22. September 2012

Avalon Vier

„Du bist tot“ von Charles Stross

Lesezeit: 4 min.

»Du bist tot« (im Shop ansehen) ist ein brisanter Near-Future-Thriller, der im unabhängig gewordenen Schottland des Jahres 2018 spielt. Die Polizistin Sue Smith wird wegen eines Überfalls zur Computerspiel-Firma Hayek Associates beordert. Der Schauplatz des Verbrechens: die auf einem nichtöffentlichen Level gelegene Zentralbank des MMORPG (Massively Multiplayer Online Role-Playing Game) AVALON VIER. Die Täter: eine Gilde von Orks, angeführt von einem Drachen. Die Administratoren der Spielwelt werden durch Manipulationen am Eingreifen gehindert. Die Täter sind über ein asiatisches Bot-Netz eingebrochen und durch einen geheimen »Tunnel« in eine benachbarte Spielewelt geflüchtet. Hayek ist ein Unternehmen, das auf das Betreiben solcher virtueller Banken in verschiedenen Online-Spielen spezialisiert ist. Geklaut werden Datenbankinformationen. Bei dieser kriminellen Handlung geht es jedoch nur am Rande um die »Werte« der aufgelisteten Spielobjekte, sondern vielmehr darum, Hayek als erst seit Kurzem börsennotiertes Unternehmen zu diskreditieren.

Dieser Datenraub ist der Auftakt zu einer furiosen Thrillerhandlung. Elaine Barnaby, Spezialistin für Versicherungsbetrug, ist Teil eines Teams der Kanzlei Dietrich Brunner Associates und soll im Auftrag von Risikoinvestoren herausfinden, ob Hayek seine Sorgfaltspflicht verletzt hat. Ihr zur Seite steht der Spiele-Programmierer Jack Reed, der als ihr »Scout« in virtuellen Spielwelten fungiert. Steckt vielleicht der bei Hayek verschwundene Programmierer Nigel MacDonald hinter der Tat? Was hat es mit den illegalen High-Tech-Anlagen inklusive Satellitenschüssel in dessen verlassener Wohnung auf sich? Elaine und Jack machen sich daran, den Spuren von Nigel in AVALON VIER zu folgen. Als sie den Ausstiegstunnel ausmachen, entdecken sie, dass dieser zusätzlich mit Software-Code ausgestattet ist, der dort nicht hingehört. Sie begeben sich auf die Suche nach dem Hehler, der einen Teil der gestohlenen Objekte in einem Online-Auktionshaus anbietet. Auch ein Drohanruf, der Jack gilt, kann sie nicht von ihren Nachforschungen abhalten …

Stross kommt seine Erfahrung als Programmierer bei einem britischen Internetunternehmen Ende der Neunziger zugute. Er baut eine Vielzahl technischer Gadgets in die Handlung ein: RFID-Chips in der Kleidung, die Informationen an die Waschmaschine übermitteln; Autos, die von Webcam-Navigatoren oder sogar von Künstlicher Intelligenz gelenkt werden; mit subkutanen Chips versehene Finger, die schneller tippen können. Auch die Polizeiarbeit hat sich verändert. Sergeant Smith verfügt über eine Datenbrille, mit der sie Informationen über Verdächtige im CopSpace abrufen kann. Sie bestellt einen Drohnen-Anflug auf MacDonalds Wohnung. Mit einer mobilen Radarbox können Behausungen gecheckt werden, durch die Verbindung mit einer Online-Datenbank werden DNA-Spuren am Tatort fast in Echtzeit untersucht. Auch Quantenrechner, die der Verschlüsselung dienen, kommen zum Einsatz.

Ein Reiz des Romans liegt in Stross’ untrüglichem Gespür für die untergründigen Entwicklungen der technischen Kultur. Den SF-typischen Verfremdungseffekt erzielt er durch den Vergleich mit einer Zeit, die noch gar nicht so lange zurückliegt. Im Jahr 1984 gab es noch kaum Mobiltelefone und kein Internet außerhalb von Universitäten. Einer seiner Figuren legt er in den Mund: »Die Stadt sieht zwar aus wie früher, aber unter ihrer steinernen Hülle ist nichts mehr ganz so wie in alten Zeiten. Im Laufe der Jahre haben wir ihr irgendwann das Nervensystem und die Muskeln herausgerissen und durch eine andere Infrastruktur ersetzt. In wenigen Jahren wird alles wie durch Zauberei auf der Grundlage eines Austauschs von Quantenschlüsseln funktionieren, und bis dahin wird sich alles erneut verändert haben.« Diesen Trend zu einer alles durchdringenden Vernetzung und Digitalisierung verdichtet Stross zu einem überzeugenden Bedrohungsszenario. Die rasanten Fortschritte der Netztechnologien machen es der Polizei schwer, bei der Überwachung von Kommunikationskanälen mitzuhalten. Je weiter die informationelle Infrastruktur eines Landes ausgebaut wird, desto höher liegt die Wahrscheinlichkeit eines feindlichen Hacker­angriffs. Stross spricht von einem »heimlichen Krieg«, der zwischen Hackern und Administratoren ablaufe und von dem die Öffentlichkeit (schon heute) kaum etwas erfahre. Wenn die zentralen Router des Internets geknackt werden, könnte es zu Störungen im öffentlichen Leben kommen, je nachdem, welche lebenswichtigen Systeme übers Netz manipulierbar sind, zum Beispiel bei der Fernüberwachung, der Geschäftsabwicklung oder der medizinischen Ferndiagnose. Was sich zunächst wie eine absonderliche Betrugsstory liest, entpuppt sich daher schnell als vordergründiges Scharmützel in einem verdeckten Infowar zwischen Geheimdiensten: der chinesische Guoanbu versus Europol. Durch quantenmechanische Verschlüsselung verschiebt sich die Balance im Wettrüsten erneut. Nicht ganz folgen möchte man Stross, wenn er die USA in naher Zukunft von diesem Infowar ausschließt, da sie finanziell bankrott seien und eine »Auszeit« nehmen müssten.

Natürlich ist für den technischen Laien nicht zu überprüfen, wie plausibel das konkrete Spielszenario ist, das Stross entwirft. Man bekommt eine Menge Technojargon um die Ohren gehauen (dankenswerterweise gibt es ein Glossar). Doch das literarische Spiel, das Stross mit den Realitätsebenen treibt, besitzt seinen eigenen Reiz. Es gibt nicht nur Online-Spiele und sachdienliche virtuelle Welten, sondern auch Live-Rollenspiele, bei denen die Protagonisten schon mal in Handlungen verstrickt werden, die sie nicht durchschauen. Mit dieser Mischung aus Rollenspiel, Computerspiel und »Mixed Realities« zwischen Realität und Virtualität gelingen Stross immer wieder überraschende Wechsel des Wirklichkeitsbezugs. So kommt es zu einer Actionszene, die parallel real und virtuell stattfindet und bei der der Held zwischen den Wahrnehmungen umschaltet. »Du bist tot« ist ein unterhaltsamer und gut gemachter Roman, der den Leser in ein spannendes Szenario hineinzieht. Und für seine Fans, die seine transhumane Science Fiction bevorzugen, hat Stross noch eine »Vision« Jacks beim Besuch einer VR eingefügt: »Eines Tages werden wir alle Gehirnimplantate bekommen und das unmittelbar erleben. Irgendwann wird sich jeder an Orten wie diesem ausleben. Während die leeren körperlichen Hüllen liebevoll von Maschinen umsorgt werden, schreitet der Geist der Menschen zu fremdartigen Welten voran, zu denen das Fleisch ihm nicht folgen kann.«

Charles Stross: Du bist tot • Roman · Aus dem Englischen von Usch Kiausch · Wilhelm Heyne Verlag, München 2010 · 544 Seiten · € 8,99 (im Shop ansehen)

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