Die letzte Heldin: Im Gespräch mit Emily Tesh
Interview mit der frisch gebackenen Hugo-Award-Gewinnerin
Gerade wurde die englische Autorin Emily Tesh für ihren Science-Fiction-Roman „Die letzte Heldin“ (im Shop) mit dem Hugo Award ausgezeichnet – für den Locus Award und den Arthur C. Clarke Award waren sie und ihr Werk ebenfalls nominiert, davor hat sie für ihre Fantasy-Kurzromane bereits u. a. den World Fantasy Award erhalten. In „Die letzte Heldin“ alias „Some Desperate Glory“ geht es um die junge Kriegerin und Pilotin Valkyr alias Kyr aus der von Menschen bewohnten Gaea-Raumstation, die der frauenfeindlichen, xenophoben Propaganda um sie herum voll und ganz verfallen ist. Bis Kyrs Bruder überraschend die Station verlässt, Kyrs Erwartungen an ihr eigenes, glorreiches Leben von gesellschaftlichen Forderungen sowie politischen Entscheidungen komplett über den Haufen geworfen werden, und Kyr ausgerechnet mit einem Alien ins All flieht. An dieser Stelle findet sich eine Rezension des Buches.
Im nachfolgenden Interview spricht Emily Tesh über ihren viel beachteten SF-Roman, dessen Inspirationsquellen, das Erschaffen von Alien-Spezies, den Stand von künstlicher Intelligenz sowie gesellschaftlich relevante Themen in Romanen.
Hallo Frau Tesh. Ihr Roman fühlt sich wie ein zeitgemäßes Update für die Military-Science-Fiction und die Space Opera an. Wie wichtig waren die Klassiker um „Enders Spiel“ von Orson Scott Card (im Shop) und Co. für Ihre Reise durch das Genre?
Shelley Parker-Chan, Autor*in der umwerfenden historischen Fantasy „She Who Became The Sun – Der strahlende Kaiser“ und eine der ersten Personen, die das vollständige Manuskript von „Die letzte Heldin“ gelesen haben, sagte: Dieser Roman ist für alle, die „Enders Spiel“ geliebt haben, aber nicht von „Enders Spiel“ zurückgeliebt wurden.
Ich las „Enders Spiel“ zum ersten Mal früh als Teenager – und dann zwanghaft immer wieder, bis es in mein dreizehn Jahre altes Gehirn eingebrannt war. Ich finde immer noch, dass es ein Meisterwerk ist (obwohl ich es als schwierig empfunden habe, mit kritischem erwachsenen Auge zum Buch zurückzukehren), und seine Fortsetzungen sowieso.
Letztendlich ist es ein Roman über Erwachsene, die Kinder für gewaltsame Zwecke ausbeuten und missbrauchen. „Die letzte Heldin“ könnte sich kaum nachdrücklicher in Konversation mit dieser Tradition der Science-Fiction befinden.
Was hat Sie und „Die letzte Heldin“ noch inspiriert?
Es gibt einige ziemlich abseitige Einflüsse – für jemand anderen wäre es schwierig, Tolkiens „Silmarillion“ (im Shop) innerhalb einer rasanten politischen Space Opera zu identifizieren, aber es ist da.
Eine direktere Inspiration, die „Mass Effect“-Videogames, sind über das gesamte Buch hinweg zu spüren. Ich finde es interessant, dass es in der Literatur seit Jahrzehnten zum Standard gehört, die Tropen der Military-SF auf den Kopf zu stellen, wohingegen das zeitgenössische Gaming – mit einem wesentlich größeren Publikum! – sie komplett ernst ausspielt: ja, du bist der Held oder die Heldin, und die bösen Aliens sind da, um gekillt zu werden.
Weitere Inspirationen sind allzeit die Werke von Ursula K. Le Guin. Und die Wirklichkeit, ziemlich aggressiv sogar: Geschichte, Gesellschaft, Politik. Am Ende meines Buches gibt es eine kleine Auflistung, die ein paar der Dinge nennt, über die ich nachgedacht habe: die hoch militarisierte Gesellschaft des antiken Sparta, die Geschichte des europäischen Faschismus im 20. Jahrhundert, die objektiv seltsame internationale Stellung Nordkoreas, der Kult um Scientology.
Erinnern Sie sich an den Moment, in dem Ihnen klar war: Das ist die Geschichte, die ich erzählen will, und zwar genau so?
Ich erinnere mich daran, wie ich 2017 die erste Szene des ersten Kapitels schrieb, ans Ende gelangte und dachte: Dieser Roman wäre besser, wenn er von der schrecklichen Schwester handeln würde. Denn das tat er ursprünglich nicht. Der ursprüngliche Protagonist – der Held – war Kyrs Bruder Magnus, ein junger Mann, der das Böse auf der Gaea-Station durchschaut. Es war diese Erkenntnis – dass der Charakter, der die Lügen nicht durchschaut, eine wesentlich interessantere Geschichte zu erzählen hat –, die das Buch so richtig in Schwung gebracht hat. Ich habe die erste Szene überarbeitet und die Pronomen gewechselt, und plötzlich erwachte sie brüllend zum Leben.
Wussten Sie da schon alles über Kyr als Charakter und wie sich ihre Sichtweise, ihre Einstellung im Verlauf des Romans ändern würde?
Ja, dieser Moment, als ich den Anfang des Romans so abänderte, dass er nun von Kyr handelte, gab mir auch die gesamte Form ihrer Geschichte: Einer Protagonistin, die innig an die monströsen Lügen einer bösen Gesellschaft glaubt – natürlich würde ihre Reise eine Abrechnung mit diesen Lügen werden. Gleichzeitig war sofort klar, dass wir verstehen müssten, weshalb sie so sehr glaubte – warum ein Teenager-Mädchen in einer misogynen Gesellschaft niemals die Werte hinterfragte, die sie beigebracht bekommen hat, und warum eine Jugendliche, deren gesamtes Leben noch vor ihr lag, alles opfern würde zugunsten einer Gesellschaft, die sie liebte, doch die das nicht erwiderte. Mich interessierte die wahre Gläubige, und der innere Kollaps dieser Gläubigen.
Können Sie uns ein bisschen etwas darüber erzählen, wie man Alien-Spezies erschafft? Was wollten Sie tun, was wollten Sie vermeiden?
Es gibt zwei Wege, um über Aliens zu schreiben. Beim einen Ansatz versucht man, sich eine komplett nichtmenschliche Biologie auszudenken, und das hinsichtlich Intelligenz zu extrapolieren, dann Gesellschaft, dann Geschichte. Das hat seine Tücken – zeigt mir irgendeinen Menschen, der voll und ganz unsere eigene intelligente Spezies in all ihrer biologischen und historischen Komplexität versteht! Wie um alles in der Welt sollen wir dann eine andere erschaffen?
Der zweite Ansatz verzichtet auf die Erschaffung von Grund auf und nutzt diverse Alien-Spezies als eine Sammlung von Spiegeln für die Menschheit, nimmt verschiedene Aspekte einer intelligenten Spezies, die wir halb verstehen, und macht sie beim Schreiben größer: Diese Aliens sind gewalttätig, und diese anderen sind friedliebend. Jene sind intellektuell, diese kommerziell orientiert. Und das da sind die Bösen, und ihr könnt sie abknallen.
Aber sie haben einen anderen Ansatz gewählt.
Ich wollte keinen dieser beiden Ansätze nutzen. Ich bin kein Genie, und so war ich unglücklicherweise nicht in der Lage, einen dritten Ansatz zu entdecken. Also zog ich die zweite Option – da ich nicht genug Kenntnisse in Biologie habe, um einen achtbaren Versuch mit dem ersten Ansatz zu unternehmen – und versuchte, die Spiegel in einem anderen Winkel auszurichten: Nicht mit der Menschheit als „Standard“-Spezies des Universums.
Ich machte die Menschen zu einer obskuren und ungewöhnlichen Minderheit, zu den aggressivsten und angsteinflößendsten Lebewesen, die zwischen den Sternen umherwandern: Als wäre das Weltall ein Ozean, und die Menschheit ein furchterregender, aber bedrohter Hai. Im Buch geht es um Gewalt, und die Menschen als die gewalttätigen Aliens zu positionieren, die sich in die friedfertige, geordnete Gesellschaft der Majoda entladen, schien mir interessant.
Lange Rede, kurzer Sinn: Mit Ausnahme von Yiso, der einzigen Alien-Hauptfigur des Romans, verbringt „Die letzte Heldin“ bewusst so wenig Zeit wie möglich mit den Alien-Spezies in Kyrs Universums. Kyrs Weltsicht ist zu eng, um überhaupt nur anzufangen, sie zu begreifen. Sie versteht ja kaum die Menschheit, oder sich selbst.
Und doch gibt es mit Yiso diese interessante Alien-Figur in Ihrem Roman …
Mit Yiso wollte ich einen Singularitäts-Effekt erreichen. Yiso ist nicht für Yisos gesamte Spezies repräsentativ, weil niemand das jemals ist. Yiso ist eine Einzelperson mit einem ungewöhnlichen Hintergrund, was Yiso selbst unter der Vielzahl der Majoda einen aufsehenerregenden Außenstehenden-Status wie Kyr verpassen würde, oder sogar mehr noch, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen.
Ich bin skeptisch gegenüber spezies-umfassenden Verallgemeinerungen. Das Argument, dass etwas mit „menschlicher Natur“ erklärt werden kann, ist so vage, dass es dazu genutzt werden kann, beinahe alles zu rechtfertigen, und wird tatsächlich oft genug angewandt, um die eigenen Annahmen und Vorurteile der Sprechenden zu rechtfertigen.
Und wenn die menschliche Natur keine überzeugende Rechtfertigung für menschliches Verhalten ist, warum sollte außerirdische Natur dann eine für Außerirdische sein?
Die Weisheit in Ihrer Geschichte ist eine Super-KI, und es wäre leicht, darin eine Metapher für aktuelle künstliche Intelligenz zu sehen. Was sind Ihre Gedanken zur wachsenden KI in unserem Alltag?
Es gibt keine wachsende KI in meinem täglichen Leben. KI im Sinne der Weisheit – wirklich intelligent, sich ihrer bewusst und fähig, sich selbst bis zu einem nahezu göttlichen Zustand upgraden – ist ein Glaubensartikel in der transhumanistischen und posthumanistischen Philosophie. Doch wir sind heute nicht annähernd so weit, einen Maschinengott zu erschaffen, und alle, die etwas anderes behaupten, wollen einem etwas verkaufen. Ich bin gespannt, wie sich die aktuelle Technologie – die ich als hochentwickelte Text- und Bild-Generatoren beschreiben würde, nicht als „Intelligenz“ – nach Platzen der gegenwärtigen Blase des Verkaufs-Hypes entwickeln wird.
Apropos Entwicklungen. Würden Sie sagen, dass Sie ein sehr politisches, riskantes Buch geschrieben haben, letztlich an aktuellen gesellschaftlichen Frontlinien entlang?
Alle Kunst ist politisch. Jede Entscheidung, die ein*e Künstler*in trifft, existiert innerhalb einer politischen Welt. Sogar die austauschbarste Kunst – eine Karte zum Hochzeitstag mit, sagen wir, ein paar schönen Blumen darauf – macht politische Statements: diese Form der Beziehung ist würdig, gefeiert zu werden, was eine Behauptung über korrektes sexuelles und soziales Verhalten darstellt. Wahrscheinlich sagt sie auch: Das Am-Laufen-Halten solcher Beziehungen ist die Rolle einer Frau, denn schöne Blumen richten sich marketing-technisch für gewöhnlich nicht an Männer, was wiederum suggeriert, dass es die Aufgabe einer Frau ist, diese Karte sowohl zu kaufen als auch zu erhalten. Und da reden wir jetzt nur von einer Glückwunschkarte!
Wie kann jemand ein unpolitisches Buch schreiben? Ich habe natürlich mitbekommen, dass es versucht wurde, und der Effekt ist meistens beinahe auf komische Weise kontraproduktiv: Ein „unpolitischer Roman“ stellt Behauptungen darüber an, was normal ist – was eine der politischsten Behauptungen ist, die man überhaupt nur machen kann. Wer gilt als normal, wer ist der Standard, und wer sind die Menschen, die dazu gezwungen werden, außerhalb dieses Standards zu leben? Wessen Komfort dient die Lektüre dieses unpolitischen Buches, und wer soll daran erinnert werden, nicht dazuzugehören?
Die einzige Chance, die man als Künstler*in bezüglich politischen Schreiben treffen kann, ist die, zu entscheiden, ob sich das eigene politische Engagement seiner selbst bewusst ist, oder nicht. Ich hoffe, dass „Die letzte Heldin“ ein ordentliches politisches Bewusstsein hat.
Emily Tesh: Die letzte Heldin • Roman • Aus dem Amerikanischen von Nina Lieke • Heyne, München 2024 • 560 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks 18,00 € • im Shop
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Christian Endres berichtet seit 2014 als Teil des Teams von diezukunft.de über Science-Fiction. Er schreibt sie aber auch selbst – im Mai 2024 ist bei Heyne sein SF-Roman „Wolfszone“ erschienen.
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