19. Juni 2020 4 Likes 1

„Ich war nie besonders an Nekromanten interessiert.“

Im Gespräch mit Tamsyn Muir, Autorin von „Ich bin Gideon“

Lesezeit: 7 min.

Tamsyn Muir wurde 1985 in Neuseeland geboren und pendelt von Berufs wegen zwischen ihrer Heimat und Großbritannien. Als Autorin machte sie zunächst mit Kurzgeschichten und Novellen auf sich aufmerksam, die in bekannten englischsprachigen Genre-Magazinen erschienen – z. B. neben Cixin Liu in einer Ausgabe von „Clarkesworld“ – und ihr Nominierungen für u. a. den Nebula und den World Fantasy Award einbrachten. Mit ihrem Romandebüt „Ich bin Gideon“ (im Shop) initiierte Muir dann die „Locked Tomb“-Trilogie über ein morbides Science-Fantasy-Universum voller Grüfte, Schwertkämpfer und vor allem Nekromanten. Kollegen wie Charles Stross, Warren Ellis, Annalee Newitz und V. E. Schwab sind ob der erfrischenden Finsternis im Science-Fiction-Kosmos voll des Lobes für „Ich bin Gideon“, das im Frühsommer als E-Book, Paperback und Hörbuch-Download bei Heyne erschienen ist. Hier findet sich eine Rezension zum Roman mit den galaktischen Gruftmaiden Gideon und Harrow. Im folgenden Interview spricht Tamsyn Muir über ihre Arbeitsweise, ihre wichtigsten Einflüsse sowie die Schwierigkeiten in der Zeit von Corona-Pandemie und Online-Kritiken.

 


Tamsyn Muir. Foto © Vicki Bailey/VHB Photography

Hallo Tamsyn. Was findest du an Nekromanten so faszinierend, und wie kamst du auf die Idee, sie ins All zu verpflanzen?

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, war ich nie besonders an Nekromanten interessiert, bevor ich „Ich bin Gideon“ geschrieben habe! Für mich war ein archetypischer Nekromant eher jemand wie Doktor Frankenstein – jemand, der mit den Geistern der Toten spricht oder der sich viel Mühe macht, die Toten zurück ins Leben zu holen. Aber ich hatte immer ein großes Interesse an Body Horror. Als Kind las ich viele medizinische Handbücher, woraus ich mit dem Gedanken hervorging, wie unglaublich fragil der Körper war und was alles mit ihm passieren konnte. Ich wollte eine Schule der Magie, die auf diesen Prinzipien beruht. Auch das Jenseits der antiken Griechen faszinierte mich immer, mit seinen Geistern und notwendigen Opfern, um sie zu rufen, genauso wie die Idee der verderblichen Sünde. Nimmt man all das zusammengenommen, und ich erreichte Nekromantie – eher durch Zufall als durch Absicht.

Hast du für deinen Pitch über Nekromanten im Weltraum nur positives Feedback bekommen, oder auch negatives?

Ich bin sehr schlecht im Pitchen meiner Ideen. Als Neuseeländerin fand ich es höchst schwierig, zu sagen: „Lest meinen coolen Roman, er ist wundervoll, ihr werdet ihn lieben!“ Deshalb werde ich nie erfahren, ob Leute mich abgelehnt haben, weil die Idee von Nekromanten im Weltraum nichts war, das sie wollten, oder einfach weil ich sehr schlecht darin gewesen bin, ihnen diese Idee zu beschreiben. Als ich endlich einen Lektor dazu bekam, den Roman zu lesen, war das, weil ich ihm sagte, er handle von bösen Nonnen mit einer Mission. Er kam auf mich zurück und sagte mir: „Ich liebe dieses Buch. Nichts, was du mir erzählt hast, hat auch nur irgendetwas mit dem eigentlichen Roman zu tun.“

Dein Roman steht genauso in der Welt der Science-Fiction wie der Fantasy und des Horrors – was sind in Sachen Fantastik denn deine größten Einflüsse?

Ich habe ein breites Spektrum an Einflüssen, und nicht alle davon sind Science-Fiction- und Fantasy-Romane. Als ich aufwuchs, spielte ich viele Videogames, und die „Final Fantasy“-Titel mit ihren oftmals sehr losen Genre-Grenzen haben mich stark beeinflusst. Auch die „Soul Blazer“-Trilogie habe ich geliebt. Diese Games nehmen oft sowohl Ideen aus der Science-Fiction als auch aus der Fantasy in Angriff, und obwohl die Sci-Fi nicht sehr „hart“ ist, schafft sie es doch, triftige Fragen zu stellen. Und natürlich liebte ich „High Gothic“-Spiele wie das originale „Diablo“ und Horror-Games wie „Silent Hill“, „Clocktower“ und so weiter. In Sachen Literatur schätze ich auf Detektiv-Geschichten – Sayers ist meine Favoritin. Außerdem finde ich, dass Mervyn Peakes „Gormenghast“-Trilogie zum feinsten Stoff gehört, den die Literatur zu bieten hat, speziell die ersten beiden Bücher. Ich habe, wie deutlich gemacht, so viele Einflüsse, dass es schwer ist, sie zu bestimmen. Ich kann nicht auf ein einzelnes Buch oder einen Autor deuten und sagen: „Oh ja, das.“

Wie bist du ursprünglich auf die Idee von Gideons Welt und deinem düsteren Imperium im All gekommen?

Diese Frage bringt mich immer in Verlegenheit, denn ich muss zugeben, dass die gesamte Trilogie zusammenkam, als ich in einem Flugzeug saß. Ich fliege derzeit zwischen meinem Zuhause in Neuseeland und meinem Arbeitsplatz im Vereinten Königreich hin und her, obwohl COVID-19 das für lange Zeit zunichte gemacht haben dürfte, schätze ich. Es war auf einem Rückflug aus Großbritannien, als ich mir alles ausdachte. Die Struktur der Trilogie befindet sich noch immer hinten in einem Notizbuch, ungefähr zwei Seiten an Material. Ich vermute, dass viel schlechtes Flugzeugessen, im Dunkeln gelassen werden, das Gefühl der Enge und die komprimierte Luft zur Ästhetik der Trilogie beigetragen haben. Ich hasse Flugzeuge.


Band 2 der Trilogie

Wie müssen wir uns deine Arbeitsweise und dein Worldbuilding vorstellen? Viel Planung, oder viel Freiheit?

Ich bin die Sorte Autorin, die vor dem Start ihre grundlegende Outline kennt. Ich kenne Leute, die freestylen und ohne einen besonders klaren Plan loslegen und ihre Geschichte sich selbst formen lassen. Aber ich gehöre auch nicht zu denen, die eine riesige Worldbuilding-„Bibel“ schreiben, bevor sie anfangen. Gerade in „Ich bin Gideon“ wollte ich, dass der Weltenbau Teil des Mysteriums ist – ich wollte den Lesern lieber Hinweise über das Universum füttern, in dem sie sich lesend bewegen, anstatt das Buch mit zwei Karten, Begriffserklärungen und einer Ausarbeitung der Funktionsweise von Nekromantie zu beginnen. Ich begann das Buch mit einer „dramatis personae“-Liste, doch das war mehr ein Spaß – die Leute trauen diesen Listen immer und denken nicht, dass sie von ihnen belogen werden. Aber ich lüge ständig in diesen Listen, oder sage zumindest nicht die ganze Wahrheit. Das bedeutet allerdings, dass ich den ganzen Weltenbau kennen muss, bevor ich mit der Geschichte anfange – ich kann keine Hinweise oder Puzzle dieser Art hinterlassen, ohne genau zu wissen, wofür diese Hinweise sind. „Ich bin Gideon“ ist also kein Roman für jene, die bereits auf Seite 3 alle kleinen Details über die Wirtschaftslehre, Historie und Bürgerkunde meines Universums erfahren wollen. Ich habe nichts als Respekt für diese Leute, doch meine Trilogie mag ihnen befremdlich erscheinen.

Hat dich trotz deiner Planung eine Figur während des Schreibens von „Ich bin Gideon“ überrascht?

So gut wie keine. Das ist der Nachteil davon, schon alles beim Schreiben zu wissen. Ich würde es lieben, eine Erfahrung nach dem Motto „Diese Figur will anders sein“ oder „Diese Figur will DIES tun, nicht DAS“ zu haben. Meine Charaktere sind wie Kreideumrisse am Tatort eines Mordes. Sie müssen sich stets an spezifischen Orten und Positionen aufhalten. Nur eine einzelne Figur hat mich überrascht, als ich realisierte, dass die Absichten dieser Figur wesentlich gewaltiger waren als ich sie ursprünglich geschrieben habe – als mir klar wurde, dass ich die Gefühle dieser Figur als ehrliche Emotionen und nicht als Fassade schrieb. Aber es wäre ein Spoiler, zu sagen, von wem!


Einflüße, frühe Storys

Du hast direkt eine Trilogie konzipiert. Ist der Dreiteiler ein Tribut an den klassischen Fantasy-Aspekt deiner Geschichte?

Ich denke, dass die Trilogie heute nicht mehr die vollkommene Norm ist wie einst – sie ist allgegenwärtig, aber viele Autoren planen enorme kreative Bögen, die sich über fünf Bücher erstrecken. Ich wollte aus zwei Gründen eine Trilogie: erstens, weil es in dieser Serie immer um drei „Identitäten“ gehen sollte – Gideon, Harrow, Alecto, was der katholischen Idee eines dreifaltigen Gottes mehr verdankt als der Fantasy; zweitens, weil ich dachte, dass ich nach drei Büchern dafür sterben würde, etwas anderes zu schreiben!

Das erste Buch beschwört einige Male diese dunkle postapokalyptische Labor-Atmosphäre. Hat die Corona-Krise Auswirkungen auf deine Stimmung und darauf, über so ein finsteres, morbides Setting zu schreiben?

Vielen Dank: Ich glaube, „postapokalyptische Labor-Atmosphäre“ ist ein wundervolles Kompliment. Es ist ein wenig seltsam, jetzt während des Lockdowns „Ich bin Gideon“ und selbst den zweiten Band zu lesen, zwei äußerst klaustrophobische Bücher, die zur falschen Zeit kommen. Der dritte Band bringt große Veränderungen dahingehend, dass die Linsen erweitert werden und alles lebendiger wird, das ist also genau die falsche Stimmung. Die Corona-Krise hat es in jedem Fall sehr schwierig gemacht, überhaupt zu schreiben. Die schlimmste Auswirkung, die es auf den dritten, letzten Gideon-Roman hat, ist also die, dass es viel langsamer vorangeht als ich erwartet hatte. Das hat aber noch andere Gründe. Zu schreiben, während andere Menschen deine Arbeit kommentieren, im Guten wie im Schlechten, ist wirklich schwierig in dieser modernen Ära, wo es beinahe unmöglich ist, solchen Äußerungen zu entkommen. Wenn es nach mir ginge, würde ich es vorziehen, nicht zu wissen, was irgendwer denkt, bevor die Einheit aller drei Romane fertig ist. Ich muss wohl zu einem noch größeren Einsiedler werden als durch COVID-19 ohnehin schon.

Tamsyn Muir: Ich bin Gideon • Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt • Heyne, München 2020 • 605 Seiten • E-Book: 11,99 Euro (im Shop)

Kommentare

Bild des Benutzers ChHirtzy

Nach der Lektüre des ersten Bandes kann ich der Autorin (und dem Verlag) nur für diese wunderbare neue Spielwiese eines nekromantischen Universums gratulieren. Ich für meinen Teil liebe es, mitten ins Geschehen geworfen zu werden und keine klassischen Erklärungen für jedes Warum und Wie zu bekommen. Somit ergibt sich viel leichter der Aufbau eines eigenen Universumentwurfes im Kopf (klassisches Beispiel ist für mich hierbei "Der Wüstenplanet"), der Spielraum für alles Mögliche offen lässt und dadurch nicht so einengt. Ich freue mich schon auf die Nachfolgebände und kann jedem SF-Fan nur empfehlen, der "dunklen Magie" der Nekromantie und dieser neuen Reihe eine Chance zu geben! LG., CH

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