20. Februar 2020 1 Likes

Auf Schienen durch eine seltsame Welt

Christopher Priests verblüffender Science-Fiction-Klassiker „Inversion“

Lesezeit: 3 min.

Die Stadt ist etwa fünfhundert Meter lang und über sechzig Meter hoch, und sie wird mit einem Seilzugsystem über Schienen gezogen, die hinter ihr stets abgebrochen und vor ihr neu errichtet werden. Dies ist die Kulisse für Christopher Priests berühmten Roman „The Inverted World“ (1974, „Inversion“, im Shop), der zu Recht als eines der originellsten Beispiele für britische SF der 1970er Jahre gilt. Denn die Welt, die Priest für sein Buch ersonnen hat, sieht nur auf den ersten Blick wie die unsrige aus. Tatsächlich gehorcht sie völlig anderen Prinzipen.

„Ich war sechshundertfünfzig Meilen alt geworden.“ Bereits der erste Satz des Romans verrät, welches Gesetz das Leben der Bewohner der Stadt bestimmt: Es geht um unentwegte Bewegung. Ziel der Stadt ist das „Optimum“, ein Bereich der Landschaft, der sich kontinuierlich nach Norden bewegt. Je näher ihm die Stadt kommt, desto besser – und deshalb darf sie niemals stillstehen. Diesem Ziel ordnet sich die viktorianisch anmutende Gesellschaft, die in Gilden organisiert ist, konsequent unter: Die Schienenleger, Brückenbauer und Schlepper kümmern sich um den Fortbestand der Stadt, während die Händler möglichst viele Hilfsarbeiter aus dem Umland rekrutieren; einer kargen Öde, in der sich kaum überleben lässt. Eine Miliz achtet darauf, dass die Regeln eingehalten werden.

Hauptfigur des Buchs ist Helward Mann, der wie alle Kinder der Stadt ein nicht übermäßig aufregendes Leben im Internat verbracht hat. Doch nun ist er erwachsen geworden – und beschließt, sich als Volontär der Gilde der Zukunftsvermesser anzuschließen. Dass er dazu umfangreichen Geheimhaltungsvereinbarungen zustimmen muss, bekümmert ihn nicht sonderlich. Doch als er, der noch nie die Stadt verlassen hat, in der Außenwelt erste Schritte macht, kommt es zu beunruhigenden Entdeckungen. Warum sieht die Sonne wie ein Diskus aus, aus dessen Mitte zwei dornenartige Fortsätze scheinbar in die Unendlichkeit ragen? Wieso ist sein Vater nach einer längeren Exkursion massiv gealtert? Und wieso heißt es plötzlich, nicht das „Optimum“ würde sich bewegen – sondern die Oberfläche der Erde, und zwar in die entgegengesetzte Richtung? Erst, nachdem Helward eine Reise in den Süden unternommen hat, beginnt er, die Zusammenhänge zu ahnen. Doch es wird weitere Überraschungen geben.

Manche Bücher haben so großartige Pointen, dass man sich kaum zurückhalten kann, selbige zu verraten. Doch der 1943 geborene Christopher Priest, bekannt vor allem für seinen von Christopher Nolan verfilmten Roman „The Prestige“ (1995; dt. „Prestige: Die Meister der Magie“) hat mit „Inversion“ wesentlich mehr geschaffen. Ginge es nur um die Darstellung eines ungewöhnlichen Planetensystems, hätte wohl auch eine Kurzgeschichte genügt. Doch der ersten Pointe folgt eine zweite, von der die mühsam gewonnene Gewissheit erneut erschüttert wird. Und: Der ebenso fesselnde wie farbenprächtige Roman ist nicht nur eine sensibel erzählte Geschichte über das Erwachsenwerden, sondern auch die Darstellung einer Gesellschaft, die an fragwürdig gewordenen Konventionen festhält. Welchen Kurs soll die Stadt einschlagen? Oder wäre es nicht klüger, sie einfach anhalten zu lassen? Fragen wie diese lassen sich unschwer auf Richtungsfragen beziehen, wie sie für jede Gesellschaft typisch sind.

Doch „Inversion“ ist auch ein Roman über Wahrnehmung. Wie sehe ich die Welt – und was passiert, wenn sich meine Perspektive grundsätzlich ändert? Möchte ich das überhaupt? Wer will, kann hier Motive erkennen, wie sie für P.K. Dick typisch sind – und wie sie Priest in seinem Roman „A Dream of Wessex“ (1977; dt. „Ein Traum von Wessex“) weiter ausgebaut hat. Das hierzulande weitgehend vergessene Buch würde sich ebenfalls für eine Neuausgabe empfehlen.

Übrigens: Dass Priest mit der Idee einer sich bewegenden Stadt der legendären Tetralogie von James Blish um die „Cities in Flight“ (1950–62; dt. „Die fliegenden Städte“, im Shop) eine Referenz erweist, dürfte offenkundig sein. Doch die sich langsam fortbewegenden Kathedralen in Alastair Reynolds „Absolution Gap“ (2003; dt. „Offenbarung“, im Shop) und der stadtgroße Zug in China Mièvilles „Iron Council“ (2004; dt. „Der eiserne Rat“) dürften ebenso von Priest inspiriert worden sein wie die mit „Krieg der Städte“ (2001) beginnenden „Mortal Engines“-Romane von Philip Reeve. Da erscheint es nur angemessen, dass die durchgesehene Neuausgabe von „Inversion“ um den bislang weggekürzten Prolog ergänzt wurde.

Christopher Priest: Inversion • Roman • Aus dem Englischen von Yoma Cap und Kristof Kurz • Heyne, München 2020 • 412 S. • € 9,99 • E-Book • € 9,99 • im Shop

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