20. Juni 2016 1

Planet der denkenden Wolken

Wie Außerirdische unser „wahres“ soziales Netzwerk entdeckten

Lesezeit: 6 min.

Ja, gut, es stimmt: Wir landen regelmäßig bei euch auf der Erde und entführen Lebewesen, um sie in Raumschiffen genauer zu untersuchen. Irgendwo müssen wir das ja machen. Aber was wir dabei entdecken, ist so erstaunlich, dass es euch ebenfalls interessieren dürfte.

Zuallererst muss gesagt werden, dass es verdammt schwierig ist, euch überhaupt zu finden. Wir meinen damit nicht nur, dass euer Planet wirklich winzig ist und sich recht gemein hinterm Jupiter versteckt. Sondern dass wir nach der Landung so überwältigt waren von der riesigen Fülle an Mikroorganismen, dass sie uns den Blick aufs Wesentliche versperrte. Schon in der oberen Erdatmosphäre kommt ein Haufen waghalsiger Bakterien vor, und nach unten hin wird’s dann immer dichter. Unsere Analysegeräte waren völlig überfordert, noch bevor wir den Boden erreichten. Bakterien. Viren. Einzeller. Runde, eckige, stäbchenförmige, lanzettartige, die wie ein stacheliges Foltergerät aussehen, andere mit Ruder oder sogar Propeller. Wahnsinn! Überall wimmelt, blinkt, schwebt, diffundiert und stoffwechselt irgendetwas. Wir sind so etwas überhaupt nicht gewohnt, ehrlich! Bei uns ist alles schön steril und aufgeräumt, aber bei euch herrscht ja das totale Chaos.

Bald erkannten wir, dass es Gruppen von Mikroben gibt, die kooperieren und sich die Arbeit teilen. Das schien ihnen im Verlauf der Evolution einen Vorsprung gegenüber Einzelkämpfern gebracht zu haben. Erstaunlicherweise musste es laut unseren Daten schon sehr früh in der Geschichte eures Planeten zu solchen Symbiosen gekommen sein. Und nicht nur das: Ohne sie wäre das heutige Leben auf der Erde überhaupt nicht denkbar.

Als wir uns durch Myriaden winziger, mehrzelliger Lebewesen gearbeitet hatten, erkannten wir, dass sie alle denselben Ursprung hatten: Irgendwann vor Jahrmilliarden, in irgendeinem Tümpel, drang ein schnell schwimmendes Bakterium, das bereits zur Sauerstoffatmung übergegangen war, in eine andere Mikrobe ein, die noch anaerob (also ohne Sauerstoff) lebte. Vielleicht war sie von der anderen auch gefressen worden und hatte in ihrem Inneren überlebt. Jedenfalls wurde im Lauf der Zeit eine Lebensgemeinschaft zum beiderseitigen Nutzen daraus. Der eine besorgte Nahrung, der andere verlieh dem Wirt ein höheres Schwimmtempo und half ihm, Sauerstoff in Energie umzuwandeln. So entstand aus zwei Einzellern die erste Amöbe. Der einstige Eindringling war zu einem Mitochondrium (mit eigener DNS) geworden, das mit jeder Zellteilung an die nächste Generation vererbt wurde.

Alle sauerstoffatmenden Wesen, die wir auf der Erde vorfanden, sind Nachfahren solcher Symbionten. Wir entdeckten dieses Prinzip bei Insekten genauso wie bei Pflanzen: Ihre Milliarden von Zellen bestehen aus ehemaligen Bakterien. Man muss nur genau hinsehen und sie etwas vergrößern, dann ergibt sich statt eines kompakten Umrisses ein Wimmelbild aus Mikroben, die zusammenarbeiten. Und so vielfältig wie deren Kombinationen sind auch die daraus entstehenden Lebensformen. Wir waren ziemlich geplättet, als wir erkannten, zu welcher Irrsinnsmenge so ein simpler Mechanismus geführt hatte. Tja, und damit kommen wir zu euch.

Wir hätten euch ja beinahe übersehen. Denn wenn man die Sichtvergrößerung auf den Mikrobereich eingestellt hat, sieht man nur noch Bakteriencluster. Große, kleine, mal schärfer, mal verschwommen. Unzählige Wolken aus Bakterien ziehen über die Erdoberfläche und gehen, zu allem Überfluss, Symbiosen mit Nicht-Bakterien ein. Dabei verändern sie sich auch noch ständig; jede Sekunde scheiden welche aus dem Verbund und neue kommen hinzu. Außerdem paaren die Cluster sich miteinander, fressen sich, leben als Parasiten aufeinander oder bilden Wohngemeinschaften. Wer soll da noch den Blick aufs Ganze behalten? Wie soll man erkennen, wo der eine Mikrobenverbund aufhört und der andere beginnt? Ganz ehrlich: Auch unsere besten Wissenschaftler konnten einen „Körper“ weder räumlich noch zeitlich dingfest machen. Irgendwann gaben wir es auf. Und dann sagte einer plötzlich: „Hey, was ist das dort für ein riesiger Mikrobenhaufen?“ (Genauer gesagt übermittelte er das elektromagnetische Äquivalent von „XOPZ334 OIHW0382 difh?!§“, aber es hätte keinen Sinn, das jetzt näher zu erläutern.)

Tatsächlich: Eine gewaltige Wolke kam auf uns zu und blieb dann abrupt stehen, als hätte sie Angst vor uns. Das war uns bei all den Krabblern, Kriechern und Duftstäubern noch nicht passiert. Wir konnten sehen, wie das Wolkenwesen bei jeder Bewegung und jedem Atemzug einen Dunst von Mikroben ausstieß und heftig wieder einsaugte. Im nächsten Moment wollte es fliehen, aber da es aufgrund seiner schweren Mikrobenmasse nicht davonschwirren konnte, fingen wir es und brachten es in unser Raumschiff zur näheren Untersuchung. Das was also unser erster Mensch. Wir konnten feststellen, dass er zu komplexem Denken und Fühlen fähig war, aber wir glauben, er freute sich nicht so über das Kennenlernen wie wir.

Überhaupt das Denken: Es überraschte uns am meisten, dass dieses Wesen in seiner oberen Region eine extrem dichte Ansammlung von Zellen besitzt. Neuronen, die unablässig miteinander Signale austauschen und komplexe Information verarbeiten können. Eine denkende Mikrobenwolke, wer hätte das erwartet? Die Zellen gaukelten ihm offenbar eine Art Ich-Bewusstsein vor. Es dachte tatsächlich, nur aus einem festen Körper zu bestehen. Dabei setzte sich dieser nur aus etwa 50 Prozent „menschlicher Zellen“ zusammen, der Rest hingegen bestand (wir haben das abgezählt) aus 30 Billionen Bakterien, 1034 Spinnentieren (hauptsächlich Milben), 2.344 Amöben, 934 Wurmarten und 34.384 sonstigen Parasiten und Symbionten. Würden wir mit einer unserer Superwaffen all eure menschlichen Körperzellen auf Knopfdruck verdampfen (oh ja, das können wir – manchmal gruseln wir uns vor uns selbst), dann bliebe von euch immer noch ein geisterhaft schimmerndes Konstrukt aus Mikroorganismen übrig, in dem man eure Körperform erkennen könnte.

Und die bestehen ihrerseits wieder aus allen möglichen Arten fremder Bakterien. Ein fast unüberschaubares soziales Netzwerk, das sich nur zu einem Zweck zusammengefunden hat: um eine temporäre, wolkenartige Erscheinung namens „Mensch“ zu formen. Sie profitieren sogar davon, dass ihr euch einbildet, etwas anderes als ein mehr oder weniger loser Mikrobenverbund zu sein. So könnt ihr sie mit Nahrung versorgen, sie gegen Angriffe von außen schützen und so tun, als würdet ihr euch fortpflanzen (in Wahrheit springen dabei lediglich Informationsmuster von einer Wolke auf die andere über und lassen neue Mikrobencluster wachsen – sorry, aber so ist es nun mal).

Das seid ihr also: Wolken aus winzigen Viechern, die sich durch Zeit und Raum bewegen. Sie bilden euren „Körper“, eure Organe, eure Haut – und vor allem eure Darmfunktionen. Schon klar, ihr seid besonders stolz auf euer Gehirn. Aber glaubt uns: Auf keiner unserer interstellaren Reisen haben wir etwas so komplexes wie euren Darm gesehen. Wir finden es lustig und gleichzeitig aufschlussreich, dass es in euren Science-Fiction-Büchern und -Filmen zwar nur so von Außerirdischen wimmelt, aber praktisch nie einer von denen aufs Klo muss. Habt ihr das „Alien“ und den „Predator“ je urinieren sehen? E.T. hinterm Busch beobachtet oder die Daleks am Pissoir? Kommt euch das nicht selber etwas komisch vor? Der Grund ist natürlich, dass wir Nicht-Irdischen tatsächlich weder Stuhlgang noch Harndrang haben. In der Tat haben wir überhaupt keinen relevanten Stoffwechsel mehr, da wir Nahrung entweder synthetisch zerkleinern oder den organischen Körper sowieso schon längst durch künstliche Komponenten ersetzten (sonst hätten wir ja auch die extrem weite Strecke bis zu euch nicht zurücklegen können).

Ihr jedoch seid noch von eurem Metabolismus abhängig. Und ihr könnt ihn nur bewerkstelligen, weil die 1010 Bakterien eurer Mundhöhle perfekt mit den 102 im Magen und den 1012 im Darmsystem (jeweils pro Quadratzentimeter gerechnet!) zusammenarbeiten. Auf diesem Wege wird sogar Junk Food in verwertbare Stoffe aufgespalten und der Rest vermischt sich zu einer bräunlich-sämigen Pampe, die am Ende des Prozesses wieder ausgeschieden wird – und zu mindestens einem Drittel selbst aus Bakterien besteht (wodurch sich das Mikrobiom im Darm täglich erneuern kann). Auf so was muss man erst mal kommen!

Ihr schwebt also jeden Tag völlig ahnungslos durch eine unglaublich vielgestaltige Biosphäre, nehmt sie nicht mal recht wahr und glaubt dabei allen Ernstes, kein Teil von ihr zu sein. Euer Gehirn, das euch glauben macht, ein Individuum zu sein, hegt tiefe Abscheu gegen diese Einsicht und erzeugt ein Ekelgefühl gegenüber Bakterien und anderen Kleinorganismen. Dabei schleppt ihr sie mit jedem Schritt mit und verteilt euer Mikrobiom über die ganze Erde. Ihr schluckt sogar Antibiotika gegen „böse“ Bazillen und tötet dabei auch gleich die „guten“ mit. Ihr besteht aus dem wohl komplexesten mikrobiologischen Netzwerk des Universums und verseucht dieses, die Atemluft und eure Nahrung völlig unbekümmert mit Pestiziden, radioaktiver Strahlung, Schwermetallen und anderen Giften. Jetzt mal unter uns: Da gehört echt Mut dazu!

Wir bewundern euch sehr.
 

Uwe Neuhold ist Autor, bildender Künstler, Medien- und Museumsgestalter mit Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Themen. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.

Kommentare

Bild des Benutzers Hans Schilling

Ich hätte gerne eine Definition von "XOPZ334 OIHW0382 difh?!§ " wenn es möglich wäre.

Und wenn Sie schon dabei sind, bitte noch mehr von den "Denkenden Wolken"

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