27. Dezember 2014 2 Likes

Der ganz große Wurf

Bis an die Grenzen von Raum und Zeit: Warum die Science-Fiction noch immer das Brisanteste aller Genres ist – Ein Essay von Wolfgang Neuhaus

Lesezeit: 25 min.

Vor einiger Zeit kam mir beim Lesen eine Phrase unter, die mich eher zum Schmunzeln brachte: Die allgemeine Literatur schreibe alles über nichts, während die Science-Fiction nichts über alles aussage. Dieser kalauerhafte Satz blieb mir im Gedächtnis, und bei genauerem Besehen ist er des Nachdenkens wert. Was ist dieses »nichts«, über das Erstere sich literarisch auslassen soll? Was soll demgegenüber »alles« darstellen? Offenbar handelt es sich um eine Angelegenheit der Bezugssysteme, wie man diese beiden Fragen beantwortet. Schnell dahinformuliert assoziiere ich bei der Mainstream-Literatur: Midlife-Crisis, Sinnfindung, Konfrontation des Einzelnen mit lebensbedrohlichen Krankheiten und einiges mehr. Vom Standpunkt des Individuums betrachtet, ist das »alles« oder »viel«, aber eben nicht vom Standpunkt der Gattung ausgesehen. Und dieser überindividuelle Blickwinkel ist ein elementares Strukturelement der Science-Fiction, vermittels dessen »alles«, das heißt. »das große Ganze« zum Thema wird. Dieses geschieht aber auf eine unzulängliche, eher metaphorische Weise, da die kosmische Wirklichkeit in toto gar nicht erfasst werden kann.

»There was a lot of inherent cultural relativism in the Science-Fiction I discovered then. It gave me the idea that you could question anything, that it was possible to question anything at all. You could question religion, you could question your own culture’s most basic assumptions.«  (William Gibson)

Zwischen Mainstream-Literatur und SF besteht schon länger ein Spannungsverhältnis, das an dieser Stelle nicht aufgerollt werden soll.1 Im Vorwort zu seiner Kurzgeschichtensammlung »Spätzünder« schreibt Thomas Pynchon:

»Wenn wir von der ›Ernsthaftigkeit‹ erzählender Literatur sprechen, dann meinen wir damit in letzter Konsequenz ihre Einstellung zum Tod – wie sich ihre Figuren in seiner Gegenwart verhalten oder wie sie mit ihm umgehen, wenn er nicht unmittelbar gegenwärtig ist … Vermutlich besteht eine der Ursachen für die Faszination von Fantasy und Science-Fiction auf junge Leser darin, dass in einem beherrschbar gemachten Raum-Zeit-Kontinuum, in dem die Figuren nach Belieben herumreisen und sich physischen Gefahren ebenso wie der Unerbittlichkeit des Chronometers entziehen können, die Sterblichkeit so selten ein Problem ist.«2

Diese Einschätzung ist nicht ganz fair. Die Seriosität einer Literaturform könnte man ja auch davon abhängig machen, wie die größte aller zwangsläufigen menschlichen Existenzbedingungen, das Universum, in den Blick kommt, ob als Bedrohung oder als »neutrale« faktische Beschreibung, soweit das überhaupt möglich ist.3 Außerdem ist die Annahme abwegig, in der SF-Literatur bewegten sich die Charaktere nach Belieben und sie seien nicht vom Tode bedroht. Nun gibt es sicher eine Menge SF, die für ein jüngeres Publikum oder für Unterhaltungszwecke geschrieben und deshalb einfacher gestrickt ist; ich denke vor allem an das Subgenre der Space Opera mit seinen intergalaktischen Kaiserreichen und gigantischen Weltraumschlachten. Doch das ist nicht das ganze Programm der SF.

Selbst die Space Opera bietet die Möglichkeit für ein »Erzählen in kosmischen Maßstäben«.4 »Die Oper – die Weltraumoper«, schreibt der Autor und Kritiker John Clute emphatisch, »ist ein Kunstgriff, um die Welt in ihrer Gesamtheit in den Blick zu bekommen.« Sie sei ein Weg, sich »von den Fesseln all dessen zu befreien, was schon einmal erzählt wurde: das Gegebene, das Offensichtliche, das Anerkannte, das ›Wirkliche‹.« Die Frage bleibt aber, wie ein derart umfassender Blick literarisch gestaltet werden kann. Ein historischer Vorläufer für eine SF, die kosmische Visionen produziert, waren beispielsweise die Romane des britischen Autors und Philosophen Olaf Stapledon aus den Dreißigerjahren, die eine »Bewusstseinsreise« durch ein mit vielen Geschöpfen bevölkertes Universum schildern.5 Wolfgang Jeschke und Sascha Mamczak ist jedenfalls zuzustimmen, dass die literarische Reflexion dieser menschlichen Existenzbedingungen – in welcher konkreten Form auch immer – nur in der SF möglich ist.

Alan Lightman beschreibt die Notwendigkeit einer angepassten Wahrnehmung als Voraussetzung, den Kosmos als Gedankenobjekt überhaupt konstruieren zu können:

»Bei all unseren Versuchen, den Kosmos zu ergründen, müssen wir eine Größenvorstellung haben, ein mentales Inventar, eine Skala, die von Atomen über Mikroorganismen, Menschen, Meere bis hin zu Planeten und Sternen reicht. Einige der eindrucksvollsten Neuzugänge dieses Inventars liegen am oberen Ende der Skala. Mit anderen Worten, der Kosmos ist immer größer und größer geworden. Auf jeder neuen Stufe der Entfernungs- und Größenskala müssen wir uns auf eine neue Vorstellung von der Welt, in der wir leben, einstellen.«6

Mit welchen Vergleichen soll man die Größenverhältnisse im Universum jedoch abbilden? Dass sich die Erde als Objekt so verhält wie ein Sandkorn am Strand in Relation zum ganzen Globus, wäre ein hilfloser Versuch, eine Metapher für diese Situation zu finden. Angesichts dessen ist das Schreiben von SF sicher auch eine groteske Selbstüberschätzung. Zu dieser Literaturgattung gehöre, »dass sie in allen Denk- und Realitätsdimensionen verankert« sei (Michael Salewski). SF sei »in der Lage«, schreibt der Literaturwissenschaftler und SF-Autor James Gunn, »über alle Arten und Grade der Handlung zu verfügen, über alle Zeit, von jedwedem Anfang bis zum unabdingbaren Ende, über den gesamten Raum, vom kleinsten Teilchen bis hin zur Erfassung des gesamten Universums«.7

Eine Stärke der SF ist ohne Zweifel, dass sie »große Abstraktionen« (Kingsley Amis) diskutieren kann, aber dieser von Gunn formulierte Totalitätsanspruch muss verneint werden. Die Mainstream-Literatur beschränkt sich in der Regel auf irdisch verhaftete Wirklichkeitsausschnitte in Zeit und Raum, die mesokosmisch bleiben und die Schwierigkeiten von Mikro- und Makrokosmos ausblenden, während die SF weiter gefasste Ausschnitte präsentiert, die jedoch ebenso begrenzt sind. Die SF ist eine Literatur der äußersten Bezugssysteme, was sowohl die äußeren als auch die inneren mentalen Aspekte der menschlichen Existenz betrifft – in Abhängigkeit von zeitbedingten Erkenntnismodellen aus Wissenschaft und Technik.

In einem 1975 publizierten Essay hat der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Ulrich Horstmann drei Varianten der SF unterschieden: die apokalyptische, die prometheische und die apotheotische.8 Diese Unterscheidung lässt sich fruchtbar machen für die weitere Diskussion. In gewisser Weise können sich alle drei Aspekte in einem SF-Roman gegenseitig durchdringen. Die Begriffe beinhalten jeweils auch verschiedene Bedeutungen: die Apokalypse, die Vernichtung kann selbstgemacht sein (Atomkrieg) oder von außen auf die Erde hereinbrechen (Asteroideneinschlag). Der überwiegende Teil der SF ist prometheisch orientiert, da die technischen Erfindungen »Träger« von Handlungen sind, wie beispielsweise die Rakete – diese sei eine »Raumbewältigungsmaschine« (Hans Frey) –, und den Einzugsbereich des Menschen erweitern. Das Prometheische bezieht sich auf die Naturbeherrschung durch Wissenschaft und Technik, die immer neue Dimensionen erreicht. Diese auf praktischen Weltbezug orientierte Schreibweise kann kombiniert sein mit apokalyptischen Beschreibungen – siehe »Die Zeitmaschine« von H. G. Wells aus dem Jahr 1895, einem der grundlegenden Texte der Science-Fiction.

Dieses Buch soll der Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen sein, da sich an ihm einige Prinzipien der SF verdeutlichen lassen. »Es ist die erste Anti-Utopie der Literaturgeschichte«, schreibt Ralf Reiter, »und die erste physikalisch-spekulative Zukunftsstory.«9 Horstmann, der allgemein die apokalyptische Version der SF favorisiert, kommentiert, dass Wells die »Abkehr von der Idolisierung eines Fortschritts zum Besseren« und »das irreversible Ende des Menschen« denke. Auch der Historiker Michael Salewski interpretiert »Die Zeitmaschine« als Katastrophen-SF, also apokalyptisch, aber mehr mit dem Akzent, dass das Buch die Möglichkeit der SF verwirkliche, mit einer Kultur Tabula rasa zu machen.

Der Inhalt sei kurz zusammengefasst: Ein namenlos bleibender Zeitreisender aus dem London Ende des 19. Jahrhunderts erfindet eine Maschine, mit der er die Barriere der Zeit überwinden kann. Seine Reise führt ihn in das Jahr 802701 n. Chr., in der er in derselben Region auf die Kultur der scheinbar mit der Natur in Einklang lebenden Eloi trifft. Erst später entdeckt er, dass andere lichtscheue Wesen im Untergrund leben und offenbar einen großen Maschinenkomplex in Gang halten, der auch die Eloi mit allem Lebensnotwendigen versorgt: die Morlocks. Diese entführen seine Zeitmaschine und locken ihn in eine Falle. Im letzten Moment kann er mithilfe des Apparates fliehen und in seiner Aufgeregtheit steuert er ihn in unvorstellbare Zeiträume. Nach dreißig Millionen Jahren (!) stoppt er und findet eine Welt in Agonie, ohne Menschen, ohne üppige Flora und Fauna, mit nur wenigen primitiven krabbenartigen Meereslebewesen. Die Sonne ist zu einem großen roten Ball geworden, der offenbar alles Leben auf dem Planeten vernichtet. Daraufhin kehrt er in seine eigene Zeit zurück. Bei seinen Gesprächspartnern, die er zu einer wöchentlichen Zusammenkunft eingeladen hat und die auf ihn warten, stößt er auf Unverständnis und Skepsis seinen Erzählungen gegenüber. Seiner Kultur entfremdet, enttäuscht, aber wohl neugierig, besteigt er wieder seine Zeitmaschine und verschwindet für immer aus dieser Gegenwart, wie in der Rahmenhandlung geschildert wird.

Der Zeitraum, den die Novelle aufspannt, ist verblüffend. Es gibt wenige Bücher in der SF, die sich an solche Dimensionen gewagt haben. Vielleicht ist Wells’ Entscheidung, die Erde absterben zu lassen, auch darin begründet, dass man diesen Vorgang am einfachsten gestalten konnte. Wells überträgt nach Salewski Erkenntnisse aus der zeitgenössischen Biologie und Physik, die einmal »nachvollziehend« mit dem Namen Darwin und zum anderen »vorausahnend« mit dem Namen Minkowski verbunden sind.10 Die Erscheinungen von Zeit und Raum und die Phänomene des Lebens verlieren ihre festen Bezugsgrößen und werden relativiert:

»Die Folge: Scheinbar unumstößliche, problemfreie, nicht diskutierbare Urbegriffe, ja das gesamte Koordinatennetz der Existenz und des Selbstverständnisses von Mensch und Natur fangen an zu schwanken, werden zu Problemen. Hier findet die SF ihr Thema; die Zeitmaschine gehört zweifellos zu den genialsten Entdeckungen – sie war jetzt aber auch erst möglich.«11

Die »Ewigkeit«, bisher im ideellen Besitz der Religion, ist plötzlich dem wissenschaftlich-technischen Zugriff unterworfen. Auch wenn es sich nur um eine literarische Fiktion handelt, so eröffnet sie doch einen neuen »Kontinent« des Erzählens, der wiederum zum Ausdruck bringt, dass Geschichte nicht ehernen Gesetzen folgt, sondern gemacht werden kann. Das mögliche Schicksal der Gattung Mensch selbst rückt in den Blick. »Tatsächlich ist Wells’ Roman eine gigantische Extrapolation einer gesellschaftlichen Zustandsbeschreibung«, schreibt Salewski, »die bereits als Ergebnis des Evolutionsprozesses begriffen wurde.« Die Wesen der Eloi und Morlock seien zum einen als »Fortsetzung« realer Tendenzen der Klassengesellschaft zur Hochzeit des britischen Empire zu verstehen. Wells illustriere aber auch eine Konsequenz der Evolutionstheorie, meint Salewski, nämlich, dass die Ausbildung der Arten nicht selbstverständlich zu einer Höherentwicklung, sondern auch zu einer Degeneration führen könne.

Bei Wells vermischen sich naturwissenschaftliche und sozialphilosophische Aspekte einer Zeitreise. Die Novelle behandelt nicht nur die Auflösung von scheinbar natürlichen Referenzkategorien wie Zeit und Raum, sondern auch das Wachstum einer Kultur und seine möglichen Krisen.12 Abgesehen davon, dass der Text satirische Spitzen gegen die Ignoranz und das fehlende Vorstellungsvermögen eines selbstgefälligen Bürgertums enthält, bietet er eine weitere literarische Entdeckung: die Möglichkeit zur Alternativweltgeschichte durch Eingriffe in die Zeitläufte, was die Herrenrunde in Anwesenheit des Zeitreisenden durchaus lebhaft diskutiert. Thema sind also nicht nur Reisen in die Zukunft, sondern auch solche in die Vergangenheit. Die Gruppe bezieht sich aber nur auf zurückliegende Ereignisse und ignoriert in einer Art von »Gegenwartschauvinismus« (Wolfgang Jeschke) die noch kommenden Äonen. So sagt der Erzähler – als Alter Ego von Wells – gegen Ende der Novelle:

»Ich kann mir nicht denken, dass unsere Tage schwachen Herumexperimentierens, bruchstückhafter Theorien und allseitiger Uneinigkeit wirklich die Blütezeit der Menschheit sein könnten … für mich ist die Zukunft noch schwarz und verhangen – ein ungeheures Nichtwissen.«13

Das britische Empire ist mittlerweile zusammengebrochen, und weitere Entdeckungen haben im 20. Jahrhundert das allgemeine Weltbild revolutioniert. Wells hat nicht nur das Spiel mit der Menschheitsgeschichte in die Literatur eingeführt, in dem Errungenschaften der Kultur in neue Verhältnisse gesetzt werden und der ständige Wandel zum neuen Thema wird, sondern auch die Einnahme eines kosmischen Standpunktes, von dem aus die Geschicke auf der Erde grundsätzlich neu bewertet werden. Der Zeitreisende erzählt:

»Während ich zu diesen Sternen aufblickte, wurden plötzlich meine eigenen Sorgen und all die Beschwerden irdischen Lebens unbedeutend. Ich dachte an ihre unermessliche Ferne und an ihr langsames, aber unaufhaltsames Dahintreiben aus der unbekannten Vergangenheit in die unbekannte Zukunft … Und während dieser wenigen Kreiseldrehungen waren alle Leistungen, alle Traditionen, die komplizierten Organisationen, die Nationen, Sprachen, Literaturen, Bestrebungen, ja selbst die bloße Erinnerung an den Menschen, wie ich ihn kannte, aus dem Dasein gelöscht worden.«14

Salewski meint, das Buch sei als erstes Beispiel für die Subgattung der »warnenden Prophetie« zu werten. Wells beschreibt den Niedergang der Eloi, die als minderbemitteltes Nutzvieh enden, als Folge fehlender Herausforderung durch die Umwelt.15 Vielleicht ist diese Beschreibung auch die Initialzündung gewesen, dass in der SF – neben dem prometheischen Ansatz – besonders die apokalyptische Schreibhaltung vorherrscht.16 Texte um niederstürzende Asteroiden, globale Pflanzenplagen oder neue Eiszeiten haben hier ihren Ursprung.

Auf wenigen Seiten gelingt es Wells, ein ganzes Spektrum an kulturellen Sinnbeziehungen zu relativieren. Dabei mischen sich realistisch und unwahrscheinlich gehaltene »Behauptungen« in seinem erzählerischen Text. Der Zeitreisende verlangt von seinen bürgerlichen Zuhörern die Offenheit und den Sachverstand, um einen gänzlich neuen (Pseudo-)Wissenschaftsprozess zu verstehen: die technische Bewältigung der Zeit. Wenn man nun aufgrund der vorgefundenen interkulturellen Verständigung meint, alles einordnen zu können, verpasst man leicht das Neue einer Weltanschauung. Wells kann es sich nicht verkneifen, gegen eine »neue Art« von Journalismus zu polemisieren, die sich durch Respektlosigkeit und Übermut auszeichne – hat er doch selbst in diesem Beruf gearbeitet. Die Figuren sind so gestaltet, dass sie das ganze Repertoire des bürgerlichen Alltagsverstandes abdecken. Er dürfte folglich »Die Zeitmaschine« auch als Provokation gedacht haben, um seinen Zeitgenossen zu sagen: Wenn ihr schon skeptisch und ignorant gegenüber Darwin seid, dann lest doch mal, was da noch an Überraschungen kommen könnte. Die Zeitmaschine selbst erfüllt bestens das Kriterium des Prometheischen, auch wenn ihre Realisation sehr unwahrscheinlich ist. Sie funktioniert aber als Symbol für die wissenschaftliche Neugier und Tatkraft, sich nicht von den Dogmen und Beschränkungen ihrer eigenen Zeit aufhalten lassen zu wollen (und dafür auch den Preis relativer Isolation zu zahlen).

Apokalyptisch ist die Novelle, indem sie eine gravierende soziale Fehlentwicklung zeigt und eben dadurch vor den Auswirkungen einer rigiden Klassengesellschaft warnt, auch wenn eine derartige genetische Differenzierung der menschlichen Spezies in Eloi und Morlock wiederum Fiktion bleiben wird. Eine Stimmung der umfassenden Vergeblichkeit und Vernichtung erzeugt Wells zusätzlich durch seine Schilderung einer öden leblosen Erde in ferner Zukunft, wobei auch diese mehr die allegorische Botschaft beinhaltet, dass es zum Schlimmsten kommen und diese Entwicklung vorausbedacht werden kann. Dass der Zeitreisende die Zeit beliebig durchqueren kann, hat etwas »Göttliches«, obwohl diese Fähigkeit abhängig von seiner Maschine ist. Auf die Eloi wirkt der Besucher aus der Vergangenheit wie ein Gott, sie berühren ihn wie eine magische Erscheinung und zeigen keinerlei Interesse an dem technischen Funktionieren seines Apparates. Damit bringt Wells das Thema der Konfrontation einer höheren mit einer niederen Kultur aus verschiedenen Kontexten in die SF ein, mitsamt der Frage, inwieweit Erstere eingreifen soll – ein Thema, das vielfach variiert wurde. Zugleich vergleicht der Reisende seine eigene Lage mit der eines sogenannten Wilden, der zum ersten Mal London besucht und keine Ahnung von der soziotechnischen Organisation der Gesellschaft hat. Obwohl er also Bürger des Empire ist, sieht er sich durch seinen Zeitsprung in einer relativen Ohnmachtssituation. Eigendünkel und Rassismus sind nicht angebracht. Was vermeintlich überlegen ist – wie die Eloi auf den ersten Blick, denen der Zeitreisende zuerst Vorstellungen von Kommunismus und einer »automatischen Zivilisation« zuschreibt –, kann sich als rückständig entpuppen.

Die apotheotische Richtung wird heute nicht mehr explizit ausgeführt. Am idealtypischsten ist sie wohl in manchen Büchern von Arthur C. Clarke verwirklicht. In dessen Werken hatte die von höherstehenden außerirdischen Wesen initiierte Selbstübersteigung des Menschen eine kosmische Dimension, es sei nur an den Film 2001 – Odyssee im Weltraum erinnert.17 Aktuell findet die Transzendierung vornehmlich im digitalen Virtuellen statt, begleitet wiederum von Katastrophenwarnungen.

In Star Trek-Folgen der Sechziger waren des Öfteren Gottes-Figuren anzutreffen, die ihre Macht allerdings missbrauchten. In der Folge Kampf um Organia aus dem Jahr 1967 findet sich ein schönes Beispiel für eine positive Apotheose: Die Föderation und die Klingonen geraten in einen Konflikt um einen Planeten, auf dem friedfertige Humanoide leben. Scheinbar unbeteiligt ertragen sie die brutale Unterdrückung durch die Klingonen und lassen sich auch nicht durch Terrordrohungen beeindrucken. Die Pointe ist, dass die Bewohner nur aus Gastfreundlichkeit diese körperliche Gestalt angenommen haben. Sie haben sich längst zu Wesen aus reiner Energie weiterentwickelt, die über der Materie stehen, welche sie beeinflussen können: So legen sie schließlich auf unbekannte Weise die Waffensysteme der verfeindeten Raumflotten lahm. Durch ihre Existenzweise führen sie den militärischen Konflikt in seiner Logik ad absurdum. Der imperialistische Kampf um Planeten, um materielle Raumgewinnung macht für sie keinen Sinn … In den Achtzigern tauchte der gottgleiche Charakter »Q« in Star Trek – The Next Generation auf, eine eher ironische Gottesgestalt, die allerlei Schabernack mit der Besatzung trieb und nicht mehr den pathetischen Ton der Vorgängerserie anstimmte. Was allerdings nicht heißt, dass sie keine ernsthaften Züge aufwies: Durch ihre übergeordnete Position strahlte sie die Faszination einer amoralischen Haltung aus, gab philosophische Lebenshilfe und ihrer Abscheu über die Ödnis des normalen reglementierten Daseins bei den Menschen Ausdruck.

Was Horstmann unter »anthropofugal« versteht, muss nicht in einer rhetorisch behaupteten »Menschenflucht« oder einer tatsächlich herbeigewünschten Vernichtung der Menschheit bestehen, sondern kann auch ihre Ablösung, ihre technisch bedingte Transzendierung bedeuten. Das Apotheotische wird ausgelagert zu den Maschinen, die selber eine Evolution durchlaufen und möglicherweise in einer technologischen Singularität sich bis zu einem Grad weiterentwickeln, der für Menschen erkenntnismäßig nicht mehr nachvollziehbar ist.18 Horstmanns Diktum, dass die anthropofugale SF nach den großen philosophischen Kränkungen durch Kopernikus, Darwin und Freud »diese Bewegung der kognitiven Dezentrierung« fortsetze und keine anthropozentrische Perspektive mehr einnehme, kann man auch in dem Sinne einer transhumanen Verwandlung und/oder einer Genese von Künstlicher Intelligenz verstehen.

Das Prometheische und das Apotheotische gehören dabei nach meinem Verständnis zusammen: Letzteres ist die höchste Form von Ersterem als Fortführung des bis zum Äußersten durchgespielten Evolutionsgedankens. Apotheose meint dann keine Vergöttlichung im wörtlichen Sinne, aber eine zunehmende Erlangung von Handlungsmacht über alle Ebenen der Existenz. Dass mit dieser Macht auch eine umfassende Zerstörungsgewalt einhergehen wird, verlangt eine entsprechende Reflexion. Die SF »dokumentiert« gewissermaßen die selbstbestimmte Transformation der Gattung, um nicht länger Spielball der vielfältigen Naturbedingungen zu sein. Natürlich kann man das Göttliche auch anders gewichten und traditionell religiös interpretieren. Religionen sind häufig Material für die SF gewesen, ob aus einer Haltung des Glaubens geschrieben oder nicht.19 Das Apotheotische schillert also in der SF zwischen Religionsnähe, dem kühlen Blick eines Gottes als Erkenntnismittel, frei von irdischem Kleinkram20, oder der Erlangung quasi-göttlicher Kompetenz in fernerer Zukunft. »Was gewönne der Mensch, wenn er Gott würde?«, fragt Michael Salewski. Es geht aber gar nicht um Allmacht, Allwissenheit oder Allexistenz, sondern um eine tendenzielle Annäherung an diese göttlichen Eigenschaften. Linus Hauser wiederum kritisiert den sorglosen Umgang mit Allmachtsfantasien in der SF:

»In der großen seelischen Not apokalyptischen Erlebens von Wirklichkeit wird ein absoluter Blickwinkel gesucht. Mit den Augen Gottes zu schauen, alles zu verstehen und einordnen zu können, soll die irdische, als katastrophal erlebte Wirklichkeit erträglich machen.«21

Stattdessen solle man sich der »Verlorenheit im naturwissenschaftlich entzauberten Kosmos« stellen. (Schlechte) Allmachtsfantasien in der SF sind jedoch die (unbewusste) Antwort gerade auf diese kosmische Ausgesetztheit, die sie imaginär zu bannen versuchen, genauso wie manche Vorstellungen der Religionen es diesen gleichtun. Hans Frey weist darauf hin, dass es philosophische Ideen bei Ernst Bloch oder Hans Jonas gäbe, in denen der Mensch oder das Universum sich zu einem Gottes-Stadium hin entwickeln.22 Daraus lässt sich die technisch bedingte Deisierung der Menschheit und/oder der Maschinen und/oder der Materie ableiten.

Das grundsätzliche Problem ist, dass die durch die moderne Astronomie erschlossene Wirklichkeitsauffassung so überwältigend ist, dass das Alltagsbewusstsein sie ausblendet, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Was nützt es in täglichen Bezügen zu wissen, dass die Erde nur ein »Staubkorn« – noch so eine Metapher! – im All ist? Nach den bisherigen naturwissenschaftlichen Modellen wird das Universum eines Tages vergehen, und die Menschheit leistet die Produktion von (Mikro-)Sinn an einem Abgrund von Sinnlosigkeit. In dem Kapitel »Wer mit Ungeheuern kämpft« aus dem Comic Watchmen sagt die Figur Rorschach:

»Die kalte, erstickende Finsternis währt ewig. Und wir sind allein. Leben unser Leben, weil nichts Besseres zu tun ist. Erfinden später Gründe dafür. Aus dem Nichts geboren; gebären Kinder, für die Hölle bestimmt wie wir selbst; gehen ein ins Nichts. Mehr ist da nicht. Unser Dasein ist zufällig. Ohne Muster, außer dem, was wir ihm verleihen, wenn wir es zu lange betrachten. Ohne Bedeutung, außer der, die wir ihm auferlegen.«23

Welche Schlussfolgerungen soll man daraus ziehen? Man kann den kosmischen Horror à la Lovecraft24 pflegen. Oder man kann Lügengeschichten als Trost und Ablenkung erfinden. In der Kurzgeschichte »Der Weg von Kreuz und Drachen« von George R. R. Martin hat eine Gruppe von Verschwörern eine abweichende Version der Bibel geschrieben, die Judas in den Mittelpunkt rückt und nicht Jesus. Diese Alternativfassung ist farbenprächtig und auf den besonderen Planeten abgestimmt. Die Arbeit beruht aber nicht auf einer glaubensimmanenten Entscheidung, sondern ist eine bewusste Lügenkonstruktion, um die bedrückenden großen kosmischen Wahrheiten zu verschleiern, sie angenehmer zu gestalten, die für viele so unerträglich sind, dass sie den »Schutzschild« des Glaubens brauchen.25

In mancher Hinsicht hat Martin eine ultimative SF-Geschichte geschrieben, die das Produktionsprinzip von SF selbst verdeutlicht – in dem Sinn, dass sie das Medium ist, um sich über solche Wahrheiten zu verständigen und keine bloßen Lügen abzuliefern. Aber das ist anstrengend und verlangt »dem menschlichen Intellekt das Äußerste« ab (Horstmann). SF ist also ein behelfsmäßiges Mittel zur kosmischen Kontingenzbewältigung und Komplexitätsreduktion. Sie dient der Neutralisierung des Horror vacui.

Man kann solche Sätze leicht dahinschreiben, aber von welcher »Machtposition« aus sind sie formuliert? Sind sie eine reine Selbstermächtigung der SF-Autoren, wie ein Statement von John W. Campbell nahelegt?26 Man kann sich dem großen Unbekannten auch hingeben, die Gefahren auf sich zukommen lassen.27

In Wells’ Kurzgeschichte »Stern der Vernichtung« sagt der Wissenschaftler, der die Bedrohung als Erster erkannt hat, zu dem herankommenden Stern: »Du kannst mich töten, aber ich habe dich und das ganze Universum trotzdem in meinem Gehirn.« Ist diese Anmaßung, dem erarbeiteten Wissen über einen gefährlichen Gegenstand eine eigenwertige Bedeutung zu geben, die diesen übersteigt, auch allgemein die angemessene Trotzreaktion auf die kosmische Existenz? Daneben ist auch die apotheotische Schreibweise begrenzt, darin den Religionen und ihrem Behauptungsdiskurs vergleichbar. Werden die Menschen und ihre künstlichen Nachkommen eines Tages weitgehende materielle Gestaltungsfreiheiten haben, so wie ein Autor in seinem Bewusstsein ein fiktives Universum »baut«? Diese Frage ist nicht zu beantworten vom heutigen Standpunkt auf einem Globus, auf dem die Menschheit noch lange nicht das Stadium des Herumexperimentierens und der Uneinigkeit, von dem Wells vor hundert Jahren schon sprach, hinter sich gelassen hat.

Wie soll man über die Wirklichkeit des realen Kosmos schreiben?28 Das geht wohl nur mit einem Mut der Verzweiflung, vielleicht auch nur mit einer gehörigen Portion Größenwahn. »Aller Verzweiflung zum Trotz aber«, schrieb Heinrich Schirmbeck in den Sechzigern, »bleibt der Mensch ›das hoffende Tier‹. Zu hoffen, das Grauen vor dem Nichts zu überwinden, indem er die gefürchtete Leere mit Plänen, Projekten, Utopien, Modellen der Selbsttranszendenz zustopft, ist eine notwendige Form menschlicher Existenz.«29 Ich habe keine bessere Lösung, wie man die Ebenen der Existenz vermitteln kann, und überlasse das letzte Wort dem Schriftsteller Arthur Koestler:

»Sowohl der Wissenschaftler wie der Künstler haben die Begabung – oder leiden unter dem Fluch –, die banalen Geschehnisse des alltäglichen Lebens sub speciae eternitatis, aus dem Gesichtswinkel der Ewigkeit wahrzunehmen: und andererseits das Absolute in menschlichen Begriffen auszudrücken, es in einem konkreten Bild widerzuspiegeln … Das Unendliche ist zu unmenschlich und zu schwer fassbar, wenn es sich nicht mit der tangiblen Welt des Endlichen verbindet … Indem sie die Kluft zwischen beiden Ebenen überbrücken, gestalten sie das kosmische Mysterium humaner, ziehen es in den Umkreis des Menschlichen, während seine alltäglichen Erfahrungen durch einen Glorienschein verklärt werden.«

 

Wolfgang Neuhaus beschäftigt sich im SCIENCE-FICTION JAHR seit vielen Jahren mit den theoretischen Aspekten von Fantastik und Science-Fiction.

 

Anmerkungen

1             Wolfgang Jeschke verweist auf die unterschiedlichen Erzähltraditionen der »novel« und der »romance« im angelsächsischen Raum. Die SF stehe in der Tradition Letzterer und erzähle »vom Schicksal der menschlichen Spezies, wie es sein könnte und wie es nicht sein sollte«. Siehe: Wolfgang Jeschke: Editorial, in: ders. (Hrsg.): DAS SCIENCE-FICTION JAHR 1991, S. 34, und ausführlicher noch in seinem Editorial in: ders. (Hrsg.): DAS SCIENCE-FICTION JAHR 1988, S. 15 f. ^

2             Aus: Thomas Pynchon: Spätzünder, Reinbek 1994, S. 11/12 ^

3             Natürlich findet man auch in Werken der allgemeinen Literatur »nebensächliche« Passagen, die größere Perspektiven für das menschliche Leben thematisieren. Hier ein Auszug aus dem Roman »Das Schwarzlicht-Terrarium« von Thor Kunkel (Reinbek 2000, S. 11): »Im Zeitraffer sieht er, wie alles passiert ist: der Planet vor fünf Milliarden Jahren, wüst aufgetürmte Gesteinsmassen, leere Ozeane, Blitze, Millionen Jahre Regen … Dann, eines Tages, kommt die Sonne durch … Die ersten Photonen- und Gamma-Teilchen versickern im Schlamm eines namenlosen Gestades … Schon köchelt die Ursuppe auf kleiner Flamme, auf submolekularer Ebene beginnen sich Riesenräder zu drehen, die Phosphor-Skelette fahren Achterbahn, und dann ist es nur noch ein kleiner Schritt von den Zellklumpen der präkambrischen Meere zu den Metastasen der Großstädte, den Waben aus Stahlbeton, die er kennt …« Kunkel hat allerdings auch SF-Romane geschrieben. ^

4             Siehe: Wolfgang Jeschke/Sascha Mamczak: Editorial, in: dies. (Hrsg.): DAS SCIENCE-FICTION JAHR 2004, München 2004, S. 13 ^

5             Siehe dazu auch: Karlheinz Steinmüller: Die Spinne in der Badewanne. Olaf Stapledons visionäre Geschichte der Zukunft, in: Wolfgang Jeschke/Sascha Mamczak/Sebastian Pirling (Hrsg.): DAS SCIENCE-FICTION JAHR 2011, München 2011 ^

6             Aus: Alan Lightman: Unser Platz im Universum. Lebendige Materie, ein winziges Etwas angesichts der Unendlichkeit, in: Lettre international, Nr. 104, 2014, S. 114 ^

7             Aus: James Gunn: Einführung, in: ders. (Hrsg.): Von Wells bis Stapledon. Wege zur SF, Bd. 4, München 1988, S. 14/15 ^

8             Siehe: Ulrich Horstmann: »Science-Fiction – Vom Eskapismus zur anthropofugalen Literatur«, in: Das Pult Nr. 37, 1975, S. 86. Siehe auch den Bezug auf Horstmanns SF-Verständnis bei: Frank Müller: Lobgesänge auf Walter Miller jr. »A Canticle for Leibowitz« und seine deutsche Rezeption, in: Wolfgang Jeschke (Hrsg.): DAS SCIENCE-FICTION JAHR 2001, München 2001, S. 612. Horstmanns extreme Position ist meines Erachtens ein übersteigerter Kulturpessimismus: Man führt die schlechteste Variante einer Entwicklung zu Bewusstsein, um – in einer Gegenreaktion – das Gute zu bewirken, sprich, einen kulturellen Aufklärungsprozess zu initiieren. Ernstgemeinte apokalyptische Stellungnahmen gibt es demgegenüber in radikalen Teilen der Öko-Bewegung, die das Gaia-Wesen Erde von Menschen größtenteils befreit sehen möchten. In der Friedensbewegung sorgte die Exterminismus-These von Edward P. Thompson in den Achtzigern für Aufsehen: die Idee, dass der Mensch unausweichlich seiner atomaren Selbstvernichtung entgegengehe. ^

9             Siehe: Ralf Reiter: H. G. Wells und »The Time Machine«, in: Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Das SF-Jahr 1997, München 1997, S. 448 ^

10          Siehe: Michael Salewski: Zeitgeist und Zeitmaschine. Science-Fiction und Geschichte, München 1986, S. 123 ^

11          Ebd., S. 124 ^

12          Stanisław Lem kommentiert dazu: »Wells schrieb in einer Welt, die zur Immobilität erstarrt war, die – und das ist das Entscheidende – überzeugt war, dass sie stabil sei, dass sie keinen Katastrophen oder Wandlungen unterliegen würde. Deshalb haben seine ersten, treffenden Werke die Horizonte geöffnet und die heraufziehenden Erschütterungen der Zivilisation vorausgesagt.« In: Nachwort zu »Krieg der Welten«, in: ders.: Sade und die Spieltheorie, Frankfurt/M. 1986, S. 160/161 ^

13          In: H. G. Wells: Die Zeitmaschine, Zürich 1974, S. 108 ^

14          Ebd., S. 72/3. Auf der vorletzten Seite der Kurzgeschichte »Stern der Vernichtung« findet Wells einen weiteren Dreh, der eine Relativierung irdischer Katastrophen im Bewusstsein der Leser erzeugt. Nachdem er seitenlang die dramatischen Zerstörungen durch einen die Erde passierenden Stern ausgebreitet hat, beschreibt er lapidar, zu welchen Einschätzung über diese Ereignisse die marsianischen Astronomen zeitgleich gekommen sind. Sie sind – von einem anderen Standpunkt im Sonnensystem aus – der Meinung, dass auf der Erde nicht allzu viele Beschädigungen stattgefunden haben. Aus: H. G. Wells: Stern der Vernichtung, in: ders.: Stern der Vernichtung, München 1977, S. 53 f. ^

15          »Wir übersehen häufig das Naturgesetz, dass geistige Beweglichkeit der Lohn für dauernde Veränderungen, Gefahren und Sorgen ist. Ein Lebewesen, das mit seiner Umgebung in völliger Harmonie lebt, ist ein vollkommener Mechanismus. Die Natur wendet sich erst an den Geist, wenn Gewohnheit und Instinkt nutzlos sind. Es gibt keine Intelligenz, wo es keine Veränderung und keine Notwendigkeit zur Veränderung gibt. Nur jene Lebewesen sind mit Intelligenz begabt, die einer ungeheuren Vielfalt von Bedürfnissen und Gefahren ausgeliefert sind.« (»Die Zeitmaschine«, S. 92/93) ^

16          Die Zeitmaschine ist auch als Metapher für den Erzählprozess selbst zu sehen, worauf schon Adam Roberts hinwies. Wenn es auf Seite 105 heißt: »Die Geschichte war so fantastisch und unglaublich, die Art des Erzählens dagegen so glaubhaft und nüchtern«, so ist das auch eine Meta-Reflexion über SF. Der Zeitreisende bietet seinen Zuhörern selbst verschiedene Möglichkeiten der Interpretation seiner Erzählung an. Roberts ergänzt die vielen Deutungen des Buches zudem um den psychoanalytischen Ansatz, indem er die Hauptfigur als eine Art »Neo-Ödipus« analysiert. Siehe: Das Rätsel der Sphinx, oder: Ist Herr Ödipus in den Garten hinausgegangen? Interpretationen klassischer Science-Fiction Folge 7: H. G. Wells, Die Zeitmaschine (1895), bei: Alien Contact online 2004. ^

17          Siehe meinen Beitrag »2001 und die Frage der Transzendenz«, in dem ich auf eine religiöse Interpretation des gleichnamigen Films von Alexander Seibold eingehe. In: Wolfgang Jeschke/Sascha Mamczak (Hrsg.): DAS SCIENCE-FICTION JAHR 2004, München 2004. ^

18          Siehe auch meinen Beitrag »Am Vorabend der Singularität. Notizen zur ›posthumanen‹ Science-Fiction«, in: Wolfgang Jeschke/Sascha Mamczak (Hrsg.): DAS SCIENCE-FICTION JAHR 2009, München 2009 ^

19          Siehe: Rosemarie Hundertmarck: Über das Risiko, Messiasgestalten in der SF zu schildern, in: Wolfgang Jeschke (Hrsg.): DAS SCIENCE-FICTION JAHR 1996, München 1996 ^

20          Siehe folgende Aussage des Philosophen Bertrand Russell: »Der freie Intellekt will die Dinge sehen, wie Gott sie sehen würde, frei vom Hier und Jetzt, von Hoffnungen und Ängsten, ohne den Plunder gewohnter Meinungen und traditioneller Vorurteile, ruhig, leidenschaftslos, nur von dem einen und alle anderen ausschließenden Wunsch nach Erkenntnis beseelt … die abstrakte und allgemeine Erkenntnis, die von den Zufällen der persönlichen Geschichte unberührt bleibt.« Greg Bear bemerkt, dass der »kühle Blick« ein typisches Mittel der SF seit Wells sei. Siehe sein mit Usch Kiausch geführtes Interview: Wir stehen am Anfang einer gewaltigen Revolution!, in: Wolfgang Jeschke/Sascha Mamczak (Hrsg.): DAS SCIENCE-FICTION JAHR 2009, S. 634 ^

21          Aus: Linus Hauser: Science-Fiction, Neomythos und Neue Religiosität, in: Wolfgang Jeschke (Hrsg.): DAS SCIENCE-FICTION JAHR 1994, München 1994, S. 521 ^

22          Siehe: Hans Frey: Philosophie und Science-Fiction, Berlin 2013, S. 305 ^

23          Aus: Alan Moore/Dave Gibbons: Watchmen, Nettetal-Kaldenkirchen 2008, S. 26. Ein weiteres Beispiel aus der Welt der SF-Comics, in dem die Figur des Wissenschaftlers Chal’Darouine – dessen Aussehen wiederum von Lovecraft inspiriert ist – nach der Bemerkung seiner Zuhörer, sie hätten »starke Nerven«, erklärt: »Ich sehe die Zuckungen der Materie … die Wirbel der Zeiten … Katastrophen ungeheuren Ausmaßes … und nur schwaches Leben, kleine weiße Körner, die versuchen, nicht unterzugehen in diesem schrecklichen schwarzen Mahlstrom.« (Aus: Pierre Christin/Jean-Claude Mézières: Das Gesetz der Steine, in: dies.: Valerian und Veronique. Gesamtausgabe Bd. 6, Hamburg 2013, S. 75) ^

24          »Alle meine Geschichten basieren im Wesentlichen auf dem Grundsatz, dass gewöhnliche menschliche Gesetze & Interessen im ungeheuren Gesamtkosmos weder Gültigkeit noch Bedeutung haben … Um zur Essenz des wahrhaftigen Kosmos (d. h. zum Kosmischen) vorzudringen, ob zeitlich, räumlich oder dimensional, muss man vergessen, dass solche Dinge wie organisches Leben, Gut & Böse, Liebe & Hass & alle hiesigen Eigenschaften einer unbedeutenden & vergänglichen Rasse namens Menschheit überhaupt existieren.« Zitiert nach: S. T. Joshi: Einleitung, in: H. P. Lovecraft: Das übernatürliche Grauen in der Literatur, Berlin 2014 (E-Book) ^

25          Aus: George R. R. Martin: Der Weg von Kreuz und Drachen, in: Hans Joachim Alpers/Werner Fuchs/Ronald M. Hahn (Hrsg.): 13 SF Stories, Stuttgart 1985, S. 413 ^

26          »Ich suche Geschichten, die eingängig sind und wirklich etwas im Leser in Gang setzen – und nicht nur ein paar Drüsensekrete … Aber man kann ihn um seine Lebensgewohnheiten bringen, ihn verändern für den Rest seiner Tage, wenn man eine seiner falschen kulturellen Orientierungen findet und zerbricht. Man wird ihn zu Tode erschrecken – für Wochen, nicht für Sekunden –, dadurch, dass er zur Erkenntnis kommt, dass die Barriere, die er für eine große Steinmauer hielt, lediglich bemaltes Zellophan war … Ich vermute, es wird niemals eine Literatur für ein Massenpublikum sein. Man kann Leute töten mit wirklich guten Geschichten von dieser Art – und ich mache keinen Spaß. Sie sind eine gute Übung für einen scharfen Verstand – und unsere Leser wären nicht die spekulativen, philosophischen Menschen, die sie sind, wenn sie nicht einen harten, unverwüstlichen Verstand besäßen –, aber unsere Stories sind ungeeignet für die Schwachen.« ^

27          Dazu ein streitbares Zitat von Franz Rottensteiner, das die SF in die Nähe der Religion und weg von der Wissenschaft rückt: »Zweifellos gibt es enge Berührungspunkte zwischen SF und Religion, denn beide neigen zu Aussagen über die letzten Dinge; beide interessiert, woher wir kommen und wohin wir gehen, und sie spekulieren über das, wovon die Wissenschaft kaum etwas weiß, nämlich Anfang und Ende der Welt. Apokalypse und Erlösung liegen eng beieinander, und SF von den letzten Tagen des Weltalls erzeugt ein quasi-religiöses ›ozeanisches‹ Gefühl von Größe und Erhabenheit der Welt.« Aus: Franz Rottensteiner: Religion und Science-Fiction, in: ders.: Im Labor der Visionen, Lüneburg 2013, S. 106 ^

28          Sind wir konfrontiert »mit einem absoluten Außen, das unter keinen Umständen absorbiert und integriert werden kann und über das sich keine erbauliche Geschichte mehr erzählen lässt«? Siehe: Armen Avanessian/Björn Quiring: Einführung, in: dies. (Hrsg.): Abyssus intellectualis. Spekulativer Horror, Berlin 2013, S. 12 ^

29          Aus: Heinrich Schirmbeck: Eros, Weltraum, Science-Fiction, in: ders.: Die Formel und die Sinnlichkeit. Bausteine zu einer Poetik im Atomzeitalter, München 1964, S. 142. Schirmbeck hat in diesem Aufsatz auch die Vision einer »Maschinenzivilisation«: »Die Kybernetik gäbe ihm [dem Menschen] so die unerhörte Chance, seine Menschenhaftigkeit, seine Freiheit als halbgöttliche Wesen, seine Herrschaft über Natur und Materie voll zu verwirklichen und zu seiner wahren Bestimmung heranzureifen.« (ebd., S. 138) ^

 

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.