Ein Manko also, das man dem Buch kaum vorwerfen kann, das im Gegenteil für die Qualität der Auswahl spricht, die große Lust macht, die vorgestellten Seiten selbst zu sehen und zu erleben. Und zum Glück funktionieren viele Seiten noch, der unendliche Zoom durch Bilder etwa, die faszinierende Seite don’t click, die nur mit Mausbewegungen zu bedienen ist oder das erstaunliche quick draw, eine der ersten Seiten, die eine lernende künstliche Intelligenz einsetzte, die selbst in krakeligsten Zeichnungen noch etwas erkennt.

Wie rasant die Entwicklung vonstatten ging zeigt nicht nur der Sprung vom bald obsoleten Flash-Standard zu HTML5 und der zunehmenden Verschiebungen von Desktop bzw. Notebooks zu Smartphones.

Ein besonders eindrückliches Zeichen für die unfassbare Beschleunigung technologischer Entwicklung, in deren Mitte wir leben, ist eine Seite, die zu Beginn jedes Kapitels Fakten des jeweiligen Jahres auflistet: Da lässt sich nicht nur sehen, dass etwa Twitter erst 2006 gegründet wurde (damals noch als twttr.com), 2007 das iPhone, 2015 Windows 10 eingeführt wurde, sondern auch verfolgen, wie sich der Anteil der weltweiten Internet-Nutzer und die Gesamtzahl der Internetseiten entwickelt hat: Waren 2000 erst 5,9% der Weltbevölkerung regelmäßig Online, überschritt die Zahl im Jahr 2018 zum ersten Mal die 50% Hürde: 52,9% der Menschheit nutzte regelmäßig das Internet, über vier Milliarden Menschen! Und in der selben Zeit wuchs die Zahl der Internetseiten von 17 Millionen auf über 1,3 Milliarden!

Was diese unglaubliche Entwicklung mit den Menschen, ihrer Psyche, dem Umgang miteinander macht, darüber kann, darüber muss man spekulieren, und zur Bebilderung dieser Spekulationen darf man getrost zu Rob Fords enzyklopädischem Buch der Entwicklung des Web Designs greifen.

Rob Ford: Web Design • Taschen, Köln 2019 •  640 Seiten • 40 Euro

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