Die Welt als arktisches Gefängnis
Vieldeutig: Der Science-Fiction-Klassiker „Eis“ von Anna Kavan
Von J.G. Ballard wurde Anna Kavan bewundert – kaum ein Autor würde die Intensität ihrer Vorstellungskraft erreichen, meinte er. Für Brian W. Aldiss – Autor zahlreicher Klassiker – war „Eis“ die beste Neuerscheinung des Jahres 1967, weshalb er eigenhändig dafür sorgte, dass das in England erstveröffentlichte Buch auch in den USA erscheinen konnte. Und Christopher Priest – Verfasser des Meilensteins Inversion (im Shop) – steuerte später ein Vorwort bei, das den Roman dem „Slipstream“ zurechnet, also jenem schwer definierbaren Grenzbezirk zwischen Hochliteratur und Science-Fiction, der unterdessen ausgesprochen populär geworden ist. Die Autorin hätte diese Entwicklung vermutlich gefreut – für Anna Kavan war Eis eine Mischung aus Franz Kafka und Mit Schirm, Charme und Melone; eine Beschreibung, die dem von Diaphanes nun erstmals auf Deutsch veröffentlichten Buch tatsächlich sehr nahe kommt.
Thema des Romans ist eine Katastrophe: Die Welt erstarrt zu Eis, das sich mit großer Geschwindigkeit über die Kontinente schiebt. Was zu Beginn des Buchs noch nach einer ausgeprägten Frostperiode klingt, nimmt rasch apokalyptisches Format an; kältestarrende Mauern mit „Türmchen und Zinnen in allen Regenbogenfarben“ beginnen, die Zivilisation in die Knie zu zwingen. Der Erzähler – sein Name bleibt ungenannt – ist ein Söldner, der aus den Tropen zurückgekehrt ist und nun eine stets als „das Mädchen“ bezeichnete junge Frau sucht, die er von früher her kennt. Er findet sie bereits im ersten Kapitel, offenbar unglücklich verheiratet und von ihrem Leben wie von einem Eisblock eingeschlossen; aber die Wege der beiden trennen sich wieder, woraufhin das Spiel von vorne beginnt: per Schiff, in fremden Städten und über die vereisten Ebenen des todgeweihten Planeten hinweg. Der Erzähler lernt den machtbewussten „Wächter“ kennen, gerät zwischen Kriegsparteien und schließt sich einer Expedition von Ingenieuren an, um einen ominösen „Sender“ zu reparieren. Doch jede neue Runde scheint nur den Zweck zu haben, diesen Zyklus des Suchens, Findens und Verlierens am Laufen zu halten, denn so nah sich die beiden immer wieder kommen: das Mädchen bleibt eine „Traumgestalt, unerreichbar und unwirklich“. Sicher ist nur, dass das tödliche Eis vorankriecht, unbehindert von Ozeanen und Gebirgen.
An Katastrophen hat es in der Science-Fiction noch nie gemangelt. Fraglich ist allerdings, ob die entsprechenden Bücher und Filme lediglich eine bildstarke Lust am Untergang bedienen oder über weiterführende Ambitionen verfügen. Die Kältekatastrophen in Michael Moorcocks The Ice Schooner (1969; dt. Eiszeit 4000), Arnold Federbushs Ice! (1978; dt. Eis!) und Roland Emmerichs Blockbuster 2012 (2009) repräsentieren die belanglose bis misslungene Spielart des Genres; es bedarf schon einer Größe wie Fritz Leiber, um diesen Stoff bleibend umzusetzen, etwa in der meisterhaften Erzählung A Pale of Air (1951; dt. Ein Eimer Luft). Vergleichbares ist Anna Kavan gelungen: Ihr Buch bedient sich zwar klassischer Weltuntergangselemente, nutzt diese aber in erster Linie als Spielmaterial. So gibt es neben der großen Bedrohung, die vielleicht auf eine Nuklearexplosion „unbekannten Typs“ zurückgeht, typische Ingredienzien wie Militäreinsätze, den Verlust der öffentlichen Ordnung und zerstörte Städte; auch von Mutanten, „die sich gleitend fortbewegten und trillernde Laute von sich gaben“, ist die Rede. Doch Kavan geht es nicht allein um ein ökologisches Desaster – sie entwirft ein düsteres Panorama erstarrter menschlicher Destruktivität, bei der Gewalt, Grausamkeit und Krieg den Planeten ruinieren. In dieses Bild passt die manische Suche des Erzählers nach dem Mädchen, die immer wieder von Aggressivität und Dominanzgebaren überschattet wird. Aber der Text hält die Verhältnisse in der Schwebe: Einerseits erscheint die Frau als Opfer, als „Kind, gebrochen durch permanente Misshandlung“ (etwa durch die eigene Mutter); andererseits hat der Erzähler fortwährend den Eindruck, einen fehlenden Teil seiner selbst vor sich zu haben, dem er zwanghaft hinterherjagt: „Vielleicht waren wir einer das Opfer des anderen.“ Tatsächlich fühlt sich das Mädchen gegen Ende des Buchs, als sich der Erzähler endgültig von ihm lösen will, verraten.
Diese Ambivalenz ist Programm. Oft lässt sich nicht genau sagen, was der Erzähler wirklich erlebt hat, was geträumt und was vielleicht bloß erfunden ist. Ereignisse verlieren ihre Konturen, Figuren gleiten ineinander, die Realität erweitert sich ins Traumartige. Auch Innen- und Außenraum verschwimmen: „Auf eigentümliche Weise schien die Unwirklichkeit der Außenwelt eine Erweiterung meines eigenen wirren Geisteszustandes zu sein“, bemerkt der Erzähler; und stellt fest: „Ich hatte das eigenartige Gefühl, auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu leben.“ Diesem Mangel an Eindeutigkeit entspricht die äußere Gestalt des Buchs. Zwar ist „Eis“ ein Roman, der über Anfang und Ende verfügt und in dem es durchaus ein zeitliches Nacheinander gibt, doch die Struktur wirkt instabil und scheint kurz vor der Auflösung zu stehen. So stirbt das Mädchen mehrfach oder wird zumindest als tot beschrieben, um dann erneut wieder aufzutauchen – ein Handlungsmanöver, das man nicht mit realistisch agierenden Charakteren durchführen kann, sondern das nur mit Kunstfiguren ohne Entwicklung funktioniert. Deren Identität bleibt flüchtig und erscheint austauschbar, wie es etwa bei den Figuren von J.G. Ballard der Fall ist. Als etwa ein weiterer Mann behauptet, das Mädchen getötet zu haben, glaubt der Erzähler, in ein Spiegelbild zu blicken; trotz aller Anstrengung gelingt es ihm nicht, sich und den Fremden auseinanderzuhalten: „Völlig konfus lief ich weg: Später wusste ich nicht, was und ob da überhaupt etwas geschehen war.“ Es fehlt nicht viel, und man hätte ein Buch vor sich, das man – wie etwa die Abenteuerserie Pilzer und Pelzer (1967) von Ror Wolf – an jeder beliebigen Stelle öffnen und lesen kann, weil die Kausalität der Ereignisse kaum noch eine Rolle spielt. Was sich hier andeutet, ist eine spielerische Rekombination von Versatzstücken, bei der die Sprache, die diese Ereignisse transportiert, wichtiger wird als das Ereignis selbst.
Den Erfolg von Eis hat Anna Kavan noch miterleben können: Die 1910 als Helen Emily Woods geborene Schriftstellerin hatte bereits eine Reihe von Büchern veröffentlicht, als sie 1940 ihren Stil (und ihr äußeres Erscheinungsbild) radikal änderte, sich nach einer ihrer eigenen Figuren benannte und eine Reihe ambitionierter Werke veröffentlichte, die sich den üblichen Kategorisierungsversuchen gekonnt entziehen. Über Jahrzehnte heroinsüchtig, ist sie 1968 gestorben. Eis beeindruckt in mehrerer Hinsicht – als unkonventioneller Genretext, als rätselhaft-unausdeutbare Parabel über die Beschaffenheit des Menschen und als ein Buch, in dem die „Schrecken des Eises und der Finsternis“ (Christoph Ransmayr) auf unvergleichliche Weise dargestellt werden: „Der zugefrorene Hafen war eine grauweiße Fläche, besprenkelt mit den schwarzen Rümpfen aufgegebener Schiffe, die fahruntüchtig im Eis eingeschlossen waren. Massive Eiswälle, von denen Eiszapfen wie grinsende Fangzähne hingen, säumten die schmale Fahrrinne schwarzen Wassers. Ich sprang an Land, Schnee stob in breiten Fächern, die Barkasse geriet schon außer Sicht. Kein Abschiedswort fiel.“
Anna Kavan: Eis • Aus dem Englischen von Silvia Morawetz und Werner Schmitz • Diaphanes, Zürich 2020 • 182 S. • € 18 • E-Book 14,99
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