23. Juli 2016 2 Likes

Kapitän Nemos exzentrischer Cousin

Pulp und Parodie: Die Comic-Abenteuer von Docteur Mystère

Lesezeit: 3 min.

Der französischen Schriftsteller Paul Charles Philippe Eric Deleutre (1856–1915) alias Paul d’Ivoi gilt als der erfolgreichste Epigone von Jules Verne. Mit seinen les Voyages excentriques machte Monsieur d’Ivoi der damals schwer angesagten Reihe les Voyages extraordinaires seines populären Landsmannes ganz offen und ordentlich Konkurrenz. Während Verne in seinen frühen Science-Fiction-Geschichten sehr auf wissenschaftliche Möglichkeiten, Hoffnungen und Details bedacht war, verlor d’Ivoi das reißerische Abenteuer nie aus den Augen. Einer der 21 Bände, die Paul d’Ivoi zwischen 1894 und 1914 veröffentlichte, erschien im Jahre 1900 unter dem Titel „Le docteur Mystère“ und führte Docteur Mystère in d’Ivois verknüpftes Universum ein, einen Abenteurer, Wissenschaftler und Entdecker, der eine Menge von Vernes Kapitän Nemo hatte. Zum Vergleich: Eigentlich ist Mystère ein indischer Prinz mit Namen Rama Rundjee, und siehe da, in „Die geheimnisvolle Insel“ hatte Verne fünfundzwanzig Jahre vorher viele Einzelheiten aus dem Leben Nemos enthüllt, u. a., dass es sich beim Kapitän der Nautilus um den indischen Prinzen Dakkar handelt. Begleitet wird Mystère von seinem jungen Gehilfen Cigale, der den extravaganten Gentleman-Abenteurer mit dem Doktortitel, dem Turban und dem Bart später sogar überflügeln sollte, was die Anzahl der ihm gewidmeten Bücher anbelangte.

Fast einhundert Jahre nach dem Debüt von Docteur Mystère tat der italienische Comic-Autor Alfredo Castelli dann etwas, an dem SF-Legende Philip José Farmer als Erfinder des Wold Newton Universums viel Freude gehabt hätte. Der 1947 geborene Castelli war 1994 nämlich in einem Antiquariat über „Le Docteur Mystère“ von Paul d’Ivoi gestolpert und enthüllte daraufhin in seiner eigenen langlebigen Panel-Serie „Martin Mystère“ (dt.: „Alan Dark“), dass der zeitgenössische Abenteurer und Detektiv Martin Mystère ein Nachfahre des Cigale sei, den Docteur Mystère wiederum zu einem späteren Zeitpunkt ihrer gemeinsamen Geschichte adoptiert habe. Wenig später tat sich Castelli mit Zeichner Luciu Filippucci zusammen, um bis dato unbekannte Abenteuer von Docteur Mystère und Cigale zu erzählen. Kürzlich ist im Erko Verlag ein deutschsprachiger Hardcover-Sammelband erschienen, der die drei Geschichten „Die Geheimnisse von Mailand“, „Der Krieg der Welten“ und „Die Schrecken des schwarzen Dschungels“ vereint.

Ob er nun mit seinem anachronistischen Elektrik-Hotel in Mailand einfährt und ein Monstrum im Untergrund der italienischen Stadt aufstöbert, wo eine Druckluftbahn entstehen soll; mithilfe einer riesigen Kanone und einer Flugkapsel ins All fliegt, die Aliens auf beiden Seiten des Mondes kennenlernt und Riesenrobotern gegenübertritt; oder im indischen Dschungel gegen die Thugs kämpft – auf diese Dinge kann man sich immer verlassen: Feldmarschall Radetzky und seine unheimlich intelligentes, zur Not schon mal fallschirmspringendes Ratten-Liebchen planen irgendetwas Sinisteres. Die schönen Damen in Nöten fallen nicht einfach bloß in Ohnmacht, sondern dem errötenden Cigale genau in die Arme, sodass der Bursche seine Finger zwangsläufig an sie legen muss. Der clevere Chinese Ch’ing Kway kommt überall zurecht eröffnet eher früher denn später einen ausbeuterischen Nähbetrieb. Und eine allzu romantische Wendung treibt dem guten, praktisch allwissenden Docteure stets die Tränen in die Augen …

Wen die übertriebenen, ironischen Steampunk-Abenteuer, die voller Referenzen stecken und die altehrwürdigen Science-Fiction-Werke von Jules Verne und H. G. Wells ebenso anzapfen wie die amerikanischen und europäischen Pulps, an Alan Moores und Kevin O’Neills „Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“ erinnern, liegt freilich nicht daneben. Castelli zufolge zeigt die zeitliche und konzeptionelle Parallelität zwischen ihm und Moore, dass dem Genre zugeneigte Autoren aus unserem Kulturkreis mit denselben Einflüssen jonglieren und diese dann zwangsläufig auf ähnliche Weise kanalisieren. Aber das geht literaturkritisch letztlich alles viel zu weit. Docteur Mystères pulpige, mächtig retrofuturistische Abenteuer wollen und sollen gar nicht so ernst genommen werden, und gerade deshalb machen sie unterm Strich relativ viel Spaß. Castellis und Filippuccis Verbeugung vor der SF- und Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts ist witzig, frech und unterhaltsam, wenn man von den paar Passagen absieht, in denen die Dialoge und Dialekte etwas zu anstrengend sind.

Wer Crossover-Stoffe dieser Art mag und für den Tanz auf der Grenze von liebevoller Hommage und dreister Parodie zu haben ist, kann an der Seite von Kapitän Nemos exzentrischem Cousin Docteur Mystères gefahrlos nach Mailand, zum Mond und in den Orient reisen. 

Alfredo Castelli & Lucio Filippucci: Docteur Mystère Gesamtausgabe  • Erko, Wuppertal 2016 ∙ 160 Seiten ∙ Hardcover: € 24,95

 

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