22. Dezember 2025 2 Likes

In sich selbst fündig werden

Zu Weihnachten: Es gibt viel mehr Zukunft dort draußen, als wir annehmen

Lesezeit: 4 min.

Im Sommer habe ich einen Buckelwal gesehen.

Das war draußen im Atlantik, westlich der schottischen Insel Skye. In dieser Meeresgegend kommen einige Walarten vor, aber Buckelwale, sagte uns der Skipper des Bootes, mit dem wir unterwegs waren, Buckelwale sieht man dort eher selten. Den Buckelwal zu sehen, war, wie es so schön heißt, ein unvergessliches Erlebnis.

Buckelwale sprechen miteinander in unterschiedlichen Dialekten. Buckelwale geben erworbenes Wissen von Generation zu Generation weiter. Und Buckelwale können Empathie für Lebewesen empfinden, die keine Buckelwale sind. Das stimmt wirklich.

Forscherinnen und Forscher haben wiederholt beobachtet, wie Buckelwale Orcas an der Jagd auf eine Robbe oder eine andere Beute hinderten. Sie tun das, obwohl die Beute einer anderen Spezies angehört. Obwohl sie dabei riskieren, selbst verletzt zu werden. Und obwohl die Beute der Orcas ihnen diesen Gefallen nie erwidert. So etwas, heißt es, kommt in der Natur nicht häufig vor. Zwar hat man ein vergleichbares Verhalten schon bei Bonobos oder Delfinen gesehen, aber mit Sicherheit weiß man nur von einem anderen Lebewesen, das diese Eigenschaft besitzt.

Das ist der Mensch.

Ich habe in den vergangenen Jahren an dieser Stelle oft über den Menschen geschrieben, und dabei ist mir nicht viel Gutes eingefallen. Deshalb möchte ich hier einmal betonen, dass Menschen zu Gutem fähig sind. Dass sie, wenn sie nur wollen, hilfsbereit und freundlich sein können. Oft wollen sie das nicht, weil sie meinen, dass es ihnen nicht zum Vorteil gereicht, auch wenn das Gegenteil wahr ist. Es herrscht darüber seit langem eine große Verwirrung, und ich bedaure, in einer Zeit zu leben, in der diese Verwirrung noch nicht überwunden ist.

Wie auch immer, Menschen sind außergewöhnliche Lebewesen, weil sie Empathie für Labradore, Pallaskatzen und Menschen am anderen Ende der Welt empfinden können. Sie können sogar Empathie für schmelzende Gletscher empfinden. Aber Buckelwale sind ebenso außergewöhnliche Lebewesen, weil sie Empathie für Robben, Seelöwen und Menschen empfinden können. Die evolutionären Gründe, warum Buckelwale und Menschen so empfinden können, mögen sehr unterschiedlich sein, doch das ändert nichts daran, dass sie beide außergewöhnlich sind. Und hier ist, was ich glaube.

Ich glaube, dass alle Lebewesen außergewöhnlich sind.

Ich glaube, auch wenn die Wissenschaft das bisher nur anekdotisch belegt, dass es dort draußen viel mehr Empathie gibt, als wir annehmen. Es gibt Gorillas, die kleine Kätzchen aufziehen. Und Kühe, die in eine Schafherde aufgenommen werden. In Dänemark hat sich einmal ein Elefant mit einem Kamel angefreundet. Und in Indien ein Tiger mit einer Ziege.

Ich glaube, dass alle Lebewesen miteinander sprechen können. Nicht so, wie ich mit meinem Nachbarn spreche, sondern eher wie ein Wassertropfen mit den Wurzeln eines Baumes spricht.

Ich glaube, dass, wenn sie nur wollen, Menschen in einen Dialog mit den nicht-menschlichen Bewohnern des Planeten Erde eintreten können. Ein Dialog, dessen Form wir nicht kontrollieren können, was ihn umso schöner und aufregender macht.

Ich glaube, dass wir in einer Welt leben, in der, wie die Anthropologin Nastassja Martin schreibt, alle Lebewesen „einander beobachten, zuhören, sich erinnern, geben und nehmen“.

Viele Menschen glauben etwas ganz Anderes. Darunter mächtige Menschen. Menschen, die die Technosphäre geschaffen haben und uns darin gefangen halten. Menschen, die erneuern wollen, indem sie vernichten. Menschen, die Raketen und Drohnen auf Kinder herabregnen lassen. Für sie ist die Natur grausam, also dürfen sie selbst auch grausam sein. Wären sie nicht so mächtig, könnte man diese Menschen bedauern. Aber sie haben die Mitleidlosigkeit zum Programm erhoben und ermuntern uns, das ebenso zu tun. Wir sollen, sagen sie, den Kontakt mit anderen als Wettbewerb sehen und nicht als Begegnung. Wir sollen Ressourcen anhäufen und sie nicht teilen. Wir sollen keine Gesellschaften bilden, sondern Interessensgruppen.

Das sind uralte Ideen, Spinnen weben darin ihre Netze. Trotzdem ertönen sie überall auf der Welt so laut, dass man meint, man kann ihnen nicht entkommen.

Aber man kann ihnen entkommen.

Man kann immer noch in einen Wald gehen, um dort nach vergessenen Dingen Ausschau zu halten. Nach Pilzen und Kobolden und Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

Man kann immer noch an einem Fluss die Hand in die Strömung halten und ihn zu seiner Quelle verfolgen.

Man kann immer noch mit wachen Augen in die Zukunft blicken und ihr einen anderen Namen geben als X.

Man kann immer noch etwas außerhalb seiner selbst suchen und dabei in sich selbst fündig werden.

Und man kann immer noch auf den Atlantik hinausfahren und dem Buckelwal seine Freundschaft anbieten.

Ich glaube, er wird sie erwidern.

Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachten.

 

Sascha Mamczak ist der Autor von „Die Zukunft – Eine Einführung“ und „Science-Fiction. 100 Seiten“. Zuletzt ist sein Jugendsachbuch „Überall Leben – Vom erstaunlichen Miteinander der Arten auf unserem Planeten“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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