25. März 2015 3 Likes

Prominente Parallelwelt-Pioniere

Terry Pratchetts und Stephen Baxters SF-Saga von der Langen Erde

Lesezeit: 6 min.

In Terry Pratchetts und Stephen Baxters (im Shop) Romanen um die titelgebende Lange Erde geht es darum, wie sich die Menschheit dadurch verändert, dass es plötzlich einen unendliche Abfolge von Parallelwelten gibt, die so gut wie jeder Einzelne dank eines simplen Wechsel-Apparats ganz einfach erreichen und besiedeln kann, indem er sich Schritt für Schritt und Welt für Welt durch den Korridor der Langen Erde bewegt – zunächst altmodisch wie die Pioniere des Wilden Westens per Track und zu Fuß oder hoch zu Ross, später per Luftschiff. Schritt für Schritt in ein neues Leben, wobei so gut wie jeder dieser Schritte mit einem Wechsler das Betreten einer neuen, wilden, unberührten Welt bedeutet, die einen Schritt weiter von Datum, der Original-Erde, entfernt ist …

Alles beginnt, wie so oft, mit einer Erfindung und einer Bauanleitung – mit einem kleinen Kasten um ein paar Drähte und eine Kartoffel: Einem Wechsler. Die Wechsler erschließen der Menschheit im ersten Roman die gleichnamige Lange Erde. Ein Schritt bzw. ein Wechsel, und man steht in einer menschenleeren Alternativwelt voll unberührter Natur, auf der bis auf die Abwesenheit von Menschen alles haargenau so ist, wie auf der altbekannten Erde, und mal völlig anders, jedoch stets unberührt von Menschenhand. Der berühmteste Pionier des Welten-Korridors ist der junge Joshua Valienté, eine Art Davy Crockett bzw. Daniel Boome der Langen Erde, der ohne technisches Hilfsgerät die Lange Erde durchschreiten kann und sich hier besser auskennt als alle anderen.

Deshalb heuert ihn Lobsang als Begleiter auf einer Expedition in die Tiefe – die Ferne – der Langen Erde an, was die beiden ungleichen Gefährten mehr als eine Millionen Erden weit führt. Lobsang ist eine künstliche, kalkulierende und manipulierende Intelligenz mit einer Vorliebe für tibetischen Mystizismus, hat immer ein Backup und kann mit seinem Gel-gelagerten Bewusstsein gleichzeitig mehrere Dinge und Einheiten steuern – etwa das Luftschiff Mark Twain, mit dem er und Joshua durch die Erden wechseln, sowie eine mobile Androiden-Einheit in der jeweiligen Welt, und eine Einheit auf der Datum-Erde (was beinahe Parallelen zum Konzept in Ann Leckies preisgekröntem „Die Maschinen“ (im Shop) aufweist und „Die Lange Erde“ mit einem solchen Lobsang-Querverweis sogar noch zum Maschinenmärz-Themenschwerpunkt passen lässt).

Lobsangs und Joshuas Erkundungsreise zu den Wundern, Gefahren und Phänomenen der Langen Erde – zu denen u. a. ein Erden-Vakuum im All gehört, da die betreffende Parallelerde bei einem gewaltigen Einschlag pulverisiert wurde, was völlig neue Möglichkeiten für die Raumfahrt bietet – erinnert ein wenig an die historische Lewis-und-Clark-Expedition zur Pazifikküste, wenngleich Lobsang und Joshua auf viele erstaunliche Lebewesen treffen, darunter auch andere Humanoide, die schon viel länger die Lange Erde bereisen und wegen ihres plötzlichen Auftauchens und Verschwindens auf der Datum-Erde zum Gegenstand von Mythen und Sagen wurden, darunter die starken, sanftmütigen, über Musik kommunizierenden Trolle und die kriegerischen, aggressiven Elfen …

Der zweite Band der Serie, „Der lange Krieg“, setzt zehn Jahre nach Lobsangs und Joshuas Expedition ein, als sich die Situation zwischen den Kolonien in der Langen Erde und der Regierung der Datum-Erde drastisch verschärft. Die Siedler in den neuen Gebieten wollen wieder einmal Unabhängigkeit und Autonomie, die amerikanische Regierung will Steuergelder als Ausgleich für die Bevölkerungsabwanderung auf der paranoid, ja geradezu dystopisch werdenden Datum, die empfindsamen Trolle werden wie Tiere behandelt und misshandelt, und alles schreit nach Eskalation und Krieg und unendlichen Problemen in der unendlichen Erde. Joshua ist wegen seines Heldenstatus einer derer, die das Schlimmste womöglich verhindern können.

Darüber hinaus erfährt der Leser – zumindest in kleinen Dosen – im zweiten Band der Saga erstmals mehr über z. B. die Chinas und Australiens in der Langen Erde. Dabei ist „Der lange Krieg“ ein wesentlich ausgewogenerer Band als „Die lange Erde“. Das liegt keineswegs am Spannungsbogen, der auch nicht viel besser ist als im ersten Teil, sondern an den interessanteren Plotlines und Perspektiven – und daran, dass es erfreulich viele Pratchett-Kapitel zu verzeichnen gibt, die nicht so trocken-beschreibend sind wie viele von Baxters Ausflügen auf die exotischen Welten. Und ganz nebenbei spüren Pratchett und Baxter angesichts von Künstlicher Intelligenz in High-Tech-Körpern und komplett anders entwickelten Humanoiden auf anderen Erden noch der Frage nach, wann der Mensch ein andersartiges Lebewesen als gleichwertig akzeptiert …

Die Idee zur Langen Erde hatte Terry Pratchett, als Anfang der 1980er-Jahre gerade seine ersten Scheibenwelt-Romane erschienen – erst 2012 wurde die Kurzgeschichte „The High Meggas“ in einer Sammlung veröffentlicht. 2010 sprachen Pratchett und Baxter bei einer Dinner-Party über die Idee, die Pterry vor so vielen Jahren zugunsten seiner famosen Scheibenwelt zu Seite gelegt hatte. Schließlich entwickelten der Maestro der anspruchsvollen Funny-Fantasy und der Meister der zeitgenössischen Hard-Science-Fiction über viele Telefongespräche und gemeinsame Arbeitssessions vor Ort ihre Buchserie, und so wurde Pratchetts Idee doch noch in Buchform – auf Deutsch als Paperback-Klappenbroschur, E-Book und Hörbuch – umgesetzt.

„Das Projekt funktionierte wegen unseres gemeinsamen Enthusiasmus für das Material, und weil Terry nach seiner Familie nichts mehr liebte als zu arbeiten“, schrieb Baxter am Tag von Pratchetts Tod in seinem Blog. „Ich werde immer dankbar dafür sein, dass wir die Chance hatten, diese Bücher Realität werden zu lassen. Und ich werde mich immer an seine letzten Worte am Telefon mir gegenüber erinnern: Steve – ich hab’s! Yggdrasil! Cheerio!

Keine Frage: Es ist seltsam, so kurz nach Sir Terry Pratchetts Tod, der nicht unerwartet kam und die Szene dennoch wie ein Schlag getroffen und ein riesiges Loch gerissen hat, mit „Der lange Krieg“ jetzt ausgerechnet ein Buch zu lesen, das Pratchett auf dem Einband stehen hat, aber kein 100%iger Pratchett ist. Baxter macht zwar in seiner Disziplin keinen schlechten Job, doch angesichts der Umstände … nun, ein neuer Scheibenwelt-Roman, den Pterry alleine geschrieben hat, wäre rein vom Zeitpunkt her vielleicht einfach passender. Heißt: möglicherweise sollte „Der lange Krieg“ bis zum Sommer auf dem Lesestapel liegen bleiben, und jetzt erst einmal ein Lieblings-Discworld-Roman aus dem Regal gezogen werden …

Davon abgesehen, vereint die britische Saga um die sehr amerikanische Lange Erde die wissenschaftliche Weltsicht von Stephen Baxter mit dem scharfen Blick für das Menschliche von Terry Pratchett, der früher selbst viel SF gelesen und zu Beginn seiner Karriere auch ein paar SF-Werke geschrieben hat („Die dunkle Seite der Sonne“, „Strata“). Tatsächlich bereitet es durchaus Vergnügen, beim Lesen der Bände darauf zu achten, wer welche Passage geschrieben und wer sich mit einem unverkennbaren Einschub bei seinem Kollegen eingebracht haben mag. Allerdings hat Pratchett schon einmal ein Roman zusammen mit einem anderen Autor verfasst, und der hieß zufälligerweise Neil Gaiman, und so ist ihr Gemeinschaftswerk „Ein gutes Omen“ die sicherlich etwas unpassende und ungerechte, aber eben doch vorhandene Messlatte für Terry Pratchett mit einem Co-Autor – und da kommen „Die lange Erde“ und „Der lange Krieg“ nicht heran, obwohl es zwischen Band eins und zwei eine überraschende Steigerung gibt, die sich nicht allein in der Seitenzahl niederschlägt.

Und natürlich punkten die ersten beiden Romane der Serie dadurch, dass Baxter und Pratchett das Thema Parallelwelten auf vielfältige Art betrachten und erforschen, was der Mensch aus einer unbegrenzten Anzahl an bis dato menschenleeren Welten machen würde, die jeder mit einem leicht zu bauenden Apparat erreichen kann (was letztlich darauf hinauslauft, dass dieselben alten Fehler wiederholt werden, was so unwahrscheinlich leider nicht ist). Witzigerweise übertragen also zwei Briten den amerikanischen Pioniergeist auf ein simples, aber gut durchdachtes und daher sehr ansprechendes und faszinierendes Parallelwelten-System voller Möglichkeiten. Schade, dass der Spannungsbogen oft hinter dem Konzept und den Ideen zurückstecken muss – und Sir Terry konnte eben nicht immer zur Stelle sein, um das mit sanftem Witz und viel Weisheit wettzumachen. Fans der beiden Genre-Größen sollten trotzdem nicht Nein sagen können, denn akkurater wurde ein Multiversum-Gedankenspiel selten durchexerziert, und der stärkere zweite Roman entschädigt für die zähen Stellen im Auftaktband.

Im Original ist in der eigentlich auf fünf Bände angelegten Serie unter dem Titel „The Long Mars“ bereits der dritte Roman erschienen, im Juni folgt als „The Long Utopia“ der vierte Band auf Englisch. Über den Status des Abschlussbands gibt es derzeit noch keine Infos.

Terry Pratchett & Stephen Baxter: Die Lange Erde • Manhattan, München 2013  • 400 Seiten • € 17,99

Terry Pratchett & Stephen Baxter: Der Lange Krieg • Manhattan, München 2015  • 496 Seiten • € 17,99

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