Blindsicht, Raumsinn, Infraschall
Warum wir über weitaus mehr Sinne verfügen, als wir annehmen
Wie viele Sinne hat der Mensch? Schon seit Aristoteles, also vor rund 2500 Jahren, wird diese Frage in der Regel mit „fünf“ beantwortet. Aber haben Sie tatsächlich schon mal genau nachgezählt und überprüft, über welche Wahrnehmungen Sie verfügen?
Bislang schien die Sache klar: Wer seine „fünf Sinne beisammen“ hat, der verfügt über 1) Sehen, 2) Hören, 3) Riechen, 4) Schmecken und 5) Tasten. (Satiriker sind übrigens der Ansicht, es handle sich eher um 1) Blödsinn, 2) Unsinn, 3) Kurzsinn, 4) Stumpfsinn und 5) Wahnsinn.) Jedenfalls klingt das nach nichts Besonderem, vor allem wenn wir es mit der mannigfaltigen Sinneswelt der Tiere vergleichen: Elefanten und Wale nehmen Infraschall wahr! Fledermäuse haben Ultraschall-Sonar! Zugvögel orientieren sich nach dem Erdmagnetfeld! Und mein Hund spürt immer genau, wann ich nach Hause komme! Nur fünf Sinne zu besitzen, ist da ungefähr so, als arbeite man im Smartphone-Zeitalter noch mit der Schreibmaschine.
Aber denken Sie mal genauer nach: Haben Sie noch nie Schmerzen gefühlt? Oder Hunger und Durst gespürt? Mit welchem Ihrer fünf Sinne nehmen Sie auch im Dunkeln wahr, wo oben und unten ist? Und welcher weckt Sie morgens immer wieder zur fast gleichen Zeit? Diese und weitere Beobachtungen sollten Ihnen zu denken geben: Wir haben einiges mehr auf dem Kasten, als wir glauben.
Beginnen wir mit dem Sehen: Unabhängig von der konventionellen Wahrnehmung elektromagnetischer Schwingungen im Bereich des sichtbaren Lichts (also Farben, Bewegungen etc.) können wir sogar dann noch „sehen“, wenn wir blind sind. Das liegt daran, dass sich unser Auge evolutionär aus dem Gehirn heraus entwickelte und somit neben den uns bekannten Sehzellen (Zäpfchen und Stäbchen) auch zahlreiche Neuronen aufweist. Die sind nicht nur auf das Wahrnehmen von Lichtunterschieden spezialisiert, sondern können diese auch – als „Minigehirn“ – analysieren und bewerten. Wir verfügen also über einen photonenflussbezogenen Sinn namens Lichtwahrnehmungssinn, auch „Blindsehen“ genannt.
Oder unser Tastsinn: Schon allein, dass er manchmal auch „Fühlsinn“ genannt wird, sollte uns stutzig machen. Denn für das „Tasten“ verwenden wir im Allgemeinen unsere Haut (so sind etwa unsere Fingerkuppen derart sensibel, dass sie Oberflächenunregelmäßigkeiten im Mikrometerbereich erkennen). Das „Fühlen“ jedoch assoziieren wir eher mit „Gefühlen“, also etwa der Einschätzung, ob es uns gut oder schlecht geht, etwas angenehm oder bedrohlich ist, und dergleichen. In der Tat verfügen wir aber neben dem Tastsinn über einen Fühlsinn, der sich aus Abermillionen mikroskopischer Rezeptoren (also winziger Sensoren) auf und in unserem Körper zusammensetzt. Mit diesen nehmen wir – im Unterschied zum Tastsinn – wahr, ob etwas kalt oder warm ist; wir besitzen also – getrennt voneinander – jeweils einen Kälte- und Wärmesinn. Innerhalb unseres Darms erkennen Rezeptoren sogar, ob eine Speise verdaulich ist oder ausgeschieden werden muss. Andere Sinne registrieren, dass unsere Zähne ein Problem haben, der Bauch „grimmt“ oder das Auge „brennt“, wenn man Zwiebeln schneidet. Dazu gehört auch ein Hunger-und-Durst-Sinn: Hier erkennen im Hypothalamus verortete Neuronen einen zu niedrigen oder zu hohen Blutzuckergehalt, was sie über elektrische Signale und ein Neurohormon wiederum Nachbararealen des Gehirns kommunizieren. Auch ein Sättigungssinn spielt mit hinein, indem körpereigene Sensoren beispielsweise den Dehnungszustand (und damit Füllungsgrad) des Magens registrieren. Die Kriterien eines klassischen, „aristotelischen“ Sinnes sind klar erfüllt: Sinneszellen als Blutzuckersensoren geben Meldungen ans Gehirn durch und steuern damit unser Verhalten. Beim Wahrnehmen von Durst wiederum wird der osmotische Wert (quasi der Wassergehalt) des Blutes von Nervenzellen etwa in der Niere gemessen und weitergemeldet, ein Wassersinn also. Ganz zu schweigen von Sinnen, die den Harngehalt im Blut oder Fettanteil von Nahrung im Darm wahrnehmen.
Auch im Geschmackssinn steckt mehr, als es den Anschein hat. Wir können nämlich nicht nur die fünf Geschmacksempfindungen süß, sauer, salzig, bitter und umami wahrnehmen, sondern schmecken auch Glutamate oder „geruchlose“ Eissorten (die Zitronensäure oder andere, nicht-flüchtige Fruchtsäuren enthalten). Physiologen sind demnach einem zweiten Geschmackssinn auf der Spur, den man zur Zeit noch „Trigeminussystem“ nennt (nach den Trigeminusnerven, die Mund- und Nasenhöhle mit dem Gehirn verbinden).
Sehr interessant ist auch, dass wir über einen Raumsinn bzw. Gravitationssinn verfügen. Wer das nicht glaubt, soll einfach mal nach einer Achterbahnfahrt versuchen, gerade zu stehen. Unmöglich, denn die rasante Veränderung unserer Körperachse hat obigen Sinn gehörig durcheinander gebracht. Er ermöglicht uns auch, jederzeit (solange wir gesund sind) sagen zu können, ob unsere Körperachse vertikal zum Erdmittelpunkt hin gerichtet ist oder eher eine horizontale Position eingenommen hat. Nur aufgrund dieses Sinns (der seinen Sitz im Inneren unseres Ohrs hat) können wir auch bei geschlossenen Augen exakt wahrnehmen, wo sich etwa unsere Hände befinden. Bis hin zu unserer Fähigkeit, uns in Sekundenbruchteilen zu „fangen“, wenn wir ins Stolpern geraten. Hier helfen uns Sensoren, die die Spannung der Sehnen messen, und solche, die die Winkelstellung der Gelenke registrieren.
Wir besitzen ferner einen Blutdrucksinn (über Sensoren, die sich an der Wand der Herzvorhöfe, im Aortenbogen und an einer Gabelung unserer Halsschlagadern befinden); einen CO2-Sinn, dessen Endorezeptoren ebenfalls an der Halsschlagader sitzen und den Kohlenstoffdioxid-Gehalt des Blutes messen; und einen Infraschallsinn, mit dem wir Schwingungen unter 20 Hz wahrnehmen können (was der Auslöser für einige „übersinnliche“ Erlebnisse sein dürfte). Und schließlich verfügen wir auch über einen Zeitsinn. Dieser wird von zwei Genen – Per und Cry – gesteuert, die sich morgens „einschalten“ und Moleküle aus dem Zellkern in den großen Zellraum (Zytoplasma) ausschleusen, wo sie zur Herstellung spezieller Proteine genutzt werden, die abends zurück in den Zellkern wandern und die beiden Gene abschalten – eine molekulare Uhr, die beinahe völlig unabhängig von äußeren Einflüssen funktioniert.
Warum sind diese und viele weitere Sinne des Menschen noch weitgehend unerforscht? Nicht weil sie auf irgendwelchen esoterischen Eigenschaften basieren („morphische Felder“, „Quantenvakuum-Nullpunkte“ und dergleichen), sondern weil ihnen schlicht und einfach labortechnisch kaum beizukommen ist. Denn jegliches Experiment mittels technischem Sensor und Reizauslöser muss erstens so beschaffen sein, dass es mit einer lebenden, wachen Person durchgeführt werden kann, ohne diese physisch zu verletzen. Und zweitens sind unsere Rezeptoren so verdammt winzig: Versuchen Sie mal, eine noch so kleine Mikrosonde auf genau eine (mikro- oder gar nanometergroßen) Sinneszelle in unserer Mundhöhle, hinter unserem Augapfel oder innerhalb des Dickdarms zu setzen. Im Übrigen liegt hier auch der Grund, warum immer noch zahlreiche „besondere Sinne“ im Tierreich zwar vermutet, aber noch nicht bewiesen sind: Es ist eben nicht so leicht, etwa den Fuß eines hellwachen Elefanten unter ein Mikroskop zu zwängen und ihn Infraschall-Erdstößen auszusetzen, nur um beweisen zu können, dass diese Dickhäuter mittels (wahrscheinlich) in der Fußsohle befindlicher, extrem feiner Vibrationsrezeptoren seismische Schwingungen des Erdbodens wahrnehmen und damit bevorstehende Erdbeben „fühlen“ können.
Angesichts dieser Schwierigkeiten ist es bewundernswert, wie viel Neurobiologen und Physiologen schon über unsere reichhaltige Sinneswelt herausgefunden haben. Und auch ohne allzu viel Phantasie können wir annehmen, dass mit der zunehmenden Miniaturisierung labortechnischer Geräte (einschließlich nanotechnischer Körpersonden oder gesteuerter Viren und Bakterien) in den nächsten Jahren weitere erstaunliche Erkenntnisse erlangt werden dürften. Wir werden uns damit schrittweise von unserer eingeschränkten Sichtweise, wonach wir nur über „fünf Sinne“ verfügen, verabschieden und den Menschen als das erkennen, was er ist: ein hochkomplexes Gemisch aus molekularen, elektrischen und mikromechanischen Messsystemen, die von früh bis spät nichts anderes tun, als jene diffizile Balance aufrecht zu erhalten, die uns weiterleben lässt. Und jetzt sagen Sie nochmal, Sie wären nichts Besonderes!
Uwe Neuhold ist Autor, bildender Künstler, Medien- und Museumsgestalter mit Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Themen. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.
Kommentare
Was gebe das für einen SF-Roman!! Die X-Men hätten da keine Chance mehr! Titel: "Die Besonderen" z.B. ein Besonderer der vermittels des hochgepushten Trigeminussystems jede Speise und jedes Getränk in seine Einzelteile zerlegen und analysieren kann. Der perfekte Restauranttester! Oder die Steigerung des Infraschallsinns, was sich da für Möglichkeiten ergeben würden. Recht herzlichen Dank für diese Kolumne.
Super Idee! Ich greif gleich mal die Infraschallidee auf: "INFRAMAN", der schon als Kind feststellte, dass er aus großer Distanz Herzschläge und Luftdruckveränderungenn spüren konnte (weshalb er die meiste Zeit speziell gedämpfte Schutzkleidung tragen muss), wird Mitglied der "Besonderen", nachdem er eine Gruppe Strandurlauber vor einem heranrollenden Tsunami rettete. Eines Tages ruft dann der US Geological Survey bei ihm an: er soll sich mal im Yellowstone Nationalpark "umhören", an welchen Stellen der darunter befindliche Supervulkan ausbrechen könnte. Dort entdeckt er jedoch einen Superverbrecher, der mit einer kleinen SF-Maschine gezielt Druckwellen in die Erde leitet, um... (to be continued) :-)