„Das Schiff der flüsternden Träume“ von Alastair Reynolds
Ein genialer Roman zwischen Poe, Lovecraft, Pulp-Abenteuern und der SF-Moderne
Alastair Reynolds (im Shop), 1966 im walisischen Barry geboren, studierte Physik und Astronomie, bevor er in den Niederlanden für die europäische Weltraumorganisation ESA arbeitete. Außerdem gehört Reynolds, der mittlerweile wieder in Wales lebt, seit seinen frühsten Kurzgeschichten-Veröffentlichungen Anfang der 1990er zum internationalen Science-Fiction-Zirkus. 2000 folgte sein erster Roman „Unendlichkeit“ (im Shop), der bei Heyne gerade mit einer Neuausgabe als modernes Meisterwerk der Science-Fiction geadelt wurde.
In jüngerer Vergangenheit wurden Storys des Walisers sogar für Netflix’ animierte Anthologie-Reihe „Love, Death + Robots“ adaptiert. Viel wichtiger ist aber, dass unter dem sehr freien, aber auch sehr schönen und passenden deutschsprachigen Titel „Das Schiff der flüsternden Träume“ (im Shop) gerade Mr. Reynolds’ Roman „Eversion“ von 2022 endlich in Übersetzung erschienen ist. Denn dieses Buch ist nicht bloß gleichermaßen traditionsbewusste, unkonventionelle, überraschende und topaktuelle SF, sondern dabei auch eines der absoluten Genre-Highlights des Jahres.
Die Handlung des angenehm schmalen Romans setzt im 19. Jahrhundert ein und erinnert an die klassischeren, nichtsdestotrotz fantastischen Abenteuer im Schaffen von Edgar Allan Poe (im Shop) oder H. P. Lovecraft (im Shop), also „Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym“, „Cthulhus Ruf“ oder „Berge des Wahnsinns“. Alastair Reynolds’ Ich-Erzähler Dr. Silas Coade begleitet als englischer Arzt das Segelschiff Demeter auf einer Entdeckungsreise nach Norwegen, wo man den verborgenen Zugang zu einem mysteriösen Bauwerk finden möchte, das nicht ganz in diese Wirklichkeit zu passen scheint. Dr. Coade arbeitet als Hobbyschriftsteller unter Deck außerdem an einer eigenen Abenteuergeschichte.
Aber dann werden seine Wahrnehmung und seine Wirklichkeit mehrmals erschüttert. Zwar bleibt die Suche nach dem seltsamen Bauwerk stets Ziel der Reise, jedoch verschieben sich die Orte, Jahrhunderte, Schiffe, Technologien und selbst Genre-Epochen mit jedem Glitch: Aus dem Segler wird ein Dampfschiff und danach ein Zeppelin, dessen Expedition auf einmal die Richtigkeit der Hohle-Erde-Theorie beweisen soll – womit wir bei Jules Verne, Edgar Rice Burroughs und anderen Klassikern angekommen wären. Schließlich wird das altmodische Luft- zum hochmodernen Raumschiff, das zwischenzeitliche Pulp-Abenteuer zu Cyberpunk, Space-Opera und Hard-SF …
Und gerade wenn man denkt, dass man die stilsicher emulierten, stimmungsvollen Episoden von „Das Schiff der flüsternden Träume“ jetzt endgültig durchschaut hat, fügt Reynolds seinem Roman plötzlich noch eine weitere Wendung, noch eine neue Ebene hinzu – und damit weitere Überraschungen. Dreh- und Angelpunkt der klug konstruierten, geschickt inszenierten Geschichte ist natürlich das bewährte Konzept des unzuverlässigen Erzählers, das Reynolds auf die Spitze treibt und auch noch mit einer handlungsrelevanten SF-Pointe versieht, für die sich inzwischen auch ein Pulitzerpreisträger keineswegs zu schade gewesen ist.
Nicht nur Fans von Regisseur Filmemacher Christopher Nolan werden an diesem unterhaltsamen, ja, diesem genialen Science-Fiction-Roman, der nebenbei noch die Evolution von Genre und Technologie abhandelt, ihre helle Freude haben. „Das Schiff der flüsternden Träume“ gehört 2025 auf die Leseliste aller SF-Begeisterten.
Alastair Reynolds: Das Schiff der flüsternden Träume • Roman • Aus dem Englischen von Thomas Salter • Heyne, München 2025 • 368 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks: 17,00 € • im Shop
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Christian Endres berichtet seit 2014 als Teil des Teams von diezukunft.de über Science-Fiction. Er schreibt sie aber auch selbst – 2024 ist bei Heyne sein SF-Roman „Wolfszone“ erschienen.
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